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2 Kindheit und Jugend: Die Berge von Torre Pellice



Deine Mutter, Jolanda Curcio, wird in allen Biographien als »eine junge Mutter bescheidener Herkunft« beschrieben. Wie bist du aufgewachsen?

Ich wurde am 23. September 1941 kurz vor zwölf Uhr mittag in Monterotondo bei Rom geboren. Meine Mutter war damals 18 Jahre alt. Sie war aus Apulien nach Rom gezogen und arbeitete als Zimmermädchen im Haus einer alten Dame. Dort lernte sie meinen Vater Renato Zampa, einen Armeeoffizier, kennen. Es war eine einfache und kurze Geschichte zwischen einem Mann und einer jungen Frau, lang genug, um mich später das Licht der Welt erblicken zu lassen. Wer mein Vater war, erfuhr ich erst so mit 12,13 Jahren, als er im Verwaltungsbereich beim Film eine Stelle hatte. Ich konnte natürlich nicht bei meiner Mutter in Rom bleiben. Als ich nur wenige Monate alt war, brachte sie mich in ein Bergdorf im Piemont. Torre Pellice war die sogenannte Hauptstadt der Waldenser. Dort lebten ihre Brüder Armando und Duilio und eine ihrer Schwestern, Nina. Sie arbeitete als Krankenschwester im Sanatorium für Tuberkolosekranke. Ich wurde bei den Paschettos, einer Familie aus dem Dorf, untergebracht. Sie zogen mich liebevoll groß, bis ich zehn Jahre alt war. Ich hatte eine glückliche Kindheit.



Gab es in deiner Kindheit Anzeichen für deine rebellische und gewalttätige Zukunft? Nun glauben ja viele Leute heutzutage an die Aussagekraft der Horoskope. Du bist während des Überganges des Sternbildes von der Jungfrau zur Waage geboren. Dein Aszendent liegt zwischen Skorpion und Schütze. Demnach müßtest du eine vielseitige Persönlichkeit sein, mit analytischer Intelligenz, großer Anpassungsfähigkeit und einem vage diabolischen Charme. Mit großer Konzentrationsfähigkeit und einem fast nomadenhaften Drang nach Freiheit und Abenteuer.

Ich muß zwar zugeben, daß gewisse Übereinstimmungen bestehen. Aber weder mein Sternbild noch meine Charakterzüge lassen auf eine Neigung zur Gewalt schließen. Nein, von Haus aus war ich eher ein ruhiger und ausgeglichener Mensch, also eher das Gegenteil vom Mythos eines Kriegers.

In den letzten Jahren wurden mir in den Knast zahlreiche Horoskope geschickt. In der Regel von mir unbekannten Frauen. Doch mehr als die Astrologie hat mich im Knast die mythologisch-symbolische Aussage zu meiner Geburt und meinem Namen interessiert. Die Tagundnachtgleiche vom 23. September wird in der Mythologie als ein den Göttern heiliger Tag der »Wiedergeborenen« bezeichnet. Gemäß der antiken Mythologie wurde Dionysos an diesem Tag wiedergeboren, den Göttern zum Trotz, die seinen Körper in Fetzen gerissen hatten, und der Göttin Era zum Trotz, die sie aufgehetzt hatte. Der Name Renato rührt offensichtlich von »rinato«, wiedergeboren, her. Ob Zufall oder nicht, das sind eindeutige Hinweise auf ein Hauptmerkmal meines Lebens: die wiederholte Fähigkeit zum Neubeginn, bei einer Geschichte voller Diskontinuitäten.

Ich habe oft eine Sache vorgehabt und dann eine andere getan. Ich habe es akzeptiert, mein Leben, meine Existenz in immer neuen radikalen Sprüngen fortwährend zu ändern und in Frage zu stellen.



Ein Freud-Anhänger würde dich nach deinem Ödipus-Komplex, den Bindungen zu deiner Mutter usw. fragen. Einen Jung-Anhänger würden die Mythen deiner Kindheit interessieren. Was würdest du ihnen erzählen?

Dem Freudianer würde ich von einer bestimmten Episode meiner Kindheit berichten. Ich war damals etwa sechs Jahre alt und schlafwandelte. Ich bin in dem Haus in Torre Pellice mitten in der Nacht aufgestanden und habe mich auf die Fensterbank gesetzt. Einmal stolperte ich über einen Stuhl. Es tat mir weh, und ich wachte schlagartig auf. Ich konnte nicht begreifen, warum ich mich dort und nicht in meinem Bett befand.

