AZADI infodienst nr. 78
juni 2009


 

zur Sache: tÜrkei

 

Amnesty International veröffentlicht „Länderbericht Türkei“
Seit 2005 deutliche Verlangsamung der Reformbemühungen
Hintergrund vermutlich Kritik des Ex-Generalstabschefs an Gesetzesänderungen

Im Mai veröffentlichte Amnesty International ihren „Länderbericht Türkei“ und stellt in acht Kapiteln die im Jahre 2002 begonnenen Reformen im Zuge des EU-Beitrittsprozesses in den Bereichen Demokratie und Menschenrechte dar. Hierbei stellt die Menschenrechtsorganisation u. a. fest, dass seit Mitte 2005 „eine deutliche Verlangsamung der Reformbemühungen“ zu verzeichnen sei, „in einigen Bereichen“ habe es „sogar Rückschritte“ gegeben. AI vermutet, dass dieser Stillstand mit der im Sommer 2005 geäußerten Kritik des damaligen Generalstabschef zusammenhänge, der geäußert hatte, dass „die im Hinblick auf die EU vorgenommenen Gesetzesänderungen den Kampf gegen den Terror behindert“ hätten. Diese Kritik sei „mit kampagneartiger Intensität von der Presse aufgenommen“ worden und habe schließlich „zu einer Verschärfung des Antiterrorgesetzes im Juli 2006“ geführt.
Aus Platzgründen können wir in dieser infodienst-Ausgabe nicht ausführlicher auf den Bericht eingehen. Er kann unter asyl@amnesty.de angefordert werden.

(Azadî)

 

Internationale Liga für Menschenrechte fordert von EU und Deutschland: Kurdische Frage muss gelöst werden / Dialog ohne Stigmatisierung erforderlich

In einem Interview mit der prokurdischen Zeitung Yeni Özgür Politika fordert Rechtsanwalt Dr. Rolf Gössner, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, fordert die EU im Rahmen der Beitrittsverhandlungen dazu auf, sich mit der Türkei endlich aktiv für die Lösung der kurdischen Frage einzusetzen, wobei Deutschland wegen des hohen Anteils türkischer und kurdischer Bewohner-innen eine besondere Verantwortung zu übernehmen habe. Erforderlich sei ein offener und kritischer Dialog mit der kurdischen Seite „und zwar ohne Stigmatisierung, Kriminalisierung, Ausgrenzung und Berührungsängste, wie wir sie leider immer noch erleben“. Alle Beteiligten – „der türkische Staat, die türkische Zivilgesellschaft sowie die kurdische Seite und die PKK – müssten sich bewegen, „um einen ernsthaften Dialog in Gang zu setzen“. Die wichtigste Voraussetzung sei ein „Ende aller militärischen Operationen, ein Ende der Kriminalisierung von Kurden und ihren Organisationen sowie die Auflösung des Dorfschützersystems“.
Nach Auffassung Gössners sei die kurdische Frage sowie die Menschenrechtsfrage eine der „Schlüsselfragen eines EU-Beitritts der Türkei“. Die Internationale Liga sehe in einem tragfähigen „Amnestie-Angebot für die direkt und indirekt Beteiligten an den kriegerischen Auseinandersetzungen eine wesentliche Bedingung für eine Friedenslösung in der Türkei“. Außerdem müsste die „Wiedereingliederung für (ehemalige) Kämpfer-innen sowie Mitglieder der PKK“ ernsthaft angestrebt werden, ferner die „Entlassung und Rehabilitierung politischer Gefangener“ als auch die „Aufklärung aller extralegalen Akte des Verschwindenlassens und Tötens von Menschen in der Türkei“ auf der Lösungsagenda stehen.

