Vortrag von Martin Klingner (AK Distomo)
am 10. Juni 2022 in Distomo

Wie ist die rechtliche Situation im Fall Distomo? Über den Fall Distomo haben italienische Gerichte schon mehrfach entschieden. Der oberste Gerichtshof Italiens hatte schon im Jahr 2008 das griechische Distomo-Urteil des Landgerichts Levadia aus dem Jahr 1997 anerkannt. Der Kassationshof in Rom hatte bestätigt, dass aus diesem Urteil die Zwangsvollstreckung durch Pfändung deutscher Vermögenswerte in Italien möglich ist. Doch Deutschland zahlte nicht. Es rief stattdessen den Internationalen Gerichtshof in Den Haag an.

Das höchste Gericht der Vereinten Nationen hatte 2012 nach einem langen Rechtsstreit geurteilt, dass Deutschland sich auf den Rechtsgrundsatz der Staatenimmunität stützen dürfe. Dies bedeutet, dass Klagen von NS-Opfern vor Zivilgerichten wie im Fall Distomo unzulässig seien. Dennoch entschied das Italienische Verfassungsgericht 2014, dass die Entscheidung aus Den Haag für die italienischen Gerichte nicht bindend sei. Die Bürgerinnen und Bürger müssten im Fall von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit die Möglichkeit haben vor Gericht ihr Recht zu suchen. Dies wurde vom Kassationshof in Rom auch im Fall Distomo anerkannt, so dass die Zwangsvollstreckung fortgesetzt werden konnte.

Klägeranwalt Dr. Joachim Lau hat schon vor mehreren Jahren ein Konto der Deutsche Bahn AG in Italien gepfändet. Auf diesem Konto befinden sich ca. 50 Mio. Euro, genug um die Klägerinnen und Kläger aus Distomo vollen Umfangs zu entschädigen. Die Auszahlung des Geldes wurde durch Interventionen der deutschen Seite immer wieder verzögert. Nachdem diese Rechtsbehelfe ausgeschöpft sind, stünde jetzt eine Entscheidung des Vollstreckungsgerichts in Rom über die Auszahlung des Geldes an. Doch Italien hat ein Dekret erlassen, dass die Sachlage möglicherweise noch einmal ändert. Aufgrund dieses Dekrets wurde eine Entscheidung des Vollstreckungsgerichts in Rom bis Ende September 2022 vertagt.

Warum kam es zu diesem Dekret?

Deutschland hat zum zweiten Mal vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) am 29.4.22 in den Den Haag Klage gegen Rom eingereicht. Deutschland will verhindern, dass italienische Gerichte weiterhin über die Ansprüche von NS-Opfern entscheiden. Es geht vor allem um Prozesse italienischer NS-Zwangsarbeiter, die von Deutschland keine Entschädigung erhalten haben. Die deutsche Klage in Den Haag ist rechtsmissbräuchlich, denn der IGH hat keine Kompetenz um über die Ansprüche von Individuen zu entscheiden. Der IGH ist nur für zwischenstaatliche Konflikte zuständig. Das erneute Ansinnen Deutschlands stellt einen Angriff gegen die NS-Opfer, aber auch gegen die Unabhängigkeit der italienischen Justiz und das Prinzip der Gewaltenteilung dar.

Welche Auswirkungen dieser Prozess auf den Fall Distomo haben wird, ist noch nicht klar.

Die Überlebenden der Naziverbrechen bzw. deren Nachkommen in Italien klagen wie die Menschen aus Distomo seit vielen Jahren vor italienischen Gerichten, weil sie keine andere Möglichkeit haben zu ihrem Recht zu kommen. Trotz einer Vielzahl von Verurteilungen durch italienische Gerichte missachtet Deutschland diese Entscheidungen und verweigert jegliche Zahlungen.

Die italienischen Kläger sind nun dazu übergegangen deutsche Liegenschaften in Italien zwangsversteigern zu lassen. Deutschland wollte ursprünglich den IGH dazu bringen, durch vorläufige Maßnahmen die Zwangsversteigerung deutscher Liegenschaften zu stoppen. Es handelt sich um Liegenschaften in Rom, in denen sich die Deutsche Schule, das Goethe Institut, das Archäologische Institut und das Deutsche Historische Institut befinden.

Am 25. Mai 2022 sollte eigentlich ein Vollstreckungsgericht in Rom entscheiden, ob diese Liegenschaften zwangsversteigert werden. Doch die Entscheidung wurde vertagt.

Die italienische Regierung hat unter dem Eindruck der deutschen Klage in Den Haag am 1. Mai 2022 ein Dekret erlassen. Dieses soll Deutschland vor der Einleitung oder Fortführung neuer und laufender Verfahren (einschließlich Vollstreckungsverfahren) von NS-Opfern schützen. Die italienischen Gerichte dürften also nicht mehr darüber verhandeln, ob eigenen Staatsangehörigen Entschädigungsansprüche gegen Deutschland zustehen. Diejenigen, die einen Anspruch auf Entschädigung für den erlittenen Schaden haben, sollen über einen Entschädigungsfonds des italienischen Staates nach einem speziellen Verfahren entschädigt werden.

Offenbar hat die deutsche Regierung mit der italienischen einen schmutzigen Deal zu Lasten der Opfer durchgesetzt. Einige der italienischen Opfer sollen nun durch den italienischen Staat Entschädigungsleistungen erhalten. Deutschland soll auf diese Weise vor Entschädigungsforderungen geschützt werden. Wieviele italienische NS-Opfer Entschädigungsleistungen und in welchem Umfang erhalten, ist offen.

Dieses Dekret betrifft seinem Wortlaut nach nur italienische Staatsangehörige. Ob damit auch der Fall Distomo in Italien gestoppt wird, ist noch nicht entschieden. Die italienische Regierung behauptet, das Dekret betreffe auch den Fall Distomo. Wie das Vollstreckungsgericht in Rom sich entscheiden wird, ist offen.

Vermutlich wird auch dieses Dekret die Prozesse in Italien einschließlich den Fall Distomo letztlich nicht verhindern können, aber es ist zu befürchten, dass es sie so lange verzögern wird bis die letzten Überlebenden der NS Verbrechen tot sind. Dies ist das schäbige deutsche Kalkül: Die biologische Lösung der Entschädigungsfrage.

Mit der Klage in Den Haag beweist Deutschland einmal mehr, dass all die warmen Worte an Gedenktagen für die Opfer der NS-Verbrechen nur Heuchelei und schöner Schein sind. Wenn es darauf ankommt, verhält Deutschland sich wie ein Schurkenstaat und tritt die Rechte der NS-Opfer mit Füßen. Die meisten Opfer der NS-Verbrechen haben bis heute keine Entschädigung erhalten.

Seit dem Pariser Reparationsabkommen von 1946 ist die Bundesrepublik zur Zahlung von Entschädigungen in Höhe vieler hundert Milliarden Euro gegenüber den einzelnen von Nazi-Deutschland überfallenen Ländern verpflichtet. Gezahlt wurde so gut wie nichts. Es ist ein Zeichen fehlenden Verantwortungsbewusstseins und fehlender Moral, wenn 77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges mit aller juristischen und diplomatischen Wucht gegen Italien vorgegangen wird. Deuschland brüskiert damit die unabhängige Justiz Italiens und zugleich die Menschenrechte und die Menschenwürde der NS-Opfer.

Es fehlt nicht am Geld. Der deutsche Bundestag stellt aus Anlass des Ukrainekrieges ein ”Sondervermögen” von 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr zur Verfügung, damit neue Kriege geführt werden können. Das Geld ist also da - der Verwendungsweck ist falsch. Lasst uns gemeinsam dafür streiten, dass es nicht dabei bleibt. Den Menschen aus Distomo, die Opfer des Massakers vom 10. Juni 1944 wurden oder ihre Angehörige verloren haben, steht eine Entschädigung zu. Dies ist eine Frage der Gerechtigkeit.

Martin Klingner (AK-Distomo)

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