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Über die Fortsetzung eines Skandals - Auf welche Ideen Feuilletonisten so kommen, wenn sie sich einmal »unverkrampft« einem »Tabuthema« nähern

Am 9. Februar 1995 verschickte der Piper-Verlag eine Presseerklärung, in der mitgeteilt wurde, daß das Buch Auge um Auge. Opfer des Holocaust als Täter von John Sack nicht ausgeliefert wird. »Offensichtlich ist es so, daß dieses Buch zu dem Mißverständnis Anlaß geben könnte, als ließe sich der Holocaust mit anderen Verbrechen aus dieser Zeit vergleichen oder gar aufrechnen.« Daß es sich keineswegs um ein »Mißverständnis« handelte, sondern vom Autor des Buches beabsichtigt war, das hatte Eike Geisel zuerst in Konkret 2/95 und später in der Frankfurter Rundschau nachgewiesen.

Bereits einen Tag später, am 10.2., machte der rechtskonservative Tagesspiegel deutlich, daß John Sacks Botschaft, »die Juden waren wie die Nazis«, verstanden worden war, auch ohne daß das Buch erschien. Daß die Juden nicht bloß Opfer gewesen waren, sondern in der Nachkriegszeit als Kapos in Konzentrationslagern für »unschuldige« Deutsche ein Schreckensregime führten, was ihrer Verfolgung zumindest nachträglich eine gewisse Plausibilität verlieh, die Aussicht also, von einem kompetenten, d.h. jüdischen Autor zu erfahren, die Juden seien auch nicht besser, ja teilweise sogar schlimmer als die Deutschen gewesen, hatte den Tagesspiegel-Redakteur Thomas Lackmann derart in Erregung versetzt, daß er seine Enttäuschung über den Rückzug des Piper-Verlags nicht zurückhalten mochte: »Die richtige Richtung im bundesdeutschen Verdrängungskonsens lautet: Opfer sind Opfer, sonst nichts. Allerdings lassen die Märtyrer auf dem Sockel das Volk der Nachgeborenen ebenso gleichgültig wie seine Täter-Väter im Schlund der Dämonisierung.«

Leute, die sich nie getraut hätten, einen Naziverbrecher, der noch nicht rechtskräftig verurteilt wurde, einen Verbrecher zu nennen, weil sie keine einstweilige Verfügung riskieren wollten, nehmen kein Blatt vor dem Mund, wenn es um einen in Israel lebenden Juden geht: »Solomon Morel ... ist offensichtlich ein Verbrecher«, behauptet Lackmann im forschen Kasinoton, obwohl es zwar einige Zeugenaussagen, aber kein Gerichtsverfahren gegen den Beschuldigten gegeben hat. Und inspiriert von diesem Einzelfall spekuliert Lackmann: »Den industriellen Völkermord haben Juden weder erfunden noch betrieben. Aber wären sie dazu in der Lage? Eine widerliche Frage; die hypothetische Antwort muß lauten: Ja.«

Lackmann wurde weder entlassen, noch wurde - trotz Zusage - eine Erwiderung von Eike Geisel auf Lackmanns Traktat abgedruckt. Stattdessen erhielt Lackmann Unterstützung von der Welt (vom 2.3.95), die John Sack zu einem verfolgten Schriftsteller hochstilisierte. Einfühlsam schilderte das Blatt die Erschütterung Sacks, nachdem er erfahren hatte, daß den Deutschen sein Werk vorenthalten wird. »''Ich bin schockiert, und ich kann das alles noch nicht fassen'', stammelt der 65jährige.« Dabei habe er doch nur seiner Pflicht als Reporter gehorchend »ausführlich recherchiert und hautnah aus der Perspektive der Betroffenen« geschrieben. »Ein in den USA allseits geachteter Schreiber«, ein »hochangesehener Journalist«, »der letzte echte Vertreter des sogenannten new journalism« sei er, tönt die Welt, nur in den USA weiß niemand vom Ruf John Sacks, dessen Name allenfalls als Ghostwriter der Memoiren Leutnant Calleys, dem Verantwortlichen des Massakers von My-Lai, in Verbindung gebracht wird.

Eike Geisel, verteidigt die Welt John Sack, habe ihn zu Unrecht »des Antisemitismus und der Verniedlichung des Holocaust« verdächtigt. Schließlich sei John Sack Jude und müsse deshalb wissen, wovon er rede; außerdem hat er »alleine über Auschwitz 30 Bücher gelesen«. Und in der Tat betont John Sack, daß er keineswegs die Ermordung von sechs Millionen Juden verharmlosen wolle. Diese Statements aber sind nichts als Bekenntnisfloskeln, da Sack in seinem Buch gezielt den Eindruck vermittelt, als wäre das genaue Gegenteil der Fall. Einen »bösen Juden« wolle Geisel aus ihm machen, so schreibt John Sack in einem unveröffentlichten Leserbrief an die Frankfurter Rundschau, dabei sei Geisel doch selber einer, »er braucht nicht weiter als in seinen eigenen Spiegel zu schauen«.

