AZADI infodienst nr. 101
mai 2011


 

Zur Sache: TÜrkei

 

Zensur: Türkei verbietet 138 Wörter für Internetadressen

Die türkische Telekom-Aufsichtsbehörde hat Internetprovidern eine Liste mit 138 Wörtern vorgelegt, deren Verwendung künftig nicht mehr gestattet wird, zum Beispiel „adult“, „fetish“, „hot“, „teen“ oder „escort“. Auch die türkischen Worte „ciplak“ (nackt) und „atesli“ (heiß) werden untersagt oder „gay“ (schwul) in englisch oder „gey“ in der türkischen Sprache. Indiziert ist ebenfalls „pic“ (als Abkürzung für Bild), weil das im Türkischen „Bastard“ bedeutet. Geschlossen werden soll auch der Computer-Onlineshop donanimalani.com. Warum? Die Adresse beinhaltet „animal“ (Tier) und dieses englische Wort steht auf dem Index. Sehr schön auch: „yasak“ (verboten) ist verboten und „free“ (frei) ebenso. Passt doch!
Obwohl die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) b ereits im letzten Jahr die Türkei wegen der Zensuren im Internet kritisiert hatte, wurden in den vergangenen Jahren mehr als 5000 Webseiten gesperrt, darunter YouTube.

(FR/Azadî, 2.5.2011)

 

Ehemalige Richterin: Türkei ein „Imperium der Angst“ mit „Gedankenpolizei“
Ahmet Sik und Nedim Sener seit März in Haft

Zum „Tag der Pressefreiheit“ am 3. Mai hat die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Zahl von 57 Journalisten registriert, die in der Türkei inhaftiert sind. Das 1950 in New York gegründete „International Press Institute“ kommt gar auf 68, womit IPI zufolge die Türkei das Land mit den meisten inhaftierten Journalisten weltweit sei. Auch „Reporter ohne Grenzen“ stellt fest, dass sich die Türkei hinsichtlich der Pressefreiheit unter 178 Staaten auf Rang 138 befinde.
Dass sich die Türkei zu einem autoritär geführten Staat entwickele, macht Gerd Höhler in seiner Analyse auch des Schicksals von Ahmet Sik und Nedim Sener deutlich. Die beiden Journalisten werden verdächtigt, dem nationalistischen Geheimbund ERGENEKON anzugehören, der einen Putsch gegen Ministerpräsident Erdogan geplant haben soll. Konkretisiert hat die Staatsanwaltschaft diesen Vorwurf nicht. Ausgerechnet Ahmet Sik aber hatte 2007, als Ermittlungen gegen ERGENEKON aufgenommen wurden, in der Zeitschrift „Nokta“ Details der Konspiration aufgedeckt. Und Nedim Sener, Mitarbeiter der Tageszeitung „Milliyet“, hatte 2007 Versäumnisse der Polizei im Zusammenhang mit der Ermordung des armenischen Publizisten Hrant Dink in einem Buch festgehalten und Anhaltspunkte genannt, die auf eine Beteiligung von ERGENEKON hinweisen. Bis zu seiner Festnahme hatte Ahmet Sik an einem Buch mit dem Titel „Imamin Ordusu“ (Die Armee des Islams) gearbeitet und beschrieben, welchen Einfluss die Bewegung des in den USA lebenden islamischen Predigers Fetullah Gülen auf den Polizei- Militär-und Sicherheitsapparat der Türkei nimmt.
Weil in diesem Buchprojekt offenbar zuviel Zündstoff steckt, ordnete die Staatsanwaltschaft die Beschlagnahme des Manuskripts an, das inzwischen aber mehr als 100000mal aus dem Internet heruntergeladen worden war. Kritiker werfen Erdogan eine „geheime Agenda“ vor, nach der der Staat, vor allem der Justiz- und Sicherheitskomplex, islamisch unterwandert werden soll. ERGENEKON-Ermittlungen würden als Vorwand benutzt, um seine Kritiker einzuschüchtern oder mundtot zu machen. 531 Personen sind wegen angeblicher Verbindungen zu dem Geheimbund angeklagt und mehr als 300 befinden sich in U-Haft.
Die frühere Richterin am Obersten Gerichtshof in Ankara, Emine Ülker Tarhan, die Anfang März ihr Amt niedergelegt hat, sagte anlässlich eines Vortrags in Deutschland, dass Erdogan versuche, die Türkei auf eine „radikalislamische Linie“ zu bringen. Das Land sei ein „Imperium der Angst“ mit einer „Gedankenpolizei“: „Der Polizeistaat steht nicht nur vor unserer Tür, er hämmert mit dem Rammbock dagegen“, so Tarhan.

