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Wo das Böse zu Hause ist

Immer sichtbarer werden die sich mehrenden Alltagserscheinungen der grassierenden Überwachungs- und Sicherheitsmanie: Auf Straßen und Plätzen lauern Überwachungskameras. Von den technisch und gesetzlich gegebenen Möglichkeiten, Telekommunikation zu kontrollieren, wird immer häufiger Gebrauch gemacht. Polizei und private Sicherheitsdienste befinden sich seit Jahren in einem personellen und technischen Aufrüsten. Doch im Gegensatz zur in linken Kreisen oft anzutreffenden Vermutung, handelt es sich hierbei nicht um eine verschärfte Strategie staatlicher Repression, deren erstes Opfer immer die Linken selber sind. Diese selbstmitleidige Vorstellung beruht auf einer recht alten Gesellschaftsvorstellung in der alles Böse von oben und das Gute von unten kam. Zwar wurde im Laufe linker Welterklärungsversuche jene verkürzte Auffassung immer wieder erweitert, sie feiert jedoch häufig, u.a. in Form mancher linker Antirepressionskampagnen - so nötig solche im Einzelfall sein mögen - fröhlich ihre Auferstehung. Gerade die Entwicklung zur Überwachungsgesellschaft zeigt jedoch, daß sich Herrschaft und Macht quer durch die Gesellschaft reproduzieren und nicht nur ein Zuhause haben.

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I.
Im Allgemeinen ist es sehr nützlich zu wissen wo ein Übel herrührt. Die Menschen, die es stört, gehen dann hin und versuchen es aus der Welt zu schaffen. Auch Linke probieren nun bereits ganz schön lange nach diesem Schema zu handeln. Allerdings erschwerten sie sich nicht selten schon die Änderung der Zustände, weil sie sich mit einem sehr vereinfachenden schematischen Herrschaftsbegriff bewaffneten. Sicherlich hatte dieser in den finsteren Zeiten des Manchesterkapitalismus einige Relevanz. Mit der Wandlung gesellschaftlicher Verhältnisse verlor er aber immer mehr an Erklärungskraft.
Natürlich existierte vor hundertfünfzig Jahren ebenso Kapitalismus. Eine Arbeiterfamilie, eine die ganz unseren Vorstellungen jener Zeit entspricht, in die heutige Zeit gebeamt, wähnte sich jedoch im Paradies. Es kostete einige Mühe sie davon zu überzeugen, daß es sich hier nicht um die Realisierung linker Utopien, sondern um deren historisch weiterentwickelten Gegenpart handelt. Von wegen herrschaftsfreie Gesellschaft, würden wir sagen, worauf unsere imaginären GesprächspartnerInnen aus dem vorvorigen Jahrhundert erstaunt nach den heute spürbaren Unterdrückungsmechanismen fragen würden. Auf den ersten und auch noch auf den zweiten Blick wähnten sie sich dem harten Zwang des Kapitalverhältnisses entronnen. Vorbei ist es mit der 16-stündigen schweißtreibenden Arbeits-Tortur unter den Argusaugen der Aufseher des Kapitalisten für einen Hungerlohn, vielleicht mal für einen Vollrausch. Daß die Gefängnisse auch heute keine Hotels sind, für die freiwillig gebucht wird, würde unsere Arbeiterfamilie vielleicht nach einigem Überlegen einsehen, obwohl sie weiß, was ein Zuchthaus ihrer Zeit zu bieten hatte. Daß Bullen die bekloppten Büttel des Staates geblieben sind, ließe sich sicherlich auch heute noch vermitteln. Die größten Probleme machte es aber, glaubhaft zu versichern, daß in einer Gesellschaft, in der jede menschliche Handlung beobachtet, gespeichert und bewertet werden kann, die Kontrolle und der dadurch ausgeübte Zwang zwar weniger spürbar und gewalttätig, letztlich aber doch umfassender als der vor 150 Jahren ist. Wenn wir dann noch versuchten, zu erklären, daß das immer umfassendere Netz von Kontrollinstanzen nicht ausschließlich auf die Reaktion eines Staates zurückzuführen ist, der von den Besitzenden dazu angestachelt wird, die Armen und potentiell Rebellischen niederzuhalten, dann hielte uns die uralte Proletarierfamilie für völlig abgedreht.

