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Mexiko-Im Bundesstaat Oaxaca ist nur scheinbar wieder Normalität eingekehrt. Im Oktober sind Wahlen, und der Gouverneur bleibt verhasst.

Fünf Hühner für ein Kreuz

Von Wolf-Dieter Vogel , Oaxaca | Die Wochenzeitung (Schweiz); 15.02.2007

Ob der Gouverneur wohl seine Post liest? « An Ulises Ruiz Ortiz » hat der kleine Raymundo ganz oben auf seine mit Blümchen verzierte Karte geschrieben. « Hallo Ulises, ich schicke Ihnen diesen Brief, um Ihnen zu sagen, dass Sie einen Gefangenen haben und der heisst Felipe Sánchez Rodríguez. Er hat nichts getan und hilft uns immer im Unterricht. » Auch Ana Laura, Vero, Sebastián und die anderen 48 Schülerinnen und Schüler aus dem Kinderhort Calpulli haben dem Regierungschef des südmexikanischen Bundesstaates Oaxaca eine Karte geschickt, weil sie ihren Lehrer wiederhaben wollen.

Genutzt hat es nichts. Sánchez, der Gründer des Kinderhorts im Armenviertel Lomas de San Jacinto von Oaxaca -Stadt, sitzt noch immer im Gefängnis. « Das Schlimmste habe ich überstanden », sagt der kleine stämmige Mann. Er blickt auf die Bergzüge der Sierra Madre del Sur, die sich hinter Metallgittern, Stacheldrahtrollen und einer hohen Betonmauer am Horizont erheben. « Hier in Oaxaca bin ich wenigstens nahe bei den Freunden. » Dann spricht er von den ersten Stunden der Gefangenschaft, vom Transport mit verbundenen Augen und den Tagen im Hochsicherheitsknast, von den Elektroschocks, mit denen man ihn gefoltert habe, und von den Schlägen mit offener Hand, damit keine Spuren bleiben. Die Fragen wird er nie vergessen. « Wer sind eure Anführer? Wie viel hat man euch bezahlt. » Und immer wieder die Angst: « Ich dachte, sie würden uns erschiessen. »

Absurde Anklagen

Es war der 25. November 2006. Aus Mexiko-Stadt angekarrte Polizeitruppen sollten den seit einem halben Jahr währenden Aufstand in Oaxaca zerschlagen. Bereits im Oktober hatte die Bundesregierung Polizei- und Militäreinheiten geschickt, um gegen die Lehrer, Indígenas, Arbeiterinnen und Linken vorzugehen, die sich im Dachverband der Versammlung der Bevölkerung Oaxaca (Appo) organisiert hatten (siehe WOZ Nr. 51/06). Doch an diesem Tag gingen die Einsatzkräfte mit besonderer Härte vor. « Sie warfen unzählige Tränengasgranaten und prügelten mit Stöcken auf uns ein », erinnert sich die Händlerin Maria Ruth Cabrera, der die Polizisten zwei Rippen brachen. 141 Menschen wurden verhaftet. Als « besonders gefährliche Verbrecher » brachte man sie in ein Hoch sicherheitsgefängnis im tausend Kilometer entfernten Bundesstaat Nayarit. Erst nach etwa einem Monat wurden sie wieder nach Oaxaca verlegt. Alle müssen sich nun denselben Vorwürfen stellen: Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Aufruhr gegen den Staat, Zerstörung öffentlichen und privaten Eigentums.

« Alles Lüge », sagt die 48-jährige Ruth Cabrera. « Ich habe einem verletzten Mädchen geholfen, und dann stürzten sich vier Polizisten auf mich. Wie soll ich gleichzeitig auch noch einen Bus, das Finanzamt und das Gerichtsgebäude angezündet haben? » Im Gegensatz zu Sánchez kam sie nach Zahlung einer Kaution auf freien Fuss. Nun trifft sie sich regelmässig mit anderen ehemaligen Gefangenen und deren Angehörigen im Institut für Grafische Kunst, einer Einrichtung im touristischen Zentrum der Stadt. Eine Galerie in den kolonialen Gemäuern erinnert an die kämpferischen Tage: Skizzen von Männern, die sich mit Schleudern gegen Polizisten wehren, und immer wieder das Konterfei des Gouverneurs Ruiz. Ulises der « Mörder », der « Autoritäre », die « Ratte ». Schliesslich war es die Forderung nach Absetzung des repressiven Politikers der Partei der Institutionellen Revolution (PRI), die Zigtausende Menschen in der Appo vereinigt hatte.

