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Sendehinweis | Expose zu "Antonio Negri. Eine Revolte, die nicht endet"

ANTONIO NEGRI
Eine Revolte, die nicht endet. Von 1968 bis Genua.
Expose für einen Dokumentarfilm von Andreas Pichler & Alexandra Weltz; 60 min


SYNOPSIS
Paris 1. Juli 1997. Ein älterer Mann checkt in ein Flugzeug nach Italien ein. Bei der Landung in Rom
verhaftet ihn sofort eine Einheit der Carabinieri. Antonio Negri, Universitätsprofessor, Philosoph und
politischer Agitator kehrt nach 14 Jahren Exil freiwillig in sein Heimatland Italien und damit ins Gefängnis
zurück. Die Zeitung Liberation nennt es „ Die Rückkehr des Teufels“.
Drei Jahre später erscheint sein Buch EMPIRE. Die internationale Presse erklärt es zum „neuen
kommunistischen Manifest“ und spricht von „Schauern der Erregung, die Universitäten und Aktivisten
rund um den Globus erfasst“. Das Buch wird zum Weltbestseller, zur Bibel der Globalisierungskritiker
von Seattle, Göteborg und Genua.
Kaum ein europäischer Intellektueller hat so viel Bewunderung und Hass, so viel Zuspruch und
Ablehnung auf sich vereint wie der heute 70jährige. Kaum einer hatte ein derart widersprüchliches und
bewegtes Leben. Negri ist Universitätsprofessor, Philosoph, Militanter, Gefangener, Flüchtling, Exilant,
Staatsfeind Italiens und heute neben Arundhati Roy, Naomi Klein oder Noam Chomsky einer der
Vordenker der kritischen Globalisierungsbewegung. Der Film erzählt die Geschichte der Utopie von
1968, die in Italien 10 Jahre dauerte und er erzählt von der Entstehung einer neuen globalen Protest-
Bewegung zur Jahrtausendwende. In beiden historischen Momenten spielen Negris Schriften, Ideen und
Aktionen gleichermaßen eine entscheidende Rolle. Er formuliert einen fundamentalen Einspruch gegen
die kapitalistische Weltordnung und ist damit auf die politische Bühne zurückgekehrt.
Der Film sucht nach biografischen, theoretischen und historischen Entscheidungspunkten und porträtiert
ein Leben zwischen Philosophie und Revolte. In Begegnungen mit Negri und seinen Weggefährten,
Freunden und Kritikern sowie in Konfrontation mit Archivmaterial, zeichnet der Film Kontinuitäten und
Brüche von den frühen 70er Jahren bis heute nach.


DER PROTAGONIST
Negris Einfluss auf die außerparlamentarischen Protestbewegungen der 70er und heute macht ihn zu
einer der kontroversesten Figuren der politischen Zeitgeschichte. Dies resultiert nicht nur aus seinen
komplexen Analysen, sondern auch aus seinem Charisma und seiner Begeisterungsfähigkeit.
Seine Texte beeinflussten die Streiks und Arbeitskämpfe der späten 60er; sie wurden zum Bezugspunkt
der radikalen Autonomia-Bewegung der 70er und sie sind theoretischer Bezugspunkt der
gegenwärtigen Antiglobalisierungsbewegung.
In der 70ern verstand man sie von Staatsseite als theoretische Matrix für den um sich greifenden
Terror. Negri wurde zum „cattivo maestro“, zum „Verführer der Jugend“ - einem Staatsfeind mit
moralischer Verantwortung für die Entführung Aldo Moros im Jahre 1978.
Die Zuspitzung der gesellschaftlichen Konflikte Ende der 70er Jahre in Italien enden für Negri wie für
tausend andere in Haft und späterem Exil in Paris. In diesem fruchtbaren Umfeld überarbeitet er seine
Ideen und Theorien. In den 90er Jahren verfasst er gemeinsam mit dem US-amerikanischen
Literaturwissenschaftler Michael Hardt das Buch EMPIRE, in dem neue Analysen und Konzepte
zusammenfließen und das Vokabular für den neuen politischen Aktionismus unter dem Vorzeichen der
Globalisierung entsteht. Er wird zu einer Gallionsfigur der Anti-Globalisierungsbewegung. Seine
Rückkehr 1997 nach Italien schließlich ist der Versuch, das gewaltsame Kapitel italienischer Geschichte
ein für alle mal abzuschließen. Erst seit April 2003 ist Antonio Negri wieder auf freiem Fuß. Heute ist er
einer der international begehrtesten Redner. Kongresse in aller Welt haben seine Teilnahme angefragt.
Kaum jemand verkörpert derartig die Brüche und Kontinuitäten, die Niederlagen und die
Wiederauferstehung eines politischen Denkens und Handelns, das direkt aus den Erfahrungen der 70er
Jahre stammt. Kaum jemand verkörpert aber auch so stark deren Widersprüche.