(FR/Azadî, 3.5.2011)

 

Dramatische Zuspitzung der politischen Situation in kurdischer Region:
2506 Festnahmen in 55 Tagen und chemische Waffen gegen FreiheitskämpferInnen

Die Welle der Repression gegen Kurdinnen und Kurden, die mit den Newroz-Feiern im März begann, steigerte sich nach den erfolgreichen Protesten gegen den Ausschluss linker, prokurdischer KandidatInnen zu den Parlamentswahlen am 12. Juni. Seitdem ist es laut den Nachrichtenagenturen ANF und DIHA zu mehr als 2506 Festnahmen und hunderten Haftbefehlen gekommen. Alleine in den vergangenen fünf Tagen wurden 155 Menschen festgenommen und 53 Haftbefehle angeordnet. Tag und Nacht finden Razzien und Durchsuchungsoperationen statt.
Wie die Menschenrechtsorganisation IHD bilanzierte, sind zwischen dem 19. und 29. April 831 Personen – davon 198 Kinder und Jugendliche – festgenommen, zwei Demonstranten getötet und mindestens 308 Personen verletzt worden.
Nach Angaben der Guerilla setzte die türkische Armee bei Militärioperationen chemische Waffen ein, die nach „Pfefferminz rochen und zu starkem Brechreiz führten“. Sieben Freiheitskämpfer sind getötet und ihre Leichen von Soldaten geschändet worden. Ihnen wurden die Augen ausgestochen und die Ohren bzw. die Nase abgeschnitten. Wie ANF berichtete, lässt die Regierungspartei AKP Hunderte bewaffneter Anhänger in kurdische Hochburgen wie Gever/Yüksekova bringen.
Es wird eine dramatische Zuspitzung der politischen Situation in der kurdischen Region befürchtet, die in einen Krieg münden könnte. Nur internationaler Druck und Widerstand könnte die Verantwortlichen in der Türkei von diesem Kurs abbringen. Um diese Politik zu stoppen, muss in Europa protestiert werden – gegen Militärhilfe und sonstige Unterstützung des türkischen Staates.

(ANF/DIHA/ISKU/Azadî, 13.5.2011)

 

Massenproteste nach Tötung von Guerillas durch türkisches Militär

Zwischen dem 12. und 14. Mai sind bei einem Angriff der türkischen Armee 12 kurdische Guerillas in der Region Uludere getötet worden. Nach Bekanntwerden haben sich Hunderttausende an Protest- und Widerstandsaktionen beteiligt; ein Großteil der Geschäfte in zahlreichen Städten blieben geschlossen; Schülerinnen und Schüler boykottierten den Unterricht. Weil das Militär häufig die Leichen gefallener Guerillas schänden und verstümmeln, entschlossen sich mehrere tausend Menschen, ins Operationsgebiet vorzudringen, um die toten FreiheitskämpferInnen zu bergen. Das Militär und die Polizei reagierten überall auf die Aktionen der Bevölkerung mit Repression. So beschossen Soldaten ein Gymnasium, nachdem die SchülerInnen Parolen gerufen hatten. Mindestens 153 Personen wurden in den vergangenen 24 Stunden festgenommen.

(DIHA/ANF/ISKU/Azadî, 17.5.2011)

Staudammbauten in der Türkei:
UN-Ausschuss fordert Regierung zu neuer Gesetzgebung  mit Menschenrechtsansatz auf / NGOs verlangen volle Mitsprache der Betroffenen bei Projektplanungen

„Der UN-Ausschuss bestätigt damit, dass die türkische Regierung völkerrechtlich verpflichtet ist, seine gesamte Umsiedlungs- und Entschädigungspraxis zu ändern,“ erklärt Erxcan Ayboga, internationaler Sprecher der Initiative zur Rettung von Hasankeyf. Hierbei bezieht er sich auf das Abschlussdokument der Untersuchung des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, inwieweit die Türkei sowie vier weitere Staaten ihren Verpflichtungen aus dem UN-Sozialpakt beim Bau von Staudämmen nachkommen. Im Hinblick auf zahlreiche Menschenrechtsverletzungen zeigt sich der Ausschuss besorgt über den Bau des Ilisu-Staudamms sowie anderer Dammprojekte in der Türkei. Die Regierung wird aufgefordert, ihre Gesetzgebung bezüglich der Umsiedlung der vom Dammbau betroffenen Menschen vollständig zu überarbeiten und den Menschenrechtsaspekt zu berücksichtigen. Die Türkei plant für die nächsten zwölf Jahre den Bau von fast 2 000 weiteren Dämmen und Wasserkraftwerken; hiervon betroffen wären bis zu zwei Millionen Menschen. „Einen Menschenrechtsansatz zu verfolgen bedeutet, dass die Betroffenen volle Mitsprache bei der Projektplanung erhalten, dass ihre Rechte auf einen angemessenen Lebensstandard, Gesundheit und Zugang zu ihren Kulturgütern gewahrt werden,“ erklärt Heike Drillisch, Koordinatorin von GegenStrömung, der Ilisu-Kampagne in Deutschland. Nicht zuletzt bildete ein von GegenStrömung und Initiativen in der Türkei erstellter Bericht die Grundlage für die Rüge des UN-Ausschusses, dass diese Rechte von der türkischen Regierung bislang ignoriert werden.

Heike Drillisch, GegenStrömung:
heike.drillisch@gegenstroemung.org
Initiative zur Rettung von Hasankeyf: e.ayboga@gmx.net

(Erklärung von GegenStrömung/Initiative zur Rettung von Hasankeyf u.a./Azadî, 25.5.2011)

 

 

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