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Grosny, Bosnien und die Intellektuellen

Hat sich eigentlich jemand schon darüber gewundert, daß sich über die Verletzung der Menschenrechte in Grosny bislang noch keiner der Intellektuellen in dem Maße erregt hat wie über die in Bosnien, obwohl im Vergleich zur tschetschenischen Hauptstadt Sarajevo eine Insel des Friedens ist und die Belagerung der Städte in Bosnien-Herzegowina eine Lappalie angesichts der Bombardierung Grosnys aus der Luft? Warum zählen die Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung in Grosny nicht zu den Ereignissen, die die Mahn- & Warngesellschaft in der Bundesrepublik ansonsten regelmäßig anprangert? Zählt die Bevölkerung Grosnys nicht zur Zivilisation, für die man in Bosnien über Leichen zu gehen bereit ist, wenn man wegen Menschenrechtsverletzungen sogar Luftangriffe »unter möglichster Schonung von Menschenleben« fordert? Gibt es nicht viel bessere Gründe, gegen Jelzin zu protestieren als gegen MilosŠevi´c?

Während in Jugoslawien die Zentralregierung die Auflösung der staatlichen Einheit dank des internationalen Drucks von außen nicht mehr aufhalten konnte und sich aus dem daraus folgenden Zerfallsprozeß ein Bürgerkrieg entwickelte, in dem es um Gebietsstreitigkeiten geht und jede Kriegspartei ihre nationalistischen Ziele verfolgt, handelt es sich in Grosny um einen tatsächlichen Vernichtungsfeldzug, d.h. um die Auslöschung einer Stadt und seiner Bewohner durch den Einsatz aller militärischen Mittel einer Großmacht, die durch keine Blauhelmverbände der UNO in irgendeiner Weise beobachtet, eingeschränkt oder behindert wird. So unterschiedlich die Situation, so unterschiedlich auch die Reaktion der Presse und der Öffentlichkeit. Niemand nämlich regte sich über das abgekartete Spiel auf, als die westlichen Regierungen Jelzin grünes Licht für den Angriff gaben, indem sie den Konflikt zur inneren Angelegenheit der Sowjetunion erklärten, in die man sich nicht einzumischen gedenke. Und erst als die Operation nicht so reibungslos verlief wie geplant, als Grosny bereits über einen Monat unter Artilleriebeschuß lag und mit einem Bombenteppich überzogen wurde, als es einfach nicht mehr zu übersehen war, daß Grosny dem Erdboden gleichgemacht wurde, rang sich der Bundestag zu einer windigen Protestnote durch, in der man sich »tief besorgt und bestürzt« über die »schwere Verletzung der Prinzipien der OSZE« zeigte (FAZ vom 21.1.95). Und als sich Kinkel, der vor ein paar Jahren noch »die Serben in die Knie zwingen« wollte, zur gleichen Zeit mit dem russischen Außenminister Kosyrew traf, bedankte sich dieser bei ihm für die »Partnerschaft, die angesichts der ''Tragödie'' im Kaukasus ihre Reife unter Beweis gestellt habe« (FAZ vom 23. Januar '95). Nur habe es leider keinen anderen Ausweg gegeben, mit den »Banditen« fertigzuwerden. Wenn man dann noch in der FAZ vom gleichen Tag liest, daß Kosyrew mit Kinkel einig darüber ist, »daß es jetzt vor allem darum gehe, von den bosnischen Serben eine baldige Zustimmung zum Friedensplan der Bosnien-Kontaktgruppe zu erlangen«, dann fällt es schwer, nicht an einen Deal zu glauben, in dem die großmachtpolitischen Einflußsphären so absteckt worden sind, daß die Sowjetunion Jugoslawien dem Westen überläßt, wenn sich der aus dem Tschetschenienkonflikt heraushält.

Die Volksarmee in Jugoslawien hat keine Stadt flächendeckend bombardiert und die zum Einsatz gekommenen Kriegsgeräte dürften sich im Vergleich zum russischen Militäreinsatz wie Spielzeug ausnehmen, und dennoch wurde MilosŠevi´c in der hiesigen Presse als faschistischer Serbenführer tituliert, der ein großserbisches Reich installieren wolle. Obwohl sich die Ambitionen von MilosŠevi´c lächerlich ausnehmen gegenüber der von Jelzin betriebenen Großmachtpolitik, ist es bisher niemandem eingefallen, Jelzin einen faschistischen Russenführer zu nennen. Stattdessen übt man sich in vorsichtiger Zurückhaltung und schiebt die Verantwortung auf die falschen Berater, mit denen sich Jelzin umgeben hätte. Man müsse Geduld haben und die schwierige Lage der Sowjetunion berücksichtigen, heißt es, wenn Jelzin eine ganze Stadt einäschern läßt. Jelzin, der nach dem auf so merkwürdige Weise dilettantischen Putsch der alten Nomenklatura als Demokrat in die Familie der Völkergemeinschaft aufgenommen wurde, handelte genauso wie jeder seiner westlichen Kollegen handeln würde. Was man ihm ankreidet, ist die Tatsache, daß er das Problem nicht diskreter gelöst hat.

Wo aber sind bis heute die Aufrufe, Erklärungen und ganzseitigen Anzeigen in den Tageszeitungen, die im Bosnienkonflikt auf eine Intervention der UNO gedrängt haben? Die Tatsache, daß die UNO keine Friedenstruppen nach Grosny schicken kann, ist allein keine hinreichende Erklärung für die Neutralität der Intellektuellen. Und bezeichnend ist es, wenn Freimut Duve, dessen hysterisches und überschnappendes Geschrei zu Bosnien noch gut in Erinnerung ist, in einem Kommentar in der taz zu Grosny plötzlich Kreide gefressen zu haben scheint. Die breitangelegte Niedermetzelung einer ganzen Stadtbevölkerung wäre tatsächlich einmal Anlaß gewesen, in welcher Form und aus welchen Gründen auch immer gegen den rabiaten Militäreinsatz zu protestieren. Um dagegen zu sein, daß eine ganze Stadt in Schutt und Asche gelegt wird, muß man den Tschetschenen nicht zu Füßen zu liegen und aus ihnen auch keinen neuen Mythos von einem tapferen und nach Unabhängigkeit strebenden Volk basteln. Um dagegen zu sein, genügt es, die imperialistische Politik einer Großmacht zu verurteilen, die mit den Einwohnern des Landes nicht nach Belieben umspringen darf. Aber wie es aussieht, haben die Unterschriftsteller an der Schonbezugpolitik und der vornehmen Zurückhaltung ihrer Regierung gegenüber dem Vernichtungsfeldzug Jelzins in Tschetschenien nichts auszusetzen.



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