HINTERGRUND
DAS ENDE EINES TRAUMS
Italien, April 1979: Innerhalb weniger Wochen werden rund 3.500
Menschen verhaftet. Sie alle gehören dem weiten Spektrum der
Autonomia, der radikalen linken außerparlamentarischen Bewegung
Italiens, an. Die politikwissenschaftliche Fakultät Paduas, deren Leiter
Antonio Negri ist, wird von Polizisten zugemauert. Eine ganze
Generation von Intellektuellen, Träumern und Militanten wird zum
Schweigen gebracht. Tausende flüchten ins Exil nach Paris oder
Südamerika. Was war geschehen?
Die Eruptionen von 1968 hatten sich in vielen Ländern Europas in nur
wenigen Monaten abgespielt, in Italien dauerten sie zehn Jahre. Hier
stellten die Ereignisse nicht nur den italienischen Staat in seinen
Grundfesten in Frage, sondern auch die kapitalistischen
Lebensentwürfe. Zehn Jahre lang treibt die Rebellion intensive und
bunte Blüten und lässt Intellektuelle und Linke aus ganz Europa sehnsüchtig auf das „Laboratorium
Italien“ blicken. Man „wollte alles“ und sogar „den Himmel erobern“. Der konservative italienische Staat
reagiert hysterisch. Die „Bewegung“ ist so stark und provokativ, dass sie sich nur durch militärische
und polizeiliche Repression unter Kontrolle bringen lässt. Die Mittel dazu sind drastisch...
FABRIK/UNIVERSITÄT/ARBEITERBEWEGUNG
Italien besitzt seit dem Zweiten Weltkrieg die stärkste organisierte Arbeiterbewegung Europas. In den
60ern entstehen Massen von Arbeitsplätzen in den neuen Fabriken von Fiat, Pirelli und Alfa Romeo.
Aber für viele der neuen, meist aus dem Süden stammenden Arbeiter sind die Arbeitsbedingungen in
den Fabriken unerträglich, gleichzeitig verschlechtern sich die Lebensbedingungen in den
explodierenden Städten. Es mehrt sich der Eindruck, dass die traditionellen linken Gewerkschaften
stärker mit den Arbeitnehmern paktieren, als mit den Arbeitern selbst.
Diese Situation liefert den Nährboden, auf dem militante Intellektuelle die Ideen einer autonom
organisierten Arbeiterbewegung verbreiten und organisieren. Einer von ihnen ist Antonio Negri. Negri,
Kind einfacher Verhältnisse aus Norditalien, dessen Vater von Faschisten ermordet wurde, hasst den
Faschismus wie den Stalinismus. Auf der Suche nach einem neuen Weg wird er Mitbegründer des
Operaismo, einer Denk-Bewegung, die in den Kämpfen der Fabrikarbeiter den Motor der Geschichte
sieht. Sein Engagement beginnt bei der Zeitschrift Quaderni Rossi und setzt sich ab 1968 bei der
außerparlamentarischen Gruppierung Potere Operaio fort, welche sich auf die Zuspitzung der Kämpfe
in den Fabriken konzentriert. Negri, der zu dieser Zeit bereits Dozent an der politikwissenschaftlichen
Fakultät in Padua ist, wird theoretischer Kopf von Potere Operaio.


