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Aufmarsch gegen das Kapital

KARAWANE UNTER FAHNEN Mit einem Rad-Konvoi ziehen
Globalisierungsgegner jetzt in die tschechische Hauptstadt

Demonstranten und Polizei rüsten zum FINANZGIPFEL von IWF und Weltbank in Prag. Gegen die Allmacht des Marktes protestiert eine bunte Truppe - von der Nonne bis zum Chaoten

Elftausend Polizisten warten auf sie. Und 1600 Soldaten, wenn es ganz schlimm kommen sollte. Am Dienstag, dem "Global Action Day", treffen beide Seiten aufeinander. In Prag. In verwinkelten Gassen, in der belebten Altstadt. Die Büttel des Kapitals gegen das letzte Aufgebot der Revolution.

GEGNER MIT GESCHICHTE Schon 1988 protestierten Linke wie Ludger Volmer (2. v. r.)
- heute Staatsminister - in Berlin gegen den IWF

Man kann das alles erzählen, als ginge es um einen Bürgerkrieg. Die Kinder haben schulfrei, alte Leute werden aufs Land geschickt. Behörden raten, Lebensmittel zu bunkern. Der Präsident warnt vor Hysterie.

In Hannover, 530 Kilometer entfernt, sammeln sich die Invasoren: Zack aus New York, Roman aus San Francisco, Andreas, der aussieht wie der junge Karl Marx, aus Saarbrücken. In der "Sturmglocke" gibt es Dal-Soup. Eine Linsen-Pampe, das Arme-Leute-Essen der Inder. Da fühlten sie sich den Verdammten dieser Erde schon sehr nahe. Von den Wänden verkünden Graffiti: "Jedes Herz ist eine revolutionäre Zelle." Etwa 50 Revolutionszellen brechen am nächsten Morgen vom Autonomen-Zentrum in der ehemaligen Sprengel-Fabrik mit dem Fahrrad nach Prag auf, um bei der Jahrestagung von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank dem Kapitalismus die Stirn zu bieten.

An der Moldau steht eine doppelte Vollversammlung bevor. Tausende Banker und Manager, Beamte und Minister in klimatisierten Konferenzräumen - auf der anderen Seite der Polizeisperren: all diejenigen, die der Macht des Geldes und des Marktes etwas entgegensetzen wollen. Vom evangelischen Gutmenschen bis zum gottlosen Steinewerfer. Vom klugen Neoliberalismus-Kritiker bis zum tumben Krawallmacher. Viele Tausende werden es sein. Nach manchen Schätzungen 30 000. Eine merkwürdige Allianz, die nur der gemeinsame Gegner eint. In den TV-Nachrichten am Dienstagabend werden sie wohl verschmelzen zu einer amorphen Masse. Dann wird, wenn alles läuft wie erwartet, eine erste Bilanz verlesen. Verletzte, Festnahmen, Sachschäden. Aber das ist höchstens die halbe Geschichte. Und es ist vor allem die Geschichte der Minderheit, die tatsächlich randaliert. Dabei sehen sich IWF und Weltbank einer weit größeren Opposition gegenüber. Denen, die nicht hinnehmen wollen, dass knapp die Hälfte der Menschen von zwei Dollar am Tag und weniger leben muss. Und denen, die daraus politisches Kapital schlagen wollen: einer verunsicherten Linken, der von Ronald Reagan bis zu Franz Josef Strauß die Feinde abhanden gekommen sind.

Die beiden Washingtoner Finanzorganisationen haben den Globalisierungsgegnern wieder Ziele gegeben. Orte, an denen man protestieren kann, und sogar Gesichter. Das von Horst Köhler etwa, dem deutschen Chef des IWF. Und das von James Wolfensohn, dem Präsidenten der Weltbank. "Von denen", sagt Zack, der Filmemacher aus New York, "geht die wahre Gewalt aus." Sie sind Gesamtschuldige und Generalverdächtige für das Unheil dieser Welt: Ob Umweltzerstörung oder Aids-Epidemie, Frauenunterdrückung oder Analphabetismus - alles hat irgendwie mit den rigiden Auflagen zu tun, mit deren Hilfe Drittweltländer ihre Kreditwürdigkeit zurückerlangen sollen. "Eine Mordmaschine", sagt Emma, die von Berlin aus die "Solidarität mit Kämpfen in anderen Ländern" organisiert. "30 000 Kinder sterben jeden Tag", zürnt Roman, der an der US-Eliteuni Berkeley politische Ökonomie studiert hat. "Gleichzeitig gibt es unendlich viel Reichtum."

"Kapital, Güter - alles kann sich frei bewegen.
Nur die Menschen werden an der Grenze abgeschossen"

- Roman, 32, aus San Francisco

Wen stört es da, wenn ein Stein in eine Scheibe fliegt? "McDonald's", schrieb die "taz", wisse schon, "für wann es den Glaser bestellen muss." Roman, mit 32 Jahren ein altgedienter Politprofi, regt das nicht auf. Kleinere Ausschreitungen gäben der Polizei kein Recht, die Proteste zu unterbinden. Denn: "Weil der Kohl ein korrupter Sack ist, wird ja auch nicht der ganze Bundestag zugemacht." Die friedfertigen Demonstranten können ruhig auf Stelzen balancieren, Kostüme tragen und mit Bällen jonglieren. Das bleibt Folklore. In Prag laufen bereits die "direkten Aktionstrainings", worunter nicht ausschließlich Kleinkunst zu verstehen ist. "Sabotage, Beschädigung oder Störung kapitalistischer Infrastruktur" gehören ebenso zum per Internet verbreiteten Programm wie die "Aneignung kapitalistischen Reichtums und Umverteilung an die arbeitende Bevölkerung".

"Klar ist, dass Linksradikale handfest in die Defensive geraten sind"
- Jost, 27, aus Berlin mit vermummten Freunden

Wie beim Kongress der Welthandelsorganisation in Seattle wollen die Aktivisten die Tagung in Prag sprengen: "Behindern, möglichst verhindern", gibt der Revoluzzer Jost in einem Kreuzberger Hinterhof als Parole aus. Randale soll die radikale Linke einigen, "die Ein-Punkt-Bewegungen zusammenbringen", wie es Jost nennt. Hinter seinen Flackeraugen lebt der Traum von der Revolution: Was ist schon der Protest gegen ein Kernkraftwerk oder eine Startbahn gegen den Generalangriff auf "das Gesamtsystem". In Prag wollen sie es der Welt zeigen. Denn zu Hause seien die Gegner des großen Geldes "in die Defensive geraten". Es geht den Massen einfach zu gut. Der junge Mann, der sich Mario nennt und "fundamental antikapitalistisch", rückt die schwarze Kapuze zurecht: "Wenn Arbeiter Aktien haben und super verdienen, macht das alles komplizierter." Vielleicht schwärmen deshalb alle hartgläubigen Linken von den Zapatisten in der mexikanischen Provinz Chiapas.

DIE SZENETREFFS sind plötzlich wieder voll. In Dortmund, gleich hinter dem Bahndamm, doziert Stefan über die Globalisierung und ihre Folgen. Auf Bierkästen und Omasofas hocken dicht gedrängt 30 Leute, die es zu agitieren gilt. Also erzählt der Psychologie-Student, wie "autonome Bäcker" den Oberkapitalisten Torten ins Gesicht klatschten. Und dass das "kapitalistische System" ebenso überwunden werden müsse wie der Nationalstaat: "Ohne Nationen keine Grenzen. Ohne Grenzen kein Krieg." Das ist die Volkshochschulvariante, der alle hier zustimmen können. Was die Nationen und das Kapital ersetzen soll, ist dagegen heftig umstritten.

Nachts, nach der Versammlung, saugt Stefan nervös an der Gauloise und zerwuselt seine rot gefärbten Haare: "Es gibt Gräben, die nicht mehr zuzuschütten sind." John aus Seattle, der schon bei den legendären WTO-Protesten im vergangenen Herbst dabei war, beobachtet "großen Streit zwischen den Organisationen". Zu viele versuchen, die neue Bewegung für ihre Interessen einzuspannen. Zu viele sind plötzlich unter einem Dach gelandet. Radikale FeministInnen und islamische Asylgruppen sind eben nicht zwangsläufig einer Meinung. Vieles wirkt unfreiwillig komisch. Jobst, ein Gorleben-Aktivist der ersten Stunde, muss selbst darüber lächeln, wie er seine neue politische Heimat gefunden hat: als letzter Überlebender des Zusammenschlusses "Widerstand weltweit. Arbeitsgruppe Wendland". 1997 berichtete der leicht ergraute 46-Jährige mit dem Sozialarbeiter-Charme bei einem Treffen mexikanischer Rebellen in Spanien über die deutschen Castor-Transporte. Da wurde ihm klar, dass die Atomkraft "nur ein Symptom dafür ist, was alles schief läuft". Der Sozialismus, na klar, müsse "noch mal überdacht werden". Aber so, wie es jetzt läuft, könne es nicht weitergehen.

Die Vorwürfe sind immer dieselben: Verschuldete Länder werden vom IWF gezwungen, den Export anzukurbeln und die Staatsausgaben zusammenzustreichen - dann fehlt das Geld für Schulen und Ärzte, oft sogar für Brot und Reis. In Mosambik, so rechnen die IWF-Gegner vor, könne schon mit der Hälfte der Zahlungen für Zins und Tilgung das Leben von 115000 Kindern pro Jahr gerettet werden. Letztlich gleiche die Wirkung der IWF-Auflagen auf Schulen und Krankenhäuser "der physischen Zerstörung durch Nato-Bomben", wettert der kanadische Wirtschaftsprofessor Michel Chossudovsky. Der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz, - bislang nicht als Sozialist aufgefallen - lästert: Die IWF-Ökonomen seien nicht nur "drittklassige Studenten", sondern hätten zudem eine unlösbare Aufgabe. Innerhalb von Tagen oder Wochen tüftelten sie in Fünf-Sterne-Hotels Programme aus, die dann Ländern aufgezwungen würden, die sie kaum kennen. Gelegentlich, kolportiert Stiglitz, finde sich in den Analysen gar ein falscher Ländername. Das könne passieren, wenn man alte Konzepte mit der Suchen-Ersetzen-Funktion der Textverarbeitung wiederaufbereite.

"Der Fonds hat Fehler gemacht", gibt sogar Köhler zu. Wolfensohn ist genauso selbstkritisch: "Wir haben die Kultur der Bank modifiziert. Der Tanker hat seine Richtung geändert." In Prag wollen IWF und Weltbank mit ihren Kritikern sprechen. Berge von Zahlen, Daten, Fakten sollen den Ansturm der Betroffenheit abwehren. Aber das interessiert kaum jemanden. Spannender ist es, wenn Wolfensohn sagt, für einen "Barrikadenkampf" sei er nicht stark genug und daher werde er notfalls "die Hilfe der tschechischen Polizei in Anspruch nehmen".

"Unsere Kampagne erinnert an die Sklavenkette,
die durchbrochen werden soll. Steinewerfer erreichen
mehr Aufmerksamkeit - aber nur im Augenblick"

- Schwester Adelgert, 73, Ordensfrau

Schwester Adelgert wird daheim in Münster die Bilder sehen. Ihr Orden feiert Jubiläum, schon deshalb kann die 73-Jährige nicht nach Prag. In der Orangerie des alten Adelshauses, in dem sie wohnt, bietet sie Butterbrote an. In Indien hat sie gesehen, was es bedeutet, auf der Schattenseite der Weltwirtschaft zu hungern. An ihrer Bluse trägt sie das Symbol der Erlassjahr-Kampagne, eines Zusammenschlusses von 2000 Organisationen, die Erleichterungen für die ärmsten Länder der Welt fordern. Es ist eine Kette, mit einem durchbrochenen Glied. "Das ist ein Anklang an die Kette der Sklaven", sagt die Ordensfrau, zu der derart martialische Vergleiche irgendwie nicht passen wollen. Aber es geht nun mal um Leben und Tod, Freiheit und Gerechtigkeit. Pathos ist da kaum zu vermeiden.

"Wenn man sich in die Thematik hineinarbeitet,
wird es immer schwieriger zu sagen, wofür man ist"

- Jan Christensen, 41, ev. Theologe und Ex-Bankkaufmann

"ETWAS LAIENHAFT" nennt Schwester Adelgert sich selbst mit liebenswürdiger Selbsterkenntnis. Rat sucht sie gelegentlich beim evangelischen Pfarrer Jan Christensen, der mit ihr im Kampagnenrat des Erlassjahr-Bündnisses sitzt. Ein besonnener Mann, der auf dem Grundsatz besteht, "dass wir Deutschen nicht massenhaft in Prag einfallen". Trotzdem wird er mit dem bunten Kampagnen-Bus nach Prag fahren. Er spricht wie ein Seelsorger, spürt aber, dass Emotionen allein nicht ausreichen. In einem früheren Leben war er mal Bankkaufmann: "Wenn man sich in die Thematik hineinarbeitet, wird es immer schwieriger zu sagen, wofür man ist."

Leicht haben es nur die Ideologen beider Seiten, in deren Weltbild sich Helden und Schurken klar voneinander unterscheiden. Die Nachdenklichen sitzen zwischen den Stühlen. Wie Klaus Milke, der schon in den achtziger Jahren gemeinsam mit dem heutigen Grünen-Staatsminister Ludger Volmer gegen den IWF mobil machte. Bei einer Podiumsdiskussion mit Volmer und einem Banker verhinderte er damals, dass Autonome die Versammlung sprengen. Jetzt sorgt er sich darum, "wie wir mit unseren differenzierten Positionen durchkommen". Er will die "Globalisierung gestalten". Schimpfen allein reiche nicht: "Es ist falsch, dem IWF zu sagen: Du bist im Bunker. Wir bekämpfen dich." Der Betriebswirt, Millionenerbe, Enkel des Autobahnen- und Brückenbauers Hermann Milke, kann es sich leisten, für das Gute zu sein. Mit seiner Lederweste und der runden Brille sieht er aus wie der Prototyp des Alt-Achtundsechzigers. Aber er bastelt an Konzepten, die für die Zukunft taugen könnten. Mit dem Gerling-Konzern redet der Mann von German Watch über Fonds zur privaten Altersversorgung, die Geld in Entwicklungsprojekte stecken. Das klingt nach aufgeklärter Sozialdemokratie: "Wir sind nicht in der Lage, das ganze System auszuhebeln. Das Schlimme ist ja, dass wir keine Alternativen haben. Deshalb bleibt uns nichts übrig, als an kleinen Rädchen zu drehen."

FÜR REFORMEN
IWF-Chef Horst Köhler

IWF UND WELTBANK -Umstrittene Schwestern

Der Internationale Währungsfonds (IWF) verleiht Geld an Länder, die ihre Schulden nicht bezahlen können (zuletzt knapp neun Milliarden Dollar im Jahr). Dafür müssen die Staaten strenge Auflagen erfüllen - etwa ihre Ausgaben begrenzen und den Export fördern. Kritiker werfen dem IWF daher vor, diesen Staaten ohne demokratische Kontrolle eine Wirtschaftspolitik zu diktieren, die vor allem den Gläubigern nutzt.

Die Weltbank unterstützt mit Geld und Experten Entwicklungsprojekte in rund 100 Staaten. Die Bank sieht eines ihrer Hauptziele in der Armutsbekämpfung. Von Großprojekten - wie dem Bau von Staudämmen oder Ölpipelines - profitieren nach Ansicht ihrer Gegner aber vor allem korrupte Regierungen und internationale Konzerne.

DIE WELT IST EBEN UNGERECHT. Wenn auf dem Wenzelsplatz wieder die Touristen flanieren, wird sich nichts an der Lage in Afrika geändert haben. Zack muss damit leben, dass er in seinem Job "viele Kompromisse machen muss". Das bürotaugliche blaue Hemd unter seinem alten Pulli verrät, wie schwer es ist, Alltag und Revolutions-Abenteuer zu vereinen. Jost, der Berliner Rädelsführer, sagt es in schönstem Seminardeutsch: "Man muss den Widerspruch aushalten zwischen emanzipatorischem Endziel und den konkreten Bedingungen." IWF-Chef Köhler hätte das sicher anders formuliert. Aber auch er sagt: "Die Reichen werden keine gute Zukunft haben, wenn die Armen keine Aussicht auf ein besseres Leben haben."

Vielleicht steht doch kein neuer Bürgerkrieg bevor am Dienstag in Prag. Vielleicht werden nur noch einmal die alten Rituale vorgeführt: Ein paar Chaoten werfen Steine, ein paar Polizisten prügeln, und jede Menge Kameras halten drauf. Und vielleicht verstehen die meisten Banker ja irgendwann, dass sich etwas ändern muss. Und die meisten Demonstranten, dass deshalb nicht gleich die "neue Welt" ausbricht, die die Berlinerin Emma so verzweifelt herbeisehnt.

STEFAN SCHMITZ

Fotonachweis: MARTIN LANGER, SEYLLOU DIALLOU, DPA

Quelle: STERN Ausgabe: 39 I 21-09-2000 I Seite: 244 I Autor/in: *Stefan Schmitz*


Fahrradkarawane nach Prag