AZADI infodienst nr. 88
april 2010


 

zur sache: tÜrkei

 

Freiheit, die sie meinen:
Verbote und Haftstrafen für kurdische Wörter und Lieder

Nach dem Anfang März erfolgten Angriff auf den kurdischen Fernsehsender ROJ TV in Belgien, wurde wenige Wochen später von einem Istanbuler Gericht das Erscheinen der einzigen kurdischsprachigen Tageszeitung der Türkei, Azadiya Welat (Freiheit für das Land) verboten. Ihr wird vorgeworfen, Abdullah Öcalan als „Führer des kurdischen Volkes“ bezeichnet zu haben. Nach Aussagen des Chefredakteurs Eser Uyansiz, sind mehrere dem Verbot zugrunde liegende kurdischsprachige Sätze falsch übersetzt worden. Im Februar erst war der bisherige Chefredakteur, Özcan Kilinc, zu 21 Jahren Haft verurteilt worden. Dessen Vorgänger wiederum, dem seit Januar 2009 in Untersuchungshaft sitzenden Vedat Kursun, droht eine Gesamtstrafe von 525 Jahren, u. a. wegen der Verwendung des Wortes „Kurdistan“ und „Guerilla“ sowie der Veröffentlichung von Traueranzeigen für gefallene PKK-Kämpfer. Das Urteil wird für den 6. Mai erwartet.
Ein kurdisches Lied brachte der bekannten Sängerin Rojda eine Haftstrafe von einem Jahr und acht Monaten. Sie hatte auf dem Kulturfestival 2009 in Diyarbakir das Lied „Heval Kamuran“ (Genosse Kamuran) gesungen und daraufhin beschuldigt, „Propaganda für eine terroristische Organisation“ gemacht zu haben. Sie wurde zudem dafür verantwortlich gemacht, dass während ihres Vortrags PKK-Fahnen im Publikum geschwenkt worden sind.

(Azadî/jw, 30.3.2010)

 

Staatsterrorismus:
Wieder kurdischer Jugendlicher getötet

Der 14-jährige Mehmet Nuri Tamcoban wurde Opfer staatlicher Gewalt. Auf ihn und drei Verwandte wurde aus der Hangedik-Jandarma-Basis in Caldiran das Feuer eröffnet. Nach Aussagen von Augenzeugen sei Mehmet verletzt liegen geblieben, woraufhin die Soldaten mit einer Schaufel auf den Jugendlichen eingeschlagen haben. An den Verletzungen sei er dann verstorben. Die anderen drei Personen erklärten, dass das Feuer ohne jegliche Vorwarnung eröffnet worden sei.

(Azadî/ANF/ISKU, 1.4.2010)

 

Kanzlerin Merkel bei Ministerpräsident Erdogan

Die Berichte über Merkels Reise Anfang April nach Ankara und den schrägen Tönen im Vorfeld des Besuchs (Erdogan forderte türkische Schulen in der BRD und Merkel spulte zum x-ten Mal die privilegierte Partnerschaft mit der Türkei ab), kommentierte ein FR-Leser so: „[…] Die Türkei will die EU zu ihren Bedingungen zur Aufnahme zwingen und benutzt die in der EU lebenden Türken als Brecheisen, um ihre Machtansprüche durchzusetzen. Dafür will sie die doppelte Staatsbürgerschaft für ihre Landsleute, dafür arbeiten türkische Imame und in Zukunft türkische Lehrer an türkischen Schulen, dann Universitäten und letztendlich noch türkische Kindergärtnerinnen an türkischen Kindergärten. Die deutschen Kompromisspolitiker wollen oder können nicht erkennen, dass es sich bei Erdogan um einen eiskalt kalkulierenden Machtpolitiker handelt.“

(Azadî/FR, 3./5.4.2010)

 

Günter Grass ruft Türkei zur Entschuldigung bei Armeniern auf

Der deutsche Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass hat die Türkei aufgerufen, sich für die Tötung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern im Ersten Weltkrieg in der Endphase des Osmanischen Reiches zu entschuldigen. Wie Deutschland trage auch die Türkei eine historische Last, äußerte er bei einem Besuch in Istanbul. Er wolle den Begriff Völkermord absichtlich nicht benutzen, weil das die Türkei selbst entscheiden müsse. Während in der internationalen Geschichtsforschung die Massaker als Völkermord bezeichnet werden, wird das von der Türkei strikt abgelehnt.

(Azadî/ND, 16.4.2010)

 

Vor den Augen der Polizei: Angriff auf Ahmet Türk

Am 12. April wurde dem mit Politikverbot belegten ehemaligen Vorsitzenden der inzwischen verbotenen prokurdischen DTP, Ahmet Türk, bei dem Angriff eines türkischen Nationalisten in Samsun vor den Augen der Polizei und vor laufender Kamera die Nase gebrochen. Er war dorthin gereist, um an der Prozesseröffnung im Zusammenhang mit dem Tod von zwei kurdischen Demonstranten teilzunehmen.
Protestdemonstrationen und –kundgebungen in zahlreichen Städten gegen den Anschlag waren geprägt von massiver Polizeigewalt. So hat die Polizei die BDP-Kreisorganisation in Denizli aufgefordert, ihre Kundgebung zu beenden statt die rund 400 Demonstrant(inn)en vor den Steinwürfen zu schützen, die von einer Gruppe Nationalisten ausgeführt wurden. In Hakkari ist ein zwölfjähriger Junge von einem Polizisten in den Kopf geschossen worden und der 13-jährige Sohn des ehemaligen DTP-Bürgermeisters, Hatip Kurt von Polizisten vor laufender Kamera zusammengeschlagen und schwer verletzt worden. Polizeikräfte schießen willkürlich mit scharfen Waffen und Gasgranaten in Häuser und verletzen dadurch die BewohnerInnen.