(Azadî/Mitteilung der Internationalen Liga für Menschenrechte, 2.6.2009)

 

Vermutlich 650 000 Landminen an türkisch-syrischer Grenze
Türkei muss bis 2014 alle geräumt haben

Laut der Ottawa-Konvention über das Verbot von Antipersonenminen muss die Türkei bis 2014 sämtliche tödlichen Sprengsätze geräumt haben, wozu sich die Regierung durch Unterzeichnung des Abkommens 2003 verpflichtet hat. Allein an der 822 Kilometer langen türkisch-syrischen Grenze sind in den vergangenen 50 Jahren mehr als 10 000 Menschen durch Minen verletzt worden; 3 000 verloren ihr Leben. Rund 650 000 Landminen sind dort noch vergraben; es handelt sich um eines der größten Minenfelder der Welt. Wurden die Minenfelder in den 50er Jahren als Abschreckung von Schmugglern gelegt, galten sie seit Anfang der 1980er Jahre der PKK-Guerilla, die sich damals im Ausbildungslager in Syrien befanden. Sie sollten am Grenzübertritt gehindert werden. Experten sind überzeugt, dass eine vollständige Minenräumung mindestens fünf Jahre dauern würde. Doch haben die türkischen Streitkräfte festgestellt, dass sie weder die genaue Lage der Minen kennen noch über geeignetes Gerät zur Räumung verfügen. Die türkische Regierung erwägt nun, Privatunternehmen zu beauftragen, was nach Schätzungen etwa 400 Millionen bis 1,6 Milliarden US-Dollar kosten würde. Da dieser Betrag den staatlichen Haushalt sprengen würde, hat die Regierung dem Parlament den Vorschlag unterbreitet, dass eine Privatfirma die Minen auf eigene Kosten räumen solle und sie dafür bis zum Jahre 2058 ein Nutzungsrecht des betroffenen Landes erhalte. Das stieß auf erheblichen Widerstand, zumal, weil es sich bei dem Unternehmen um eine israelische Firma handelt, was zu außenpolitischen Verwicklungen mit Syrien führen werde. Der türkische Generalstab will nun den Auftrag der NATO-Agentur Namsa geben. Zweifelhaft, ob dadurch bis 2014 das Minenfeld geräumt werden kann.

(Azadî/FR, 8.6.2009)

 

Gipfel-Treffen

Im Außenministerium fand in der vergangenen Woche ein „PKK-Gipfel“ statt, an dem Meldungen zufolge der Außen-Staatssekretär Ertugrul Apakan, sein Mitarbeiter Ecvet Tezcan, der Direktor des türkischen Geheimdienstes MIT, Emre Taner, sowie Generalstabschef und Korpskommandeur Hayri Güner, teilnahmen.
Bei dem Treffen sollen u. a. die Beziehungen zur kurdischen Führung und der 3-gleisige Mechanismus gegen die PKK gelobt worden sein. Ein weiterer Besprechungspunkt soll auch der Besuch des Außenministers Ahmet Davutoglu in der dritten Juni-Woche in Bagdad, Süleymania und Kirkuk gewesen sein.

(Azadî/ANF/ISKU, 11.6.2009)

EU-Gerichtshof verurteilt Türkei zu besserem Schutz vor häuslicher Gewalt
Rechtsanwältin verurteilt prügelnden Ehemann zum Flugblattverteilen

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat am 9. Juni die Türkei verurteilt, wonach die Regierung einer Frau, deren ehemaliger Mann ihre Mutter erschossen hatte, 30 000 Euro Schmerzensgeld zahlen muss. Damit haben die Richter erstmals Gewalt gegen Frauen als Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot der Menschenrechtskonvention bewertet. „Es ist eine Grundsatzentscheidung, die nicht nur für die Türkei gilt,“ kommentierte Pinar Ilkkaracan, Gründerin der türkischen Organisation Frauen für Menschenrechte, die EU-Gerichtsentscheidung.
Laut einer Meldung der Zeitung Milliyet, hat Aslian Limon, Richterin aus der nordtürkischen Stadt Arac, einen Mann dazu verurteilt, 1000 Flugblätter mit folgendem Text zu verbreiten: „Ich entschuldige mich bei meiner Frau und allen Bewohnern von Arac dafür, dass ich meine Frau geschlagen habe.“

(Azadî/ND/FR, 11., 17.6.2009)

 

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