Im „Heißen Herbst“ von 1969 gibt es in und vor den Fabriken von Turin und Mailand so intensive
Kämpfe, dass Arbeitgeber und Regierung gezwungen werden zu reagieren. Dies markiert den Anfang
einer unabhängigen Arbeiter- und später Frauen-, Studenten- und Arbeitslosen-Bewegung. Die
Slogans von einer Gesellschaft ohne Lohnarbeit, einer freien Gestaltung der Zeit sowie von
„proletarischer Aneignung“ und „spontaner Kollektivierung“ treffen im Laufe der 70er vor allem auch
außerhalb der Fabriken bei Studenten und Arbeitslosen auf rege Zustimmung. Es entsteht eine
Parallelkultur mit Tausenden von Zeitschriften, unabhängigen Radios und ganzen „befreiten“
Wohnvierteln. „Autonom“ bedeutet nicht nur in Opposition zur Staatsmacht, sondern vor allem auch in
Unabhängigkeit von den traditionellen linken Parteien und Gewerkschaften.
Negri zieht 1971 nach Mailand, das zum Zentrum des immer größer und heterogener werdenden
Protests wird. Frauen, Schwule, Arbeitslose, die sogenannten Stadtindianer - alles vermischt sich. Für
viele spielt die Frage der Organisation keine Rolle mehr, weil „die Revolution ja eh um die Ecke ist“.
Gleichzeitig greift die Gewalt um sich - sowohl von Seiten des Staates als auch von Seiten der jungen
Demonstranten. Negri und die anderen Köpfe der Bewegung haben schon lange die Kontrolle über die
Situation verloren...


GESCHEITERTE REVOLUTION / ESKALATION DER GEWALT/ GEFÄNGNIS
1977 ist das Jahr der großen Revolte, das Jahr eines nahezu nihilistisch gewordenen Protests, vor
allem auf der Straße. Rom und Bologna sind wegen der Straßenschlachten mehrere Monate von
Panzern kontrolliert. Aus der Autonomia spalten sich terroristische Gruppierungen ab. Zu Hunderten
gehen junge Arbeitslose oder Studenten 1976/77 zu den Roten Brigaden oder zur Prima Linea. Negri
ahnt die nahende Katastrophe. Obschon Gewaltbereitschaft bereits lange Bestandteil der autonomen
Bewegung war, lehnt er eine militärische Eskalation gegen den Staat ab. Die spektakulärste Aktion der
Roten Brigaden ist die Entführung und Ermordung des DC- Spitzenpolitikers Aldo Moro 1978. Negri
engagiert sich intensiv für eine friedliche Lösung des Konflikts, doch der hat sich bereits zu einem
absurden Krieg zugespitzt, aus dem es keinen Weg mehr zurück gibt.
Die „Bewegung“ fällt unter dem Druck der Repression in sich zusammen. Negri wird zum Staatsfeind
erklärt, die Presse bezeichnet ihn als „mostro“ und „cattivo maestro“ - als Monster und Verführer der
Jugend. Er gilt als Anführer der eskalierenden Gewalt. Eine ganze Generation landet hinter Gittern, in
den Fabriken werden alle engagierten Arbeitern entlassen.