(Azadî/ISKU, 14.4.2010)

 

Krieg in Kurdistan weitet sich aus

In Nordkurdistan/Türkei, aber auch in den südkurdischen Gebieten (Nordirak), verschärft sich der Kriegszustand täglich: Militäroperationen mit Luftunterstützung, Tausenden Soldaten, Spezialeinheiten und Mobilisierung von Dorfschützern, Tote durch Artilleriebeschuss der türkischen Armee, etliche zerstörte Häuser, Verwüstung von landwirtschaftlichen Nutzflächen, Verletzungen von Menschen und Tieren. Große Mengen Waffen und Soldaten werden an die Grenze zum Irak verlegt. In dem Maße, in dem sich der Krieg in den verschiedenen Regionen Kurdistans ausweitet, nimmt auch der Terror gegen die Zivilbevölkerung zu. Es kommt zu Folterungen, Dorfrazzien, Entführungen und Morddrohungen. Nach aktueller Bilanz des Menschenrechtsvereins IHD sind in den ersten drei Monaten dieses Jahres 1549 Menschen festgenommen worden; hiervon befinden sich 503 derzeit noch in Untersuchungshaft.
HPG-Guerilla übernimmt Verantwortung für Vergeltungsaktion in Samsun
Für die andauernden Angriffe auf die Bevölkerung, die extralegalen Morde durch staatliche Kräfte sowie die mit Vernichtungsabsichten durchgeführten Militäroperationen, hat sich eine selbstständig agierende Guerilla-Einheit der „Volksverteidigungskräfte“ (HPG) zu einer Vergeltungsaktion am 12. April in Samsun, bei der zwei Polizisten ums Leben kamen, bekannt.

(Azadî/ANF/ISKU, 20.4.2010)

 

Offener Brief an Ministerpräsident Erdogan, Außenminister Westerwelle und Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger

„Mit großer Besorgnis mussten wir feststellen, dass in der Türkei immer noch gravierende Menschenrechtsverletzungen begangen werden,“ beginnt ein Offener Brief vom 18. April von Personen aus dem wissenschaftlichen, politischen, journalistischen und juristischen Bereich an Ministerpräsident Erdogan, Außenminister Westerwelle und Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger. In dem Schreiben werden einzelne Fälle von Menschenrechtsverletzungen und extralegalen Hinrichtungen aus jüngster Zeit dokumentiert und gefordert, diese abscheulichen gegen internationale und nationale Menschenrechtsregulierungen verstoßenden Verbrechen „an den jeweils entscheidenden Stellen zu thematisieren und im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten juristische Schritte und Sanktionen gegen die Verantwortlichen einzufordern oder einzuleiten.“
Um einer Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts und der Demokratisierung der Türkei näherzukommen, seien folgende Maßnahmen notwendig:
„Die sofortige Beendigung der Kriminalisierung von Vertreterinnen und Vertretern der kurdischen Bevölkerung, von Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtlern, von Journalistinnen und Journalisten sowie Aktivistinnen und Aktivisten – auch in Europa und Deutschland; die Freilassung von ca. 1500 inhaftierten Politikerinnen und Politiker; die Anerkennung sämtlicher kultureller Rechte der kurdischen Bevölkerung; eine positive Erwiderung auf die erklärten einseitigen Waffenstillstände; die Anerkennung des politischen Willens des mehrheitlichen Anteils der kurdischen Bevölkerung hinsichtlich der Einbeziehung von Abdullah Öcalan in einem möglichen Friedensprozess sowie langfristige Konzepte zur Integration der kurdischen Guerilla und sämtlicher politischer Gefangenen in die demokratischen Gesellschaftsabläufe.
Die UnterzeichnerInnen – u. a. Prof. Dr. Norman Paech – verbinden mit dem Offenen Brief die Hoffnung auf die „schrittweise“ Verwirklichung eines „anhaltenden Friedens in der Türkei“.

 

Internationalismus heißt gemeinsamer Widerstand:
Reader über AMED-Camp erschienen

98 Seiten Auswertungstexte der Camperinnen und Camper, die sich im September 2009 in AMED/Diyarbakir aufgehalten haben, Berichte und Hintergrundinformationen zur politischen Situation in Kurdistan, Texte von der kurdischen Frauen- und Jugendbewegung sowie die Abschlusserklärungen verschiedener Netzwerke des „Mesopotamischen Sozialforums/International Camps 2009“ ist jetzt erschienen.
Der Reader ist zu finden auf der webseite:
www.international-amed.camp.org; zu bestellen ist er unter: amed.camp@aktivix.org

Darüber hinaus ist für den 1. September ein bundesweiter Aktionstag geplant;
hierzu infos: http://tatort-kurdistan.blog.de

 

 

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