Vorbemerkung Kapitel V


Gegen den »geistigen Nährboden des Terrorismus«
In einer Regierungserklärung vom 20. April 1977 bezeichnete Bundeskanzler Helmut Schmidt die »Ausrottung des geistigen Sumpfes« als nächste Aufgabe der »Terrorismus«-Bekämpfung:
»Mit Gesetzgebung allein schaffen wir den Terrorismus nicht aus der Welt. Wir müssen ihm jeden geistigen Nährboden entziehen. [...] Die Intellektuellen in unserer Gesellschaft sollten den politisch Verantwortlichen im Prozeß der Aufklärung solcher junger Deutscher helfen, die noch ein unklares Urteil über Terroristen, über deren Motive und über deren scheinbare Rechtfertigung haben [...] Wo nach ruhigem Abwägen durch Politiker, durch Juristen, durch Fachleute der inneren Sicherheit die Instrumente nicht wirksam genug erscheinen, dort sollen sie verbessert und ergänzt werden.[...] Wir haben (die Aufgabe) den Terrorismus ohne Wenn und ohne Aber und ohne jede sentimentale Verklärung der Tätermotive zu verfolgen, bis er aufgehört haben wird, ein Problem zu sein.«
Bereits ein Jahr zuvor wurden die Zensurparagraphen § 88a und § 130a im Bundestag verabschiedet, die die Verbreitung und der Besitz von Schriften, die Gewalt befürworten, unter Strafe stellen. Sie bildeten die gesetzliche Grundlage für zahlreiche Durchsuchungen und Beschlagnahmungen in linken Buchläden und Druckereien.
Ein weiteres Beispiel für die »Ausrottung des geistigen Sumpfes« sind die Auseinandersetzungen um den »Buback-Nachruf«: Im April 1977 wurde in der Göttinger ASTA-Zeitung ein Artikel veröffentlicht, in dem ein »Mescalero« seine »klammheimliche Freude« über den Tod des Generalbundesanwaltes Buback beschrieb, andererseits aber den bewaffneten Kampf ablehnte. Als wenige Tage später die Räume des ASTA, der ASTA-Druckerei und mehrere Privatwohnungen in Göttingen durchsucht und die ASTA-Mitglieder ihrer Ämter enthoben wurden, folgte der Nachdruck des Artikels aus Solidarität nicht nur in zahlreichen Alternativ- und Uni-Zeitungen, sondern auch durch eine Gruppe von 48 ProfessorInnen und RechtsanwältInnen, die eine Dokumentation herausgaben, um die eigentliche Intention des Textes der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, da in den Medien nur sinnentstellende Auszüge zitiert wurden.
Gegen alle HerausgeberInnen der Nachdrucke wurden Strafverfahren eingeleitet. Insbesondere auf die HochschullehrerInnen wurde massiver Druck ausgeübt und ihnen mit Disziplinarverfahren gedroht. Von der Presse, vor allem von der FAZ und den Springer-Zeitungen, wurden als »Spießgesellen von Mördern, geistige Mittäter« etc. diffamiert, bis alle - außer dem Psychologieprofessor Peter Brückner - Distanzierungserklärungen abgegeben hatten.