Ab 1979 haben die Arbeitnehmer die Lage wieder unter Kontrolle. Das Ende der Bewegung bedeutet
auch das Ende linker Politik in Italien - für viele Jahre.
Nach vier Jahren Gefängnis mit Hungerstreiks, Revolten und internen Kämpfen wird Negri 1983 vom
Gefängnis aus ins Parlament gewählt. Seine Immunität wird ihm jedoch sofort wieder entzogen und er
flieht schließlich nach Frankreich. Es ist der Tiefpunkt seines Lebens...
EXIL / ERNEUERUNG DES DENKENS UND DER STRATEGIEN
Frankreich gewährt Negri und vielen anderen Aktivisten in alter Tradition politisches Asyl. Die Exil-
Szene ist groß und beginnt sich zu organisieren. Der Kontakt mit Frankreich war bereits seit den 60er
Jahren intensiv. Während der Ereignisse von 1977 hatten die bekanntesten Intellektuellen Frankreichs
(darunter Sartre, Foucault, Deleuze etc.) eine Petition an den italienischen Staatspräsidenten verfasst.
Negri arbeitet zu dieser Zeit bereits mit den Koryphäen der neueren französischen Philosophie
zusammen: Guattari, Althusser, Deleuze .... Es entstehen Freundschaften, die ihm helfen, in
Frankreich ein neues Leben aufzubauen. Im Gegensatz zu vielen anderen Exilanten, die
Schwierigkeiten haben , ohne Papiere Arbeit zu bekommen, wird Negri bald an der Université Paris VIII
lehren. Er ist wieder aktiv. Aus der Vermischung des politischen Denkens und den politischen
Erfahrungen in Italien mit der poststrukturalistischen Philosophie Frankreichs, entstehen ein neues
politisches Vokabular und neue theoretische Begrifflichkeiten. Durch die Sogkraft dieser explosiven
Mischung entwickelt sich Paris zu einer einer regelrechten Szene, die junge Intellektuelle und Militante
aus aller Welt anzieht. Einer davon ist der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Hardt,
Jahrgang 1960, der zusammen mit Negri 1992-1997 das Buch EMPIRE schreiben wird. Ein
Theoriebestseller, der im Jahr 2000 als die neue Bibel der kritischen Globalisierungsbewegung gefeiert
werden wird...

SOZIALZENTREN/ DAS ENDE DES TRAUMAS/ GENUA
Zurückgezogen in den sogenannten Centri Sociali, wie z.B.
dem Leoncavallo in Mailand, erleben die nicht inhaftierten oder
exilierten Aktivisten in Italien während der 80er Jahre eine
politische Eiszeit. Im Laufe der 90er Jahre bildet sich jedoch,
zusammen mit neuen Ideen und Gedanken, die aus
Frankreich nach Italien rückimportiert werden, die kreative
Grundlage für eine neue Protestbewegung. Sei es beim
Marsch der Zapatisten in Mexico 1994, bei den Krawallen in Göteborg, den Auseinandersetzungen in
Prag oder Genua 2001,- es ist vor allem die Gruppierung der Tute Bianche, der weißen Overalls aus
Italien, die mit ihren Aktionen und Auftritten innerhalb der internationalen Anti-
Globalisierungsbewegung für mediales Aufsehen sorgt. Die Tute Bianche verwenden das Vokabular
von EMPIRE schon vor dem Erscheinen des Buches. Kein Wunder. Denn einige der Protagonisten
dieser neuen Bewegung, wie z. B. auch Luca Casarini, sind um 1990 in Paris als Studenten, um den
Vorlesungen Negris und seines Kreises zu folgen.
Als Negri 1997 nach Italien zurückkehrt und sich der Justiz stellt, ist dies nicht nur der spektakuläre
Versuch, eines der gewalttätigsten und radikalsten Kapitel der italienischen Nachkriegsgeschichte
abzuschließen, sondern auch ein Neubeginn. Beim G8 Gipfel in Genua 2001 sowie bei den Anti-
Kriegs-Demos 2003 (3 Millionen Menschen!) zeigt sich, dass in Italien, trotz oder gerade wegen
Berlusconi, die neue außerparlamentarische Bewegung des Protestes stärker und präsenter denn je
geworden ist. Bis 2000 bleibt Negri in Haft in Rom, bis 2003 darf er unter Meldeauflagen Rom nicht
verlassen. Seit er seinen Reisepass vor wenigen Monaten erhalten hat, ist er nicht mehr zu bremsen...


