zur sache: tÜrkei
Erstes Sozialforum «Freiheit oder nichts – ein anderes Mezopotamien ist möglich» ein schöner Erfolg
Das erste Sozialforum im Mittleren Osten, das am 29. 9. in Diyarbakir zu Ende ging und an dem rund 10 000 Menschen teilnahmen, war trotz Repression ein großer Erfolg. „Im Großen und Ganzen ist es sehr gut gelaufen, zumal es mit einem internationalen Camp verbunden war. „Für mich war vor allem sehr beeindruckend, wieviel internationalen Austausch es auch unabhängig von den großen Podiumsdiskussionen gab. Teilnehmer aus so verschiedenen Ländern wie Jordanien, Palästina, dem Irak, Deutschland und Mexiko haben sich hier auch persönlich kennengelernt,“ erklärt Meral El, die dem Internationalen Koordinierungskomitee des MFS angehörte und nun für ein Jahr in Diyarbakir bleiben wird.
(Azadî/aus einem Interview mit Meral El in jw v. 1.10.2009)
Ressentiments gegen Ausländer und Andersgläubige
In der Türkei leben 99,8 Prozent Muslime und etwa 110 000 Christen; die jüdische Gemeinde zählt etwa 25 000 Menschen.
Laut einer Studie der jüdischen Gemeinde, die mit Unterstützung der EU erarbeitet wurde, gibt es in der Türkei erhebliche Ressentiments gegen Ausländer und Nichtmuslime. So will etwa jeder Fünfte keine Ausländer zum Nachbarn, 57 Prozent keine Atheisten und 42 Prozent keine Christen. 35 von 100 Befragten lehnen Juden als Nachbarn ab. Des weiteren akzeptiert eine Mehrheit auch keine Christen oder Juden bei Polizei oder Armee und will nicht, dass sie Aktivitäten in politischen Parteien entwickeln. Das Ergebnis dieser Studie nennt der türkische Vize-Premier Bülent Arinc der Tageszeitung Radikal zufolge „erschreckend“ und ruft die Türken zu mehr Respekt gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften auf. Diesen Appell müsste er auch an seine Regierung richten, denn: Nichtmuslimische Gemeinden sind in der Türkei nahezu rechtlos. Sie dürfen weder Immobilien besitzen noch Bankkonten führen. Die EU fordert seit Jahren Religionsfreiheit.
Viele Christen leben in der Türkei in Angst, seit 2006 in Trabzon ein katholischer Priester von einem Nationalisten erschossen wurde und im April 2007 drei christliche Missionare in Malatya von Rechten gefoltert und ermordet worden sind. Der Kampf von Christen um eine Kirche in Tarsus und die Wiedereröffnung eines vom Staat geschlossenen Priesterseminars auf der Insel Heybeliada blieb bislang erfolglos. Vermutlich wird das im EU-Fortschrittsbericht im Ende Oktober erscheinenden EU-Fortschrittsbericht wieder kritisiert werden.
(Azadî/FR, 4.10.2009)
PKK-Friedensgruppen sollen Regierungsinitiative unterstützen
Acht Kämpfer der PKK-Guerilla aus den Kandil-Bergen des Nordirak und 25 Flüchtlinge aus dem Lager Maxmur sind am 19. Oktober am irakisch-türkischen Grenzübergang bei Silopi angekommen. Sie sind die erste „Friedens- und Lösungsgruppe“, die auf Vorschlag von Abdullah Öcalan als „vertrauensbildende Maßnahme“ gebildet wurde, um die Initiative der türkischen Regierung für mehr demokratische Rechte der Kurden zu unterstützen. Eine zweite Gruppe aus Europa soll folgen. Am 20. Oktober trifft der Nationale Sicherheitsrat aus Vertretern des Militär und der Regierung zusammen, um weitere Schritte zur „Eindämmung“ des kurdischen Aufstands zu beraten.
Die erste Gruppe war massenhaft von der kurdischen Bevölkerung, aber auch von türkischen Sozialisten und Gewerkschaftern begrüßt worden. Die Staatsanwaltschaft hatte die Friedensdelegation ebenfalls empfangen, aber mit Zelten, in denen die Personen verhört werden sollen. „Unser Kommen verfolgt nicht den Zweck, von Artikel 221 [Reuegesetz] zu profitieren,“ wird in einem Brief an die Regierung und die Öffentlichkeit erklärt. „Wir haben uns aus freien Stücken auf den Weg gemacht, um das Blutvergießen zu stoppen, das Weinen der Mütter zu beenden und das Fundament für ein friedliches Zusammenleben zu stärken.“ Dafür sollen die Militäroperationen beendet und der kurdischen Bevölkerung das Recht auf die eigene Kultur und Sprache mit verfassungsmäßigen Garantien zugesprochen werden.