Die Entführung von Schleyer und der Lufthansamaschine »Landshut«
Im April 77 endete der Prozeß gegen Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe und Andreas Baader in Stammheim, drei Monate später wurden die Besetzer der Stockholmer Botschaft in Düsseldorf zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt.
Im April und August 1977 traten die Gefangenen in den 4. bzw. 5. Hungerstreik und forderten ihre Zusammenlegung in interaktionsfähige Gruppen.
Angesichts der sich verschärfenden Haftbedingungen und der Erfolglosigkeit der Hungerstreiks entführt ein Kommando der Roten Armee Fraktion am 5. September 1977 den Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer und forderte einen Austausch Schleyers gegen elf Gefangene aus der RAF.
Die Bundesregierung setzte überparteiliche Krisenstäbe ein, an denen auch der BKA-Präsident Herold und Generalbundesanwalt Rebmann teilnahmen. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Filbinger, erklärte, die Situation werde als »nationaler Notstand« angesehen.
Der Große Krisenstab verhängte unter Anwendung der Notstandsgesetze für die Bundesrepublik eine Nachrichtensperre, leitete Fahndungs- und Kontrollmaßnahmen ein und verhängte am 6. September 1977 für alle politischen Gefangenen die Kontaktsperre. Damit waren die Gefangenen vollständig von der Außenwelt isoliert, kein Kontakt untereinander, zu Anwälten oder zur sonstigen Außenwelt möglich. Die Kontaktsperre wurde am 2. Oktober 1977 im Eilverfahren nachträglich durch das Parlament legalisiert.
Am 13. Oktober 1977 entführte das palästinensische Kommando »Martyr Halimeh« die Lufthansamaschine »Landshut«, in der sich Mallorca-Urlauber auf dem Rückflug in die Bundesrepublik befanden, um der Forderung nach Austausch der Gefangenen Nachdruck zu verleihen. Fünf Tage später wurde das Flugzeug in Mogadischu/Somalia von einer GSG 9-Einheit gestürmt, die Mitglieder des Kommandos erschossen und die Geiseln befreit.
Am gleichen Tag starben Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe und Andreas Baader im Hochsicherheitstrakt Stuttgart-Stammheim. Irmgard Möller - die vierte Gefangene aus der RAF im »7.Stock« des Stammheimer Hochsicherheitsgefängnisses - überlebte schwer verletzt. Sie erklärte später, daß sie - entgegen der staatlichen Behauptung - weder einen Selbstmordversuch unternommen habe, noch habe es eine Absprache unter den Gefangenen gegeben, bei Mißlingen der Befreiungsaktionen Selbstmord zu begehen. Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe und Andreas Baader seien ermordet worden.

Der »Deutsche Herbst«
PolitikerInnen aller Parteien reagierten mit drastischen »Vorschlägen« auf die Schleyer-Entführung. Die Forderung nach der Wiedereinführung der Todesstrafe wurde laut, man wollte »kurzen Prozeß mit den Terroristen machen« oder schlug vor, die »Terroristen« unter Kriegsrecht zu stellen.
Die öffentlichen Medien akzeptierten die Nachrichtensperre und Zensur widerspruchslos und übernahmen die rasch verbreiteten staatlichen Sprachregelungen, wie z.B. des »Selbstmordes der Terroristen«. Auch andere gesellschaftliche Gruppen wie Gewerkschaften, Kirchen und sonstige Verbände erklärten ihre bedingungslose Loyalität und Unterstützung für die Haltung der Bundesregierung.
Am 17. September 1977, zwei Wochen nach der Schleyer-Entführung, veröffentlichten 177 Hochschullehrer eine Anzeige, in der sie sich von jeder Form »klammheimlicher Freude« distanzierten und ihre Loyalität gegenüber dem Staat erklärten. Die Repressionen im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des »Buback-Nachrufs« zeigten ihre Wirkung.
Gleichzeitig wurden bundesweit Flugblätter, Erklärungen und Zeitungsartikel, in denen die nationalsozialistische Vergangenheit von Schleyer benannt wurde, beschlagnahmt und nach den Urhebern ermittelt. Schon im Laufe des Septembers 1977 wurden in der Bundesrepublik hunderte von Wohnungen angeblicher Sympathisanten durchsucht, unzählige »Sympathisanten« vorübergehend festgenommen und bundesweite Kontrollen durchgeführt. Bei der Beerdigung von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan Carl Raspe in Stuttgart kesselte ein starkes Polizeiaufgebot alle Teilnehmer ein, überprüfte und filmte sie. Der Stuttgarter CDU-Oberbürgermeister Rommel mußte sich gegen heftige Angriffe verteidigen, weil er die Beerdigung der »Terroristen« in Stuttgart zuließ.
Das Resultat des »Deutschen Herbstes« war eine weitgehend eingeschüchterte Linke und eine Bevölkerung, die infolge des Trommelfeuers von Presse und Politikern die Hetze gegen »Terroristen« akzeptierte oder zum Teil »mitfahndete«.