DER FILM
Im Mittelpunkt des Films steht die Figur Antonio Negri - als Zeitzeuge, als Aktivist, als Person. Sein
politischer und biographischer Werdegang reflektiert leitmotivartig wie kein anderer diese Geschichte
radikaler linker Politik seit den 60er Jahren. Als Dozent, Autor und Protagonist nimmt Negri Einfluss auf
die Entwicklung der italienischen Geschichte der letzten 50 Jahre, während sein Leben umgekehrt von
der Geschichte Italiens entscheidend geprägt ist. In Negris Lebensgeschichte finden sich immer wieder
Verbindungslinien zwischen damals und heute, die exemplarisch für mehrere Generationen von
radikalen Aktivisten sind. Gleichzeitig sind Elemente seiner Theorien widerspruchsvoll und ihre
Umsetzung in reale Politik nicht unproblematisch.
Negris Biografie liest sich wie ein Thriller. Mehrere Interviews mit ihm werden sich daher wie ein roter
Faden durch den Film ziehen.
Andere Figuren - drei Generationen von politischen Aktivisten aus Italien, Frankreich und Amerika -
erzählen parallel dazu aus ihrer Sicht verschiedene Momente dieser Geschichte. Sie stehen jeweils für
besondere Zeiträume und Erfahrungen, auch für verschiedene Haltungen. Die Äußerungen Negris
werden durch die Interviews mit anderen Protagonisten, Zeitzeugen und Wegbegleitern erweitert und
kommentiert. Diese Kommentare machen vieles plastischer, nehmen aber z.T. auch kritische
Haltungen gegenüber Negri ein. Es werden so, über den persönlichen biografischen Horizont hinaus,
gesellschaftspolitische Entwicklungen deutlich.
Der Film stellt ausgehend von heute, das heißt von EMPIRE und der kritischen
Globalisierungsbewegung, Fragen an die Vergangenheit. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der
Militanz bzw. nach dem Subjekt der Revolte, nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis. Fragen zu
den Widersprüchen, die entstehen, wenn radikale Theorie auf die Straße trifft - damals wie heute.
FILMISCHE MITTEL
Die Bewegung, die Aktivität, das Herumreisen sind Kernelemente des Lebens eines Aktivisten; von
einer Stadt in die andere, von einer Aktion zur nächsten Demo etc.. Negri selbst war ständig zwischen
Universitäten, Fabriken und Versammlungen unterwegs und er ist auch heute noch ein rastloser
Mensch, vor allem, seit er seinen Reisepass wieder besitzt. Dasselbe gilt für die Aktivisten von heute.
Deshalb wird die Bewegung ein wesentliches Element auf der Gegenwartsebene des Films sein. Wir
begleiten Negri zu einigen Kongressen und Veranstaltungen in Europa. So z.B. nach Paris zum
European Social Forum, nach St. Gallen zu einem Ethik-Kongress für Manager, nach Berlin zu einem
Medienfestival und nach Porto Marghera zu einer Diskussionen mit den Militanten der Tute Bianche.
Wir begleiten auch die Tute Bianche auf einigen ihrer Aktionen.
Bewegung wird auch auf einer rein filmischen, abstrakteren Ebene ein wesentliches visuelles Element
des Film sein: Zugreisen, von einer Stadt in die andere, Reise von einem historischen/aktuellen Ort
zum nächsten. Diese Reisen signalisieren die unaufhaltsame Bewegung des Begehrens, den Drang
nach Freiheit, der laut Negri die Revolte gegen das Bestehende zu einer natürlichen Notwendigkeit des
Menschen macht.

Angesichts der Fülle des Materials wird es zur Orientierung des Zuschauers eine klare historische
Strukturierung im Film geben. Den einzelnen Blöcken der historischen Erzählung werden
menschenleere Räume vorangestellt. Historische Momente werden so an bestimmte allgemeine Orte
gekoppelt (z.B. Flughafen, Fabrik, Grenze, Gefängnismauern, