AZADI infodienst nr. 56
juli 2007


Vereins- und Wohnungsdurchsuchungen in Gießen und Marburg

Rechtsanwalt: Polizeieinsatz «äußerst mysteriös»

Am frühen Morgen des 26. Juli stürmten und durchsuchten Sondereinsatzkommandos des hessischen Landeskriminalamtes (LKA) in den Kreisen Gießen und Marburg die Privatwohnungen von vier Mitgliedern des Mezopotamischen Kulturvereins, darunter die des Vereinsvorsitzenden Ali Aktas. Sie wurden festgenommen, am selben Tag wieder freigelassen.
Die örtliche Presse schien verwundert. So schrieb der „Gießener Anzeiger“ in seiner Ausgabe vom 31. Juli, dass Polizei und Staatsanwaltschaft „für gewöhnlich“ nach Abschluss einer größeren Durchsuchungsaktion die Öffentlichkeit informiere. Das sei in diesem Fall ausgeblieben.

Angeordnet hatte diese Polizeiaktion das Amtsgericht Frankfurt/M. mit der Begründung, dass gegen die Beschuldigten der Verdacht bestünde, „dass sie die Tötung des Polizeibeamten Klaus B. planen und diesen hierfür an einen nicht näher bekannten Ort locken wollen“. Es handele sich „um eine Art Abstrafungsaktion aufgrund eines dienstlichen Handelns des Polizeibeamten in den 90er Jahren“. Zu vermuten sei, dass bei der Durchsuchung „Notizen über den Aufenthaltsort des Opfers, Lichtbilder, Skizzen bzgl. seines Wohnsitzes und sonstige Unterlagen“ aufgefunden werden könnten.

Das „dienstliche Handeln“, auf das sich das Gericht beruft, bezieht sich auf den 29. Juni 1994. An diesem Tag wurde der kurdische Jugendliche Halim Dener von zwei Zivilpolizisten beim Kleben von Plakaten der verbotenen ERNK überrascht und durch einen Schuss in den Rücken getötet. Der Polizist, der geschossen hatte, war im Juni 1997 vom Landgericht Hannover vom Verdacht der „fahrlässigen Tötung“ freigesprochen worden.

Während eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Frankfurt/M. den Polizeieinsatz bestätigte und rechtfertigte, sprach der Gießener Rechtsanwalt Bernhard Gerth, der die Kurden vertritt, von einem „relativ mysteriösen und undurchsichtigen Vorgang“. So würde bei einem derartigen Verdacht normalerweise „locker eine Untersuchungshaft von sechs Monaten“ angeordnet. Tatsächlich seien die Beschuldigten aber nicht einmal einem Haftrichter vorgeführt worden. „Staatsanwaltschaft und LKA haben selbst die Freilassung verfügt,“ wunderte er sich. Er vermutet, dass den Behörden lediglich der anonyme Hinweis einer „denunziatorischen Quelle“ vorliege. Die Beweislage sei „mehr als dürftig“.
Die Sprecherin der Frankfurter Staatsanwaltschaft, Doris Müller-Scheu, verstieg sich zu der Äußerung, dass aufgrund der Durchsuchungen „die Sache aufgedeckt“ worden sei, die Verdächtigen „gewarnt“ seien, so dass für den angeblich bedrohten Polizisten aktuell keine Gefahr mehr bestünde.
Bei der Razzia wurden Türen und Fenster zerstört, Frauen und Kinder von den Polizisten brutal behandelt und mit Schusswaffen bedroht. Das Vereinsmitglied Ekrem Esiyok berichtete, dass ihm, obgleich er bei seiner Festnahme keinen Widerstand geleistet habe, die Augen verbunden worden seien und man ihn im Schlafanzug zu einem Polizeifahrzeug gebracht habe. „Man wollte mich vor meinen Nachbarn als Terrorist vorführen. Ich lebe seit 29 Jahren in Deutschland und bin bereits 1996 eingebürgert worden. Diese Behandlung akzeptiere ich nicht,“ erklärte er. In einer Pressemitteilung wies der Vereinsvorsitzende Ali Aktas die Vorwürfe scharf zurück und warf den Strafverfolgungsbehörden „Staatsterrorismus“ vor. Dieser Angriff müsse als „Kampfansage gegen die kurdische demokratische Bewegung“ betrachtet werden, durch die das „demokratische, friedliche Zusammenleben der Kurden in Deutschland sabotiert“ und „nicht zuletzt die Kurdenfeindlichkeit geschürt“ werde.

Unterstützung erfuhren die kurdischen Aktivisten von der Gießener LINKSPARTEI. Deren Kreisvorsitzende Michaela Pukownick und der Stadtverordnete Tjark Sauer, erklärten während eines gemeinsamen Gespräches mit der Presse, die Umstände des Polizeiübergriffs ließen „eher auf eine politische Aktion als auf kriminalistische Arbeit“ schließen.

Ali Aktas erklärte, dass sich die Kurden trotz dieser Vorfälle weiterhin für „Dialog statt Frontbildung, für Freundschaft statt Feindschaft und für Demokratie statt Unterdrückung“ einsetzen werden.

(Azadî/Presseerklärung Mezopot.Kulturzentrum, 28.7./Gießener Allgemeine, 31.7./Frankfurter Rundschau, 1.8.2007)

 

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