Der Haupttext des »Revolutionären Zorn Nr. 4«
wurde vor der Schleyer-Entführung, vor dem »Deutschen Herbst« geschrieben. Wie die RZ in einer Vorbemerkung erklären, haben sie ihn »absichtlich nicht mehr überarbeitet, da er - kaum 10 Wochen alt - eindringlich dokumentiert, daß wir in Zeiten leben, in denen die Schreckensnachrichten täglich, ja stündlich eintreffen.«
Sie fügten einen aktuellen Text bei, der die Trauer um den Tod der Gefangenen und das Erschrecken über die Morde in Stammheim widerspiegelt - und forderten die Linke auf, »die Wahrheit zu sehen« und die daraus folgende »Pflicht zum Widerstand« ernst zu nehmen.
Im »Revolutionären Zorn Nr. 4« analysieren die RZ die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, um über eine Lähmung und Ohnmacht in der Linken angesichts der massiven staatlichen Repression hinauszukommen:
Sie sehen das »Modell Deutschland« als präventive Maßnahme an, mit der der Widerstand gegen die geplante weltweite ökonomische Umstrukturierung verhindert werden solle.
Mittel bzw. Leitlinien zur Durchsetzung dieser Umstrukturierung seien:
»- die •sozialistische Internationale­ als ideologischer Kopf
- die ökonomische Erpressung durch den deutsch-amerikanischen Imperialismus als Integrationsinstrument
- das •Modell Deutschland­ als europäische Innenpolitik.«
Sie analysieren die Ziele und Entwicklungen einer weltweiten Umstrukturierung und Modernisierung im Interesse der multinationalen Konzerne, die Folgen für die Menschen in der 3.Welt und in den Metropolen, benennen die Organisationen der »Menschenfresser« und die ökonomischen und polizeilichen Mittel, die zur Durchsetzung dieser Umstrukturierung eingesetzt werden.
Der zweite Teil des »Revolutionären Zorns« bezieht sich auf die möglichen Träger des Widerstandes. Als hoffnungsvolle neue Kraft bezeichnen die RZ die regionalen europäischen Bewegungen, die gegen »die totalitäre Zentralisation des Imperialismus [...] die Zukunft eines Europas autonomer sozialistischer Völker, die in einem Verhältnis gegenseitiger Unterstützung und gleichwertiger Arbeitsteilung zueinander stehen, (entwerfen)«.
Ein Ausgangspunkt für regionalistische Bewegungen seit Mitte der 70er Jahre war der Widerstand gegen AKWs, der sich aufgrund der meist ländlichen Standorte auf regionale Strukturen und auch auf eine regionale Widerstandsgeschichte und -kultur bezog. So z.B. in Wyhl, wo es möglich war, eine grenzübergreifende Zusammenarbeit nach Frankreich und in die Schweiz herzustellen.
Zur gleichen Zeit kämpften Bretonen, Occitanier und Korsen gegen eine - vor allem wirtschaftliche - Benachteiligung durch den Zentralismus der französischen Regierung, ebenso wie die Katalanen, Basken und Galizier in Spanien. Die Hoffnungen, die die Linke in diese Bewegungen gesetzt hatten, erwiesen sich jedoch als trügerisch. Mehr und mehr setzten sich nationalistische Positionen durch, eine langfristige Verbindung oder gemeinsame Stoßrichtung der verschiedenen regionalistischen Bewegungen konnte nicht erreicht werden.
Gegen einen fortschreitenden »Totalitarismus« in der BRD setzten die Revolutionären Zellen die Organisierung der revolutionären Linken in militanten Gruppen: »(Dem legalen Widerstand) bleibt bei Strafe des Untergangs nur eines: die Praxis und Techniken des verdeckten, klandestinen Kampfes sich massenhaft, so schnell wie möglich anzueignen.« Ein wesentliches Moment dieses Widerstands müsse der Internationalismus sein, den viele Linke nach dem »Boom in den 60er Jahren« aus Enttäuschung über die Entwicklungen revolutionärer Bewegungen, sobald sie gesiegt hatten, ad acta gelegt hätten, um dann in »kämpfenden Kollektiven« die Vorstellungen und Grundlagen einer neuen Gesellschaft zu entwickeln.


Die Anmerkungen zu diesem Kapitel befinden sich im Buch auf Seite 711 ff.




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