II.
Verfolgt man diesen imaginären Zeitsprung zurück und landet Mitte des 19. Jahrhunderts in einer dreckigen rauchenden Fabrik, in einer Mietskaserne, in welche unzählige kinderreiche Familien eingepfercht sind oder auf einer Demonstration von Kommunisten, auf die nicht nur Polizeiknüppel niedersausen, sondern gerade Gewehre angelegt werden, so läßt sich nachvollziehen, daß mit der völlig anderen sinnlichen Erfahrung von Unterdrückung und Ausbeutung auch ein ganz anderes Gesellschaftsmodell die Politik der Linken prägen konnte.
Für einen sehr großen Teil von ihnen stellte sich die Welt recht schlicht dar. Alle politischen und kulturellen Institutionen und Bereiche, also wahlweise vom Parlament zur Oper, von der bürgerlichen Partei bis zum bürgerlichen Sportverein, waren ungebrochener Ausdruck der ökonomischen Besitzverhältnisse. Der Staat war dazu da, diese Verhältnisse gegenüber einem potentiell revolutionären Proletariat abzusichern, wozu ihm Polizei, Justiz und Militär dienten. Dieses strukturelle Schema, nach der eine ökonomische Basis unmittelbar einen gesellschaftlichen Überbau bestimmt, hatte für die damalige Zeit einiges an Erklärungskraft. Trotzdem vernachlässigte es in dieser Form einen ganz wichtigen Aspekt, nämlich daß die Herrschenden - damals und im Osten auch noch bis vor wenigen Jahren schlicht und einfach als Bourgeosie benannt - ihre Macht nicht ausschließlich mit staatlicher Gewalt absicherten. Vielmehr festigte gerade die kulturelle Sphäre die bestehenden Zustände, weil über sie die entsprechenden Ideologien, also die Vorstellungen, daß die Welt so wie sie ist, auch im Prinzip richtig, nützlich oder naturgegeben ist, klassenübergreifend an die entscheidende Masse der Menschen vermittelt wurden.
Einige linke DenkerInnen erkannten, daß diese so wichtige kulturelle Sphäre eine relative Autonomie gegenüber der ökonomischen Entwicklung besitzen kann. So können beispielsweise traditionelle religiöse Orientierungen, die schon sehr lange vor dem Kapitalismus ihr Unwesen trieben bis heute wirkungsmächtig sein. Es lassen sich noch eine Reihe anderer Belege für diese These finden. Gerade auch der Nationalsozialismus in Deutschland hat gezeigt, wie kulturelle und politische Spezifika die Ausprägung und Folgen von Herrschaft beeinflussen können. So konnte sich hier aufbauend auf eine besonders intensive Tradition des Antisemitismus eine eliminatorische Feindschaft gegen die Juden entwickeln, die den deutschen Nationalsozialismus von anderen faschistischen Bewegungen unterschied.
Ganz allgemein gilt aber die Erkenntnis, daß sich die Herrschaft im Kapitalismus nicht nur des Staates und seiner Instrumente bedient, sondern sich über vorgelagerten Bastionen durch die gesamte Gesellschaft zieht. Nicht alleine weil der Staat alle Widerständigen und solche, die es werden könnten, einsperrt, bleibt die Welt so wie sie ist, sondern weil die Mehrzahl der Menschen den Prinzipien des Bestehenden zustimmt und höchstens mal an der Oberfläche kratzt, ändert sich nichts Grundsätzliches.
Wie stark die Legitimation der unfreien und ungerechten Zustände gegenwärtig ist, zeigt sich daran, daß es heute weder sozialpolitischer Zugeständnisse (z.B. umfassende staatl. Kranken- und Arbeitslosenfürsorge) noch finanzieller Anreize (z.B. Lohnerhöhungen) bedarf, um sie abzusichern. Zwar sah es lange Zeit danach aus, als könnte über eine solche Zuckerbrot-Politik, die zusätzlich über den gesteigerten Massenkonsum für Ablenkung und neues Wirtschaftswachstum sorgt, die Ruhe im Kapitalismus am Besten gewahrt werden, aber obwohl sich seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus für viele Menschen auch in den westlichen Industrienationen die Lebensverhältnisse wieder verschlechtern, zweifeln diese noch weniger als früher am kapitalistischen System.

III.
Doch nicht nur die kulturell-ideologische und die repressive Absicherung hält die Maschine am Laufen, sondern Unterdrückungsverhältnisse werden quer durch alle Gesellschaftsschichten in Institutionen wie Familie, Schule, Universität, Fabrik, Gefängnis, Psychiatrie etc. reproduziert. Hier zwingt man die Menschen, Identitäten anzunehmen oder in soziale Rollen zu schlüpfen. In der Familie werden die Kinder zu Jungen und Mädchen gemacht, in der Ehe die Unterdrückung der Frauen zementiert, in der Uni, beim Militär und im Betrieb das Kuschen vor Autoritäten eingeübt, usw. usf. Zuwiderhandlungen und Ausbruchsversuche gegen den starren Normenkatalog werden innerhalb des eng geknüpften Institutionensystems schnell offenbar und mit disziplinierenden Maßnahmen bestraft. Dazu kommt es aber im "Normalfall" überhaupt nicht, denn entweder verinnerlichen die Menschen im Laufe ihrer Sozialisation die herrschenden Normen, so daß sie nicht mal auf die Idee kommen, dagegen zu rebellieren oder schon die Androhung von Sanktionsmöglichkeiten reicht dazu aus, daß sie sich in den gesellschaftlich akzeptierten Bahnen bewegen. Vor etwa dreißig Jahren sprachen linke Intellektuelle deshalb von "Disziplinargesellschaften", welche durch die Verfeinerung von Machtmechanismen und die Zunahme von Institutionen zur Einübung des alltäglichen Verhaltens gekennzeichnet sind. Von Macht und Herrschaft bestimmte Beziehungen beschränken sich demnach nicht nur auf das Verhältnis der Menschen zum Staat und machen sich nicht ausschließlich an Klassenunterschieden fest. Vielmehr durchzieht die Macht die Menschen selber, richtet sie in den verschiedenen Formationen gegeneinander, anstatt sich den Menschen gegenüber als eine Form (z.B. ein König) oder als zentrales System zu präsentieren.

IV.
Und als wäre damit das Netz, welches die Herrschaft knüpft, nicht schon verwirrend genug, als reichte es nicht aus, daß sich die Menschen durch Repression, Ideologie, Identitäten und soziale Rollen in die vorgegebenen Bahnen fügen, wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine weitere Variable zur Absicherung der bestehenden Verhältnisse entdeckt. Die späte Einsicht, ist nicht einfach nur auf die vorangegangene Kurzsichtigkeit der linken AnalytikerInnen zurückzuführen, sondern verband sich mit der aktuell viel größeren Wirksamkeit der neu entdeckten Herrschaftsmechanismen. Die Kontrolle, ob sich die einzelnen Menschen normengerecht verhalten, sollte jedenfalls nicht mehr nur von festen Institutionen ausgehen, denen sich die Menschen unausweichlich fügen mußten. Als noch effektiver erwies es sich, wenn die Menschen innerhalb eines breiteren Toleranzbereiches parierten, in welchem sie immer öfter, intensiver und freiwillig gegenseitig ihr Verhalten überprüften. Die gesellschaftliche Formierungsleistung über dezentrale Verhaltenskontrolle (dazu zählt u.a. auch Sozialarbeit) wurde in der Arbeitswelt der modernen Dienstleistungsgesellschaften am augenscheinlichsten manifest. Hier setzte sich mehr und mehr ein vielbejubeltes Teamwork durch. Hierarchien und externe Kontrollinstanzen blieben zwar weiter bestehen, aber der Gruppendruck und die auf der individuell angenommenen Konkurrenzsituation aufbauende umfassende Überwachung von allen durch alle wurden jetzt zu den wirkungsvollsten Mechanismen, welche die Menschen unauffälliger als früher gleichschaltete und zu produktiven Höchstleistungen zwang. Die gegenüber der "Disziplinargesellschaft" noch weitergehende Dezentralisierung der Macht wurde mit dem Begriff der "Kontrollgesellschaft" gefasst.

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V.
Angesichts dieser Transformationsprozesse von Herrschaft, ist klar warum heute eine Weltsicht, die den Staat und seine Büttel einer Linken oder irgendwie vorbestimmten revolutionären Subjekten gegenüberstellt, ins Leere geht. Natürlich ist es nachvollziehbar, warum in linken Kreisen lange Zeit ein sehr eng gefasstes Verständnis von Repression anzutreffen war, welches jede Razzia als Anzeichen eines neuen Polizeistaates stilisierte. Erstens wollte man an etwas erfolgreichere Zeiten linken Widerstandes anknüpfen, als die Repression des Staates wirklich der Angst vor gesellschaftlichen Umwälzungen entsprang und zweitens läßt sich ein simpel strukturiertes Weltbild viel einfacher an potentielle MitstreiterInnen vermitteln.
Das Schweinesystem ist leider etwas vielschichtiger und funktioniert letztendlich um einiges komplexer als noch die längste Demo-Parole. Trotzdem, der Staat und seine Bullen sind auch in der Gegenwart zentrale Machtinstanzen, die, wenn es notwendig wird, beispielsweise wenn die Verhältnisse zu kippen drohen, ihren Wirkungsbereich wieder enorm ausdehnen können. Bei der Suche der Linken nach der Heimstätte des Bösen hilft also weder ein monolithisches Verständnis von Herrschaft weiter, welches ein dichotomes Oben und Unten, zwei klar abgegrenzte Gruppen von Beherrschten und Beherrschern gegenüberstellt. Ebenso realitätsfern ist jedoch auch eine mühselige Suche nach immer feineren Mikromächten.