Übertünchte Parolen

Ist der Aufstand schon zur Geschichte geworden, die in Kunstgalerien für die Nachwelt festgehalten wird? Hat sich die Bewegung deprimiert zurückgezogen, nachdem mindestens zwanzig Menschen ermordet wurden und noch immer 64 AktivistInnen im Gefängnis sitzen? Regelmässig betont Gouverneur Ruiz, in Oaxaca sei wieder Frieden eingekehrt. Und in der Tat erinnert auf den ersten Blick nur wenig daran, dass hier vor kurzem ein grosser Teil der Bevölkerung die Machtfrage gestellt hat. Die übertünchten Mauern verstecken zwar nur unzulänglich die unzähligen Wandparolen, und ein offenbar vergessener ausgebrannter Bus am Strassenrand verweist auf die Schlachten, die sich AktivistInnen mit der Polizei geliefert haben. Die zu Barrikaden aufgetürmten Sandsäcke sind aus der Innenstadt verschwunden. Doch auf dem Zócalo, dem zentralen Platz der Stadt, ist wieder Normalität eingekehrt. TouristInnen trinken Kaffee oder essen Pouletschenkel in Schoko-Chili-Sosse, Marimba-Musiker hämmern auf ihre Xylofone, und indigene Frauen bieten Plastikketten, bunt verzierte Holzlesezeichen oder geknüpfte Armbänder zum Verkauf an.

Frieden? « Alles ist noch schlimmer geworden », sagt ein Taxifahrer, « die Appo-Führung war zu zurückhaltend, als ihre Anhänger zu den Waffen greifen wollten. » Ein alter Mann, der seinen rebellischen Enkel im Gefängnis besucht, schimpft: « Ulises wird fallen, so Gott will. » Auch Danila López ist optimistisch. « Durch die Repression wollten sie uns so beschäftigen, dass wir zu nichts anderem mehr kommen. Doch das ist ihnen nicht gelungen », sagt die Funktionärin der Seccion 22 der LehrerInnengewerkschaft SNTE, der stärksten Organisation innerhalb der Appo. Dann verweist sie auf die Demonstration vom 3. Februar. Rund 25 000 Menschen zogen durch die Stadt, und wieder waren sie aus allen Region gekommen: aus dem Isthmus von Tehuantepec, aus der Sierra Madre, aus dem Tal von Oaxaca . « Alle Macht dem Volke », stand auf weissen, mit « Appo » unterzeichneten Fahnen, vermummte Jugendliche sprühten Parolen gegen den « Tyrannen » Ruiz. « An diesem Tag haben wir unsere Angst überwunden », sagt López. Auch der Gegner traut dem Frieden offenbar nicht: 4000 Polizisten liess die Regierung auffahren, um das Zentrum zu schützen. Schwere Eisengitter und Stacheldraht sorgten dafür, dass nur einzelne TouristInnen und Einheimische zum Zócalo durchkamen.

Die Zweifel der LehrerInnen

Dass so viele an der Demonstration teilnahmen, sei einer wichtigen Entscheidung der LehrerInnen zu verdanken, sagt Daniel Rosas, der Sprecher der Seccion 22: « Drei Tage vorher haben wir beschlossen, doch in der Appo zu bleiben. » Dem Gebäude der Gewerkschaft, in dem Rosas' Büro untergebracht ist, sieht man die Zweifel nicht an, die vielen der 70 000 Mitglieder zwischendurch gekommen waren: Plakate für die « Freilassung der politischen Gefangenen » und « gegen den Neo liberalismus » überdecken fast jeden Quadratzentimeter der Wände. Bilder zeigen einen von der Polizei bei Auseinandersetzungen in San Salvador Atenco getöteten Jugendlichen: « Dein Beispiel treibt uns an, weiterzu kämpfen. »

Doch auch Durchhalteparolen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die LehrerInnen eine anstrengende Zeit hinter sich haben. Sie hatten den Kampf vergangenen Mai begonnen. Nach einem brutalen Polizeieinsatz schlossen sich ihnen andere Organisationen an. Für höhere Löhne und bessere Unterrichtsbedingungen waren die LehrerInnen in den Streik getreten, und während sich Appo-Aktivist Innen mit der Polizei prügelten, verhandelten einige ihrer SprecherInnen mit dem Innenministerium über die Rückkehr in die Klassenzimmer. Ihre Entscheidung, den Unterricht wieder aufzunehmen, spielte Ende November eine wichtige Rolle bei der vorläufigen Beruhigung des Konflikts.

Die Schläger auf dem Land

Im Oktober wird in Oaxaca das Landesparlament gewählt. Letzte Woche hat die sozialdemokratische Partei der Demokratischen Revolution (PRD) der Appo angeboten, Kandidaten für die PRD zu stellen. « Wir werden die Chance der Wahl nutzen, um die PRI von Ulises Ruiz zu stürzen », sagt Gewerkschafter Rosas. VertreterInnen der von den ZapatistInnen aus Chiapas ins Leben gerufenen « Anderen Kampagne » dagegen verweisen darauf, dass auch die PRD-Abgeordneten die Polizeieinsätze gegen die Appo unterstützt hätten. Wie viele befürchten sie eine parteipolitische Vereinnahmung der Bewegung. Letztlich einigte man sich auf einen Kompromiss. « Wenn jemand als Kandidat antreten will, soll er das im Namen seiner Organisation oder als unabhängiger Bürger machen, aber nicht im Namen der Appo », beschloss eine Vollversammlung am Wochenende. Man begrüsse es jedoch, wenn Wähler Innen Ulises Ruiz an der Urne « abstrafen wollen ».

« Wir werden die PRI zu Fall bringen », sagt Danila López. Doch die Lehrerin aus der ländlichen Küstenregion weiss genau, wie sich die Funktionär Innen der ehemaligen Staatspartei ihre Macht in den Dörfen sichern. « Die Leute sind bettelarm. Wenn du ihnen fünf Hühner schenkst, machen sie das Kreuz an der richtigen Stelle », sagt sie. « Die Regierung Ruiz wird vor den Wahlen viel Geld locker machen. Schon jetzt lässt sie die Lager der staatlichen Sozialstellen mit Lebensmitteln füllen. » Jahrzehntelange Verbindungen zwischen örtlichen Kaziken (den lokalen Patrons und Nutzniesserinnen des Klientelsystems), den PolitikerInnen und der Polizei tun ihr Übriges. Wer trotzdem aufmuckt, bekommt Ärger mit den Schlägertrupps der PRI. Wie etwa Emilio Santiago aus der zapotekischen Gemeinde San Antonino. Mit FreundInnen hat er das freie « Radio Calenda » aufgebaut, in dem Unzufriedene aus dem Ort zu Wort kommen. Doch nicht nur deshalb hassen ihn die « Priístas », wie die PRI-AnhängerInnen genannt werden. Wie in anderen Kommunen lehnen sich auch hier viele BewohnerInnen gegen den PRI-Gemeindepräsidenten auf. « Der Mann hinterzieht Haushaltsgelder und vergibt alle Posten an Familienangehörige », sagt der 38-jährige Santiago. Deshalb habe man auf einer Dorfversammlung per Handzeichen einen neuen Präsidenten gewählt - kein ungewöhnliches Vorgehen, da in San Antonino wie in achtzig Prozent der Gemeinden Oaxacas nach traditionellen gewohnheitsrechtlichen Praktiken regiert wird.

Seither sind die Oppositionellen regelmässig Attacken ausgesetzt. So auch am 25. Januar. « Sie haben uns während einer Versammlung vor dem Rathaus mit Prügeln, Steinen und Schusswaffen angegriffen », sagt Santiago, der in dieser Nacht beinahe ein Auge ver loren hätte. Ihm ist vor allem in Erinnerung geblieben, dass die PRI-Schläger von Polizisten aus der Landeshauptstadt unterstützt wurden - « gesandt von Ulises Ruiz ».

Unerfüllte Versprechen

Nur wenige Kilometer von San Antonino entfernt liegt die Tausendseelengemeinde Magdalena Ocotlán. Fast alle Männer im arbeitsfähigen Alter sind in den Norden ausgewandert, in die USA, auf die andere Seite des Rio Grande. Geblieben sind Alte, Frauen und Kinder. Rund 150 Jungen und Mädchen besuchen die kleine Schule, die am Ende der einzigen gepflasterten Strasse liegt. « Wenn es um die Konjunktur in den USA schlecht steht und die Männer kein Geld nach Hause schicken, können sich die Kinder nicht konzentrieren, weil sie unterernährt sind », sagt ein Lehrer. Seinen Namen will er nicht nennen. Zu tief sitzt die Angst. « Vorne auf der Hauptstrasse sind sie gestanden, die Priístas und die Polizei, als wir ge streikt haben », sagt er und spricht von den Kollegen, die während des Aufstands von paramilitärischen PRI-Gruppen ermordet wurden. Noch immer warten die PädagogInnen darauf, dass wenigs tens ein Teil ihrer Forderungen erfüllt wird. Dass etwa der Staat den Kindern eine Mahlzeit am Tag finanziert oder die Schuluniform, für die in den meisten Familien das Geld fehlt.

Praktisch keine der Abmachungen sei von der Regierung eingehalten worden, stellt Gewerkschafter Rosas klar. « Im Auftrag von Ruiz sind noch immer fast 250 Schulen im Bundesstaat von Priístas besetzt, die unsere Kollegen daran hindern, den Unterricht wieder aufzunehmen », sagt er. Die Seccion 22 hat neue Kämpfe angekün digt, wenn die Regierenden nicht bald ihre Versprechen umsetzen. Und in einem lässt Rosas ohnehin keinen Zweifel zu: « Der Rücktritt von Ulises Ruiz bleibt ein Ziel, das für uns nicht verhandelbar ist. »


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