Die Phase des Schlafwandelns in meiner Kindheit war irgendwann vorbei. Ich hatte es schon fast vergessen, bis mir Massimo Bellogi, ein Genosse von der Kolonne Walter Alasia2.1, vor einigen Jahren im Knast erzählte, daß er als Kind ebenfalls ein Schlafwandler gewesen war und sich meist vor die Haustür gesetzt hatte. Er erklärte es sich damit, daß sein Vater weggegangen war und die Familie verlassen hatte. Ich begriff, daß ich mich wohl auf die Fensterbank setzte, um dort auf meinen Vater zu warten, den ich nicht einmal kannte. Andererseits wartete ich aber auf meine Mutter. Sie war weit weg, und wir sahen uns selten.

Mit sechzehn wurde die Beziehung zu meiner Mutter, die ich damals Jolanda und nicht Mamma nannte, enger. Meine Mutter war für mich mehr Freundin und Beraterin als mütterliche Erscheinung. Ich nenne sie erst seit wenigen Jahren Mamma, und mir scheint, sie ist glücklich darüber.

Darauf könnte sich der Freudianer also stürzen.



Und der Jungianer?

Ihm könnte ich erzählen, daß alle starken Symbole aus meiner Kindheit mit der natürlichen Umgebung, in der ich aufwuchs, verbunden sind: Berge, Täler, Quellen; es gab keine historische Persönlichkeit, die mich stärker fasziniert hätte. Ich habe sehr spät angefangen, mich für Politik zu interessieren, erst als ich in Trento an die Uni kam. Und dort auch nicht sofort.

Ich wurde von klein zur Jagd nach Adlern und Gemsen, die dann ausgestopft wurden, mitgenommen. Die phantastischen Vorstellungen meiner Kindheit wurden durch die Mythen der Gebirgswelt geprägt: kolossale Berggipfel, verzauberte Wälder, Tiere, denen man sich nur schwer nähern konnte, Spuren im Schnee... Es war kein Zufall, daß ich mich in der Universität von Trento einschrieb. Es hatte mehr mit ihrer Lage mitten in den Bergen zu tun als mit dem neuen Soziologie-Fachbereich. Meine spätere Frau, Margherita Cagol, hatte ebenfalls eine starke Leidenschaft für die Berge. Wochen über Wochen haben wir damit verbracht, durch das Fassa-, Brenta- oder Genua-Tal zu wandern und nach Quellen zu suchen. Der jeweils unterschiedliche Geschmack des Wassers überraschte uns immer wieder aufs neue.

Stürme, Wind, Schnee und Sonne können dem Gebirge nichts anhaben. Berge sind höchstens etwas von der Erosion betroffen. Ich habe achtzehn Jahre im Gefängnis in ziemlich felsiger Weise gelebt. Es ist mir gelungen, mit dem, was auf mich zukommen sollte, fertig zu werden, ohne davon völlig zerstört zu werden. So, ist das nun genug für den Jungianer?



Ich glaube schon. Ich verstehe nur nicht ganz, was die Roten Brigaden mit dieser Geschichte und deinem offensichtlichen Gefallen an Symbolik zu tun haben.

Die Roten Brigaden sind nur ein Kapitel meines Lebens. Ein Metropolen-Abenteuer, in das ich auch infolge einer Reihe von Zufällen geraten bin.

Mein Interesse für Symbole scheint mir allerdings nicht besonders ungewöhnlich. Ich bin der Ansicht, daß jede menschliche Kommunikation grundlegend auf symbolischen Inhalten beruht. Menschen, die sich dessen nicht bewußt sind, wissen in Wirklichkeit wenig über ihre Kommunikationsmechanismen. Ich bin immer davon überzeugt gewesen, daß ein jeder von uns ein Konglomerat von Symbolen darstellt, die von dieser Gesellschaft leider zu Kritzeleien reduziert werden.



Gehen wir noch einmal zurück zu deiner Kindheit in deiner Adoptivfamilie. Du hast gesagt, sie war glücklich ...