VI.
Klar ist, daß sich die derzeit beobachtbaren Phänomene des Überwachungs- und Sicherheitswahns nicht einfach nur auf eine staatliche Strategie zurückführen lassen. Die Repressionsapparate hätten noch ganz andere Mittel in Petto, sind aber gegenwärtig überhaupt nicht dazu angehalten, diese gegen konkrete gesellschaftlich relevante Oppositionsbewegungen anzuwenden. Und wenn der Staat die Muskeln schwellt, und immer wieder auch gegen politisch Andersdenkende vorgeht, so simuliert er doch damit eher Handlungsmacht, die er durch die ökonomische Deregulierung verloren weiß. Es ist eher eine Politik der vorbeugenden Einschüchterung und der Beruigung verängstigter Bevölkerungskreise. Die Methoden eines zentralen Überwachungsstaates sind nicht grundsätzlich ad acta gelegt und schon als Drohung mögen sie einige Wirkungen zeitigen. Zudem bleibt die allseits akzeptierte polizeiliche Logik und die technische Aufrüstung der Behörden ein enormes Problem. Ganz praktisch werden aber schon gegenwärtig die Allmachtsphantasien des Überwachungsstaates als Nebenerzeugnis einer Überwachungsgesellschaft verwirklicht. Private Unternehmen haben wahrscheinlich schon heute weitaus mehr persönliche Daten als die Festplatten staatlicher Institutionen gespeichert und die Kameras an Einkaufszentren und Privathäusern sind mit Sicherheit zahlreicher als die von Staats- und Verfassungsschützern. Doch nicht nur ein Nebeneinander, sondern auch ein Zusammenspiel zwischen privaten und staatlichen Interessen kennzeichnet die Überwachungsgesellschaft. So werden die Daten, die von der privatisierten Deutschen Bahn durch die Überwachung der Bahnhöfe gewonnen werden auch vom Bundesgrenzschutz und Sozialämtern in Anspruch genommen.
Hinzu kommt noch, daß eine Bevölkerungsmehrheit der wachsenden Überwachung nicht nur keine Skepsis entgegenbringt, diese vielmehr regelrecht begrüßt und fördert. Die Ideologie der Inneren Sicherheit, der Ruf nach mehr Ruhe und Ordnung zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten und trotzt beharrlich dem spürbaren Verschwinden privater Freiheiten.
In der Überwachungsgesellschaft treffen sich also ökonomische, institutionalisierte und ideologisierte Herrschaft. Die Wiederbelebung alter Disziplinartechniken, beispielsweise die Forderung nach Todesstrafe oder die Realisierung eines härteren Strafvollzugs gehen prima mit immer feineren Kontrollmechanismen zusammen. Aber auch wenn sich ökonomische Macht, Repressionslogik und deutsche Tugenden hervorragend ergänzen können, bilden sie doch keine feststehende Einheit. Die Macht, die sich mit der schon wirklichen und der potentiell möglichen Kontrolle jeder menschlichen Regung verbindet, hat nicht nur eine Adresse. Es gibt nicht nur einen Hauptschuldigen der sich für die gegenwärtige Entwicklung ausmachen läßt.
Und einen solchen braucht es auch überhaupt nicht, um mit politischem Widerstand beginnen zu können. Die lokalisierten Orte von Macht und Herrschaft bieten genügend Zielfläche, um dagegen anzugehen. Sei es der Widerstand gegen die Residenzpflicht von MigrantInnen oder eine Antirepressionskampagne, die den Staat nicht verklärt. Seien es Aktionen gegen Bürgerinitiativen für mehr Sicherheit und Ordnung oder gegen die Privatisierung öffentlicher Räume. Wenn sich die politische Praxis die gesellschaftlichen Verhältnisse bewußt macht, diese thematisiert und sich nicht nur gegen ein einzelnes Phänomen richtet, gibt es eigentlich keinen Grund, mit ihr zu warten.

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