(Azadî/jw, 2010.2009)
Ministerpräsident Erdogan untersagt EU-Friedensgruppe eine Einreise in die Türkei
YEK-KOM ruft zur Unterstützung des Friedensprozesses auf
Alle Festgenommenen der ersten beiden Friedensgruppen sind wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Wie die Föderation kurdischer Vereine in Deutschland, YEK-KOM, in einer Pressemitteilung erklärte, sollte am 28. Oktober eine weitere Delegation aus Europa in die Türkei reisen. „Während das türkische Konsulat in Brüssel noch sämtliche Reisedokumente ausgestellt hatte, wurde der Friedensdelegation durch direkte Intervention des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan eine Einreise untersagt,“ heißt es in der Erklärung. Die Gruppe habe in Brüssel angekündigt, ihre Reise nur „bis auf weiteres“ verschieben zu wollen. Die Föderation kritisiert diese Haltung und verurteilt rassistische Angriffe auf DTP-Vertreter.
YEK-KOM ruft „die türkische Regierung und alle Parteien auf, den begonnenen Friedensprozess nicht zunichte zu machen, sondern ihn in friedlicher Absicht zu fördern.“ Sowohl die EU-Länder als auch die neue Bundesregierung werden aufgefordert, „ihren Einfluss im Sinne einer friedlichen Lösung […] geltend zu machen und die Bemühungen der Kurdinnen und Kurden zu unterstützen.“
(Azadî)
Türkisches Militär unter Sabotageverdacht
Wie türkische Zeitungen am 27. Oktober berichteten, ist der türkische Generalstab in eine Verschwörung gegen die Regierungspartei AKP verwickelt; nach Ermittlungen der Behörden seien diesbezügliche Akten des Militärs vernichtet und Festplatten gelöst worden. Der Generalstab hatte jede Beteiligung an Sabotageplänen bestritten. Inzwischen ist jedoch die Staatsanwaltschaft im Besitz eines anonymen Schreibens, in dem ein Offizier konkrete Angaben mache. Die Justizbehörden untersuchen außerdem, ob ein früher gefundenes Dokument aus Militärkreisen stammt, in dem geschildert wird, wie die AKP sowie die Bewegung um den Islamgelehrten Fetullah Gülen zersetzt werden sollen. Dem Papier zufolge wollten die Verschwörer Spannungen innerhalb der AKP provozieren. Geplant war auch, Waffen und Munition in Gebäuden zu verstecken, die von der Gülen-Bewegung genutzt werden. Das sollte dann Beleg sein für deren terroristische Aktivitäten.
(Azadî/ND, 28.10.2009)
Türkei will «Rat für Menschenrechte» gründen
Immer noch Folter und Misshandlungen in den Kurdengebieten
Laut Aussagen von Innenminister Besir Atalay plant die türkische Regierung, einen „Rat für Menschenrechte“ einzurichten. Dieser soll unabhängig arbeiten und Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen nachgehen, so Atalay gegenüber dem TV-Sender CNN Türk.
Die Initiative soll Teil der von Atalay koordinierten neuen Kurdenpolitik unter dem Motto „Demokratischen Öffnung“ sein. Insbesondere in den kurdischen Gebieten der Türkei ist die Anwendung von Folter und Misshandlungen immer noch Alltag; ebenso sind Polizeiübergriffe, Militäroperationen sowie Aktivitäten der paramilitärischen Gendarmerie bittere Realität. Nach Berichten des IHD sind im vergangenen Jahr 36 Menschen in türkischen Gefängnissen und auf Polizeistationen nach Gewaltanwendung gestorben. Menschenrechtsgruppen gehen von einer hohen Dunkelziffer aus, weil viele Opfer aus Angst oder Scham schweigen. Auch im Fortschrittsbericht der EU-Kommission zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurden immer noch „erhebliche Defizite“ bei den Grund- und Bürgerrechten festgestellt. Die „Reporter ohne Grenzen“ haben in ihrer Rangliste über den Zustand der Pressefreiheit in 175 Staaten für 2009 festgestellt, dass die Türkei gegenüber dem Vorjahr um 20 Plätze auf Rang 122 zurückgefallen ist.
Mindestens 15 Strafrechtsparagrafen schränken die Meinungs- und Pressefreiheit ein.
(Azadî/FR, 30.10.2009)