Ja, glücklich und liebevoll. Mutter Paschetto, Enrichetta, war für mich die »Tante«. Auch ihre Töchter Fernanda und Luciana, die, als ich fünf Jahre alt war, schon fast erwachsen waren, mochten mich. Ich besuchte die Grundschule im Dorf. Der Unterricht fand dort für alle Klassen im gleichen Raum statt.

Im Sommer fuhren wir in eine Berghütte der Paschettos. Das waren für mich zwei bis drei zauberhafte Monate.



Hast du keine schlechten Erinnerungen?

Das erste riesengroße Trauma war der Tod meines Onkels Armando im Jahr 1945. Er war 20 und ich vier Jahre alt. Er war wie ein älterer Bruder für mich. Er spielte immer mit mir, brachte mich in die Wälder, lehrte mich die Namen der Pflanzen und Tiere.

Ich hing sehr an ihm. Er war mit den Partisanen der Garibaldi-Brigaden2.2 in die Berge gegangen. Ab und zu kam er aber herunter, um mich zu besuchen. Am Tag der Befreiung Turins war er zum Feiern in die Stadt gegangen. Als er abends mit seinen Genossen auf einem Lastwagen nach Torre Pellice zurückkehren wollte, gerieten sie in einen Hinterhalt einer Gruppe von Nazis, die sich gerade über die Grenze zurückzog. Die schlachteten ihn und alle anderen regelrecht ab.



Der Partisanenonkel, der von den Nazis umgebracht wurde. Spielte das später eine große Rolle für dich?

Meine persönlichen Gefühle betreffend schon, auf der politischen Ebene glaube ich aber nicht. Ich habe dieser schmerzlichen Erinnerung zumindest jahrelang keine besondere politische Bedeutung beigemessen.

Die Bedeutung des Todes von Onkel Armando entdeckte ich erst viel später. Da war ich schon in Trento. Ich bin mit Margherita in das Pellice-Tal gegangen und zeigte ihr die Orte, an denen ich mit ihm gewesen war. Ich hatte auch eine Untersuchung über die Partisanenkämpfe in diesem Gebiet durchgeführt. Mein erster Kampfname, den ich mir als Brigadist zulegte, sollte später dann »Armando« heißen.



In Torre Pellice hast du gelebt, bis du zehn Jahre alt warst. Was geschah dann?

Nach der Grundschule hat meine Mutter, wahrscheinlich in Absprache mit meinem Vater, über meinen Kopf hinweg eine drastische Entscheidung getroffen. Ich mußte die Berge verlassen und kam in ein von Priestern geführtes Internat in der Nähe Roms, das Don Bosco in Centocelle.

Das war ein schwerer Schlag und ich begann sogleich zu rebellieren. Ich zog mich in eine fast schon autistische Sphäre des Schweigens und der Verweigerung zurück. Ich sprach nicht, ich lernte nicht. Ich riß einige Male aus, durchwanderte ganz Rom, um zu meinem Onkel, dem Regisseur Luigi Zampa, zu gelangen. Er lebte im Viertel Parioli, in einem luxuriösen Haus, das mir sehr gut gefiel und in dem wunderschöne Schauspielerinnen, deren Parfüm mich sehr erregte, ein und aus gingen. Es war in der Tat eine radikale Alternative zu dem stumpfen und eisigen Ambiente des Internats, das mir unerträglich war.

Doch mein Hauptproblem bestand darin, daß ich nicht in Rom bleiben wollte. Ich wollte zurück in das Pellice-Tal.



Wie endete die Geschichte deiner ersten Rebellion?

Miserabel. Ich blieb sitzen, ohne die Chance einer Nachprüfung zu bekommen. Man beschloß, ich weiß bis heute nicht richtig warum, mich nach Imperia zu schicken und dort einer neuen Familie anzuvertrauen. Dort blieb ich, bis ich fünfzehn war.

Dort habe ich weiter rebelliert. Ich weigerte mich weiterhin, für die Schule zu lernen. Nachdem ich bereits einmal durchgefallen war und kurz davorstand, ein zweites Mal sitzenzubleiben, wurde ich an einer Berufsschule angemeldet. Das konnte mich aber auch nicht besänftigen. Ich wollte nach Torre Pellice.

Einige Lehrer beschlossen, es auf die harte Tour zu versuchen: »Wenn du nicht lernst, stecken wir dich in die Besserungsanstalt von Genua.« Sie brachten mich nach Genua, damit ich es mir von weitem ansehen sollte. Es war ein altes, im Hafen von Genua festgekettetes Schiff, auf dem die Jugendlichen kahlrasiert und mit einer schwarzen Kutte herumliefen. Das wirkte. Ich war sehr erschrocken. Ich rebellierte zwar weiterhin, dosierte es aber besser und begann das unvermeidliche Minimum zu lernen. Ich wollte aus der Situation herauskommen, arbeiten können und unabhängig werden. Ich blieb nicht mehr sitzen. Mit fünfzehn beendete ich die Schule und bat meine Mutter, arbeiten gehen zu dürfen.



Was wolltest du arbeiten?

In einem Café oder einer Kneipe hätte es mir gut gefallen. Im Sommer hatte ich bereits gelegentlich hinter dem Tresen gestanden und als Kellner gearbeitet. Mein Vater unterstützte mich und besorgte mir eine Stelle als Liftboy im Hotel Cavallieri in Mailand.

Dort blieb ich ein Jahr. Es gefiel mir, ich war unabhängig und verdiente mein eigenes Geld, mit den Trinkgeldern sogar recht viel. Es war auch das erste Mal, daß ich bei meiner Mutter sein konnte. Sie arbeitete in einem anderen Hotel in Mailand, und wir wohnten zusammen in einer winzigen Wohnung. Wir kamen gut miteinander zurecht. Jeder hatte seine Unabhängigkeit.

Ich wollte andere Sprachen lernen und belegte an der Berlitz-Schule Kurse für Französisch, Englisch und Spanisch. Das war auch eine Möglichkeit, um andere Jungs und Mädchen kennenzulernen, erste Freundschaften zu schließen, etwas zu flirten ...



Du bist also ein braver und völlig normaler Junge geworden. Wie lange ging das gut?

Etwa anderthalb Jahre. 1958 übernahm meine Mutter eine kleine Pension in San Remo. Sie fragte mich, ob ich ihr ein wenig unter die Arme greifen wolle. Ich sagte zu, obwohl ich nicht aus Mailand fortgehen und dadurch den guten Lohn als Liftboy verlieren wollte. Die »Pension Flora« hatte etwa zehn Zimmer und lag in der Nähe des Spielkasinos. Für unsere geringen Ansprüche lief die Pension nicht schlecht.

Jolanda bestand damals darauf, daß ich weiterhin eine Schule besuchte. Ich wollte auf die Kunsthochschule gehen. Ich zeichnete gern, auch wenn es nur Kritzeleien waren. Aber alle waren dagegen: »Was willst du denn später mit so einem Schulabschluß anfangen? Du wirst ständig arbeitslos sein!« Wieder lehnte ich mich auf. Ich sagte: »Wenn ihr wirklich wollt, daß ich auf eine weitere Schule gehe, lasse ich den Zufall entscheiden.« Daraufhin suchte ich eine Schule aus, indem ich einfach das Telefonbuch aufschlug. Es war das Institut für Chemie-Sachverständige in Albenga.



Du hast dort aus purem Zufall studiert?

Ja, fünf Jahre lang. Ich lebte in einem Internat und verbrachte die Wochenenden und Ferien in San Remo. Während des Sommers arbeitete ich zeitweise in einigen großen Hotels an der Riviera.

Bei einem dieser Ferienjobs habe ich meine erste Liebesgeschichte erlebt. Das Mädchen hieß Lulù, sie war Pariserin, etwas größer als ich und wunderschön. Im Sommer trug sie sehr knappe kurze Hosen, ziemlich gewagt für jene Jahre. Ich war verliebt, dachte aber, es handele sich um eine Liebe, die jenseits meiner Möglichkeiten als Jugendlicher läge. Doch unsere Freundschaft schlug an einem gewissen Punkt zu etwas Liebevollerem um, was mir eine intensive und ungläubige Freude bereitete.



Hast du deinen Abschluß an der Schule geschafft?

Ich wollte schnell fertig werden und habe mich wie ein Besessener ins Studium gestürzt. Ich habe mit einem sehr guten Notendurchschnitt abgeschlossen. Mein Italienisch-Aufsatz, an dessen Thema ich mich absolut nicht mehr erinnern kann, wurde sogar prämiiert und irgendwo veröffenlicht. Ich kam glücklich nach Hause zurück: »Liebe Jolanda, wir haben's geschafft, hier ist mein Zeugnis. Für mich beginnt jetzt ein neues Leben...« Nach der Plackerei an der Schule dachte ich, daß nun der Moment gekommen sei, zu schauen, was in der Welt noch so vor sich ging. Leider mußte ich festellen, daß meine Mutter schon andere Pläne für meine Zukunft hatte: »Jetzt, wo du einen Abschluß hast, wirst du eine seriöse Arbeit finden, und wir können endlich zusammen leben ...«



Und du wolltest hinaus in die Welt ...

Ich hatte keine klare Vorstellung. Damals hörte ich am liebsten Saxophon-Musik und las viel Camus. Ich ging jedoch davon aus, daß jede für mich akzeptable Lebensart eine gewisse Dosis Abenteuer beinhalten mußte. Zudem wurde der Drang nach völliger Unabhängigkeit immer stärker. Doch um Jolanda glücklich zu machen, verschickte ich einige Bewerbungen, und schließlich bekam ich von Pirelli in Mailand eine Antwort.



Du hast dich dort vorgestellt?

Zunächst zögerte ich, dann ging ich doch hin. So trat ich im Herbst 1961, mit zwanzig Jahren, zum ersten Mal durch das Tor der Pirelli-Niederlassung in Bicocca. Zehn Jahre später sollte hier meine Geschichte als Brigadist ihren Anfang nehmen und sich entwickeln.

Ich stellte mich in Anzugsjacke und mit Schlips vor. Der Wachposten forderte mich auf, zu den Büros hochzugehen. Dort oben prüfte ein leitender Angestellter meine Papiere, stellte fest, daß alles in Ordnung war, und teilte mir mit, daß ich am nächsten Tag anfangen könnte zu arbeiten.

»Was wird meine Arbeit sein?« fragte ich. »Kommen Sie, schauen Sie es sich mal an.« Er ging mit mir in die Ruß-Abteilung, wo die Mischung für die Reifen vorbereitet wurde. Es war ein einziger nebliger und dunkler Alptraum. In einem schrecklichen Raum unter der Treppe stand ein Tischchen mit einer Reihe Proben: »Hier werden Sie die chemische Kontrolle der Materialien durchführen ...«

Ich begriff und bedankte mich. »Ich werde mich melden«, versprach ich und verabschiedete mich.

»Ich habe den Ort gesehen, an dem ich den Rest meines Lebens verbringen soll«, erzählte ich in dramatischen Tönen meiner Mutter. »Und gerade weil ich ihn gesehen habe, habe ich beschlossen, dort niemals hinzugehen.« Jolanda war tief enttäuscht. Es war klar, daß wir unterschiedliche Erwartungen hatten: Sie wollte mir näherkommen, ich hingegen verspürte den nicht zu unterdrückenden Drang, mich von der Vergangenheit zu lösen.



Und dein Drang nach Unabhängigkeit hat schließlich überwogen?

Ja, wie von selbst und fast unbemerkt. Eines Nachmittags lief ich völlig gedankenversunken die Küstenstraße von San Remo entlang. Als ich an das Ende der Stadt gelangte, kehrte ich nicht um, sondern begann zu trampen und landete schließlich in Genua.



Warum bist du nach Genua getrampt?

Es gab keinen bestimmten Grund. Es war einfach die erste größere Stadt, durch die die Straße führte. Ich besaß nur die Kleider, die ich trug, und hatte hundert Lire in der Hosentasche. Der Mann, der mich mitgenommen hatte, ein Österreicher, lud mich zum Essen ein. Ich lehnte ab, da ich der übertriebenen Aufmerksamkeit, die er mir schenkte, mißtraute. Ich schrieb auch eine kurze Nachricht an meine Mutter: »Liebe Jolanda, ich brauche ein wenig Zeit für mich, ich muß mir über viele Dinge, die mich betreffen, Klarheit verschaffen, über meine Zukunft und meine Vergangenheit. Wir werden uns, sobald etwas Zeit vergangen ist, wiedersehen...«

Ich schlug eine neue Seite auf. Ich begann ein neues Kapitel in meinem Leben, das der Öffentlichkeit am wenigsten bekannte.



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