Soweit man aus Rücksichtnahme auf den Anzeigenkunden Piper überhaupt berichtete, war man sich in der linksalternativen und bürgerlichen Presse zwar darüber einig, daß es sich um ein schlampig recherchiertes und sensationslüsternes Buch handelte, aber die Absicht von John Sack war durchaus ehrenwert. Stefan Reinecke warf Eike Geisel im Freitag (vom 17.2.95) »bemerkenswerte Herzlosigkeit« vor bei der Behandlung der delikaten Frage, was den 1945/46 in Polen zurückgebliebenen »Volksdeutschen« an Unrecht zugefügt wurde. Und die taz? Die taz hatte den Artikel Geisels mit der Begründung abgelehnt, er enthielte zuviele Unterstellungen. Am 23.2.95 meldete sich dann der Polenkorrespondent Klaus Bachmann zu Wort, und nun wurde deutlich, warum die taz den Artikel von Geisel tatsächlich nicht haben wollte. Denn offensichtlich ist es seit neuestem Pflicht, sich dem »Tabuthema Vertreibung« »unverkrampft« zu nähern. Was Bachmann an John Sack bemängelte, war vor allem seine »grenzenlose Naivität«, denn zu diesem Thema könne man sich »entweder überhaupt nicht, oder wenn, dann (nur) unter permanenter Hinzufügung, daß die Vertreibung letztendlich eine Folge des von Deutschen begangenen Weltkrieges, von Auschwitz und den deutschen Verbrechen sei«, äußern.

Die »Opfer der Opfer« waren früher die Palästinenser, und sie waren es aus Gründen der Entschuldung der Deutschen. Nicht nur, weil sich die Palästinenser inzwischen mit den Israelis auf ein Friedensabkommen eingelassen und sich deshalb des Vertrauens der Deutschen als unwürdig erwiesen haben, sondern weil es »endlich ein Ende haben [muß] mit dem gekrümmten Gang« (Peter Schneider), benötigt man in Deutschland den Umweg über den Nahen Osten nicht mehr. Seit John Sack die »Opfer des Holocaust als Täter« namhaft gemacht hat, weiß man, daß die »Opfer der Opfer« eben die Deutschen sind. Dieser Gedanke war so bestechend, daß ihn Helga Hirsch in einem umfangreichen Dossiers in der Zeit (vom 2.12.94), in dem sie John Sacks Buch ausführlich referierte, gleich als Resümee niederschrieb. Nicht nur der Tagesspiegel und die taz waren voll des Lobes für Helga Hirsch, sondern auch die Zeit (vom 17.2.95) fühlte sich in einem gegenüber John Sack äußerst lauen Artikel bemüßigt, sich selbst auf die Schulter zu klopfen. Statt darauf zu hoffen, daß die Peinlichkeit bald vergessen sein würde, druckte die Zeit zwei Wochen später (2.3.95) im redaktionellen Teil einen Leserbrief John Sacks ab, und so machte der Zeit-Leser die verwirrende Erfahrung, daß man denselben Standpunkt einnehmen und dennoch unterschiedlicher Meinung sein kann oder umgekehrt, denn auch John Sack zitierte den Artikel von Helga Hirsch als Beleg, daß alles, was »das Buch erzählt, wirklich geschehen ist«, und er beklagte zu Recht den Umstand, daß sein Buch trotz dieser großartigen Referenz nicht erscheint. Helga Hirsch jedenfalls ist dafür, daß John Sacks Buch publiziert wird.

Nur einer hatte dummerweise von dem ganzen Rummel nichts mitgekriegt. Man fragte sich schon verwundert, wie es möglich war, daß dem Spezialisten in Sachen Antisemitismus dieser Skandal durch die Lappen gehen konnte, als er sich doch noch zu Wort meldete. Beleidigt nörgelte Henryk M. Broder in der Woche darüber, daß ihm niemand Bescheid gesagt hatte. »Und so erfahren die verhinderten Leser nur aus zweiter Hand, von privilegierten Rezensenten, worum es in diesem Skandalbuch geht.« Der »privilegierte Rezensent« ist Eike Geisel, der sich die amerikanische Ausgabe besorgt hatte.

Auch wenn die Pressestelle des Piper-Verlages immer bestritten hat, daß ihre Entscheidung mit den Artikeln Geisels irgendetwas zu tun hätte, so gibt es jetzt doch ein Eingeständnis vom Piper-Verlagschef Viktor Niemann selbst. In der Wochenendbeilage der wichtigsten israelischen Tageszeitung Ha'aretz war nämlich Geisels Artikel übersetzt worden, woraufhin Niemann in einem Leserbrief mitteilte, daß der Verlag wegen Geisels Rezension das Buch zurückgezogen habe.

Darauf hatten auch die New York Times und die Herald Tribune hingewiesen. Außer der Feuilleton-Redaktion der Jungen Welt, die durch Textvergleich verdienstvollerweise nachgewiesen hat, daß der Vorwurf John Sacks, Geisel hätte Passagen aus seinem Buch falsch übersetzt bzw. Zitate frei erfunden, aus der Luft gegriffen war, hat keine Zeitung in Deutschland diese Tatsache auch nur erwähnt. Damit hat man ganz den Bemühungen John Sacks entsprochen, der Eike Geisel als »linken Journalisten« zu denunzieren versuchte. Bloß links zu sein gilt jedoch noch nicht als ehrenrührig, und wenn John Sack etwas besser über die deutsche Situation Bescheid gewußt hätte, hätte er Geisel als »Kommunisten« beschimpft. Was man von denen zu halten hat, erzählte der Tagesspiegel (vom 4.3.95) und lieferte dadurch den Beweis, daß es sich bei dem Artikel von Thomas Lackmann keineswegs um einen Ausrutscher gehandelt hatte.

»Haben sich die Kommunisten«, so fragt ganz unschuldig und rein rhetorisch der Redakteur Malte Lehming, »die nationalsozialistische Rassenideologie zu eigen gemacht? Kann man das, was sie taten, überhaupt als Widerstand bezeichnen?« Daß in Buchenwald die Kommunisten »die mit Abstand größte Überlebensgruppe« waren, wertet Lehming als eindeutiges Indiz dafür, daß »die etwa 300 ''roten Kapos'' das von der SS bestimmte Auswahlverfahren« und deren »sozialrassistische Vorurteile« teilten. Wodurch sich die Kommunisten von den Nazis unterschieden, war lediglich die Wortwahl: »Was die Nazis ''minderrassig'' nannten, hieß für die Kommunisten ''völlig undisziplinierbar''. Das Ergebnis war dasselbe: Zigeuner, Ostjuden, Russen.« Auf die Hilfe eines Juden wie John Sack, von dem man sich aus berufenem Munde erzählen lassen kann, was den Deutschen von Juden angetan wurde, kann man mittlerweile verzichten. Die Zuneigung zu überlebenden Opfer gilt nun den »Volksdeutschen«, sind Juden oder Kommunisten davongekommen, dann kann das nur heißen, daß sie das KZ-System der Nazis entweder imitierten oder davon profitierten.

Freiwillig verhält sich der Tagesspiegel so schäbig, wie er Kommunisten vorwirft, daß sie unter Zwang so gehandelt hätten, was nichts anderes heißt, als daß die Insassen selbst schuld waren an der durch das KZ-System erzeugten Barbarisierung der Gefangenen.

Das Thema war schon ziemlich gut abgehangen, als der Spiegel (11/95) eine fünfseitige Story über das Buch von John Sack brachte und das Schlußwort sprach. Lang und breit walzte die dafür eigens engagierte Zeithistorikerin Dorothea Hauser noch einmal aus, was in den bereits erschienenen Zeitungen an verdruckstem Herumgerede und lebhafter Phantasie zu lesen war. Beispielsweise wurde die Mitteilung aus der Welt kolportiert, John Sack sei ein anerkannter und berühmter Vertreter des new journalism, und weil die Autorin offensichtlich keine Ahnung hatte, was das ist, behalf sie sich mit einer Formulierung aus der gleichen Zeitung, die dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat. Zu den New Journalists gehört man aber nicht deshalb, weil man »hautnah aus der Sicht der Betroffenen schreibt«. Tom Wolfe hat den Begriff »new journalism« in den sechziger Jahren geprägt und ihm gehören Autoren wie Jane Kramer, Joan Didion und Hunter S. Thompson an, die nicht besonders glücklich darüber sein dürften, daß ihnen in Deutschland John Sack zugerechnet wurde.

Aber das ist eine Petitesse gegenüber Hausers Versuch, John Sack in Schutz zu nehmen. Der »Wahrheitsgehalt« des Buches sei nicht zu bezweifeln, und die »Quellenbelege« hätten »jeder Überprüfung standgehalten«. Wirklich jeder? Und von wievielen? Die Dialoge seien »nicht erfunden«, sondern sind auf »über 300 Stunden Tonband festgehaltene wörtliche Rede«. Hat sich Dorothea Hauser tatsächlich diese 300 Stunden angehört? Alle Achtung, denn man kann in Sacks Buch schon kaum zwei Seiten lesen, ohne daß es einem schlecht wird, weil es dem Autor - selbstverständlich abgesichert durch 300 Stunden Tonband - offensichtlich Spaß macht, ausgiebig in der Fäkaliensprache zu wühlen. Die Frage, worin der Gewinn eines Protokolls besteht, in dem sich die selbstverständlich »authentischen« Dialoge im wesentlichen aus so erkenntnisträchtigen Worten wie »Du Schwein«, »Nazischweine« und »Hurensöhne« zusammensetzen, verrät Dorothea Hauser dem Leser nicht. Sicher, stilistisch ließe sich einiges bemängeln, aber »hier hätte das Piper-Lektorat zur Glaubwürdigkeit des Buches beitragen können«. Wie das, wenn alle Zitate authentisch sind? Schade, Dorothea Hauser hätte Sacks Buch lektorieren sollen. Das wäre einen Versuch wert gewesen, Dorothea Hauser dabei zu beobachten, wie sie dem Buch »Glaubwürdigkeit« verliehen hätte.

Im Vorwort seines Buches schreibt John Sack: »Ja, der Holocaust hatte stattgefunden, die Deutschen hatten Juden umgebracht, aber wie ich jetzt erfuhr, war eine zweite Ungeheuerlichkeit geschehen, und die Juden, die dafür verantwortlich waren, vertuschten sie: Juden hatten Deutsche umgebracht.« In einem Satz ist der ganze Inhalt des Buches zusammengefaßt und verrät die umfassende Begriffslosigkeit des Autors und seiner Rezensentin, für die Auschwitz ein etwas größeres Massaker gewesen ist, eine »Ungeheuerlichkeit«, an der es wohl kaum noch etwas zu lektorieren gegeben hätte.

Nichts wäre verständlicher und einleuchtender gewesen, wenn die davongekommenen Juden tatsächlich gemacht hätten, was John Sack ihnen andichtet, nämlich sich an den Deutschen zu rächen, ohne darauf zu achten, ob es sich um einen SS-Mann handelt oder bloß um einen »Volksdeutschen«. Stattdessen haben die wenigen Juden, die sich bewaffnet zur Wehr gesetzt haben, wie Yitzhak Zuckermann in A Surplus of Memory beschreibt, vergeblich versucht, die übriggebliebenen Juden vor den Pogromen im Nachkriegspolen zu retten und ihre Ausreise nach Palästina zu organisieren. Stattdessen konstruiert John Sack eine krude Geschichte, die sich auf nichts berufen kann als auf Einzelfälle. Die inzwischen verstorbene Lola Potok, eine dieser Einzelfälle, gab John Sack ziemlich eindeutig zu verstehen, daß sie mit seiner Art zu schreiben nichts anfangen konnte und daß sie ihn daran hindern würde, das Buch zu veröffentlichen.

Was aber zieht Dorothea Hauser für eine Lehre aus Sacks Buch? »Schließlich gehört zur deutschen Verarbeitungskultur«, schreibt sie, »die ebenso unmenschliche wie mystifizierende Forderung, alle Juden müßten makellose Heilige sein.« Nicht nur, daß dieser Gedanke selbst mystifizierend ist, unterschlägt sie doch die weitverbreitete Meinung, daß sich die Juden wie Lämmer zur Schlachtbank haben treiben lassen und daß in der Formel »Opfer der Opfer« die Juden zu Tätern avancierten, die an den Palästinensern Völkermord begingen, sie begreift auch schlichtweg nicht den Zusammenhang, in dem ihre Aussage die von John Sack intendierte Richtung bekommt, nämlich daß »die« Juden »ebenso grausam wie ihre Vorbilder in Auschwitz« waren.

»Über die Opfer dieser Zwangsumsiedlung (der Deutschen) wird wenig geredet«, schreibt Dorothea Hauser und redet doch selbst im Duett mit Klaus Bachmann von der taz von nichts anderem. Und sie fährt fort: »- vor allem in der Furcht, unbelehrbare Rechte könnten sie zur Relativierung der Nazi-Verbrechen mißbrauchen.« Unbelehrbare Rechte braucht man für dieses Geschäft nicht mehr. Das besorgt viel besser Dorothea Hauser im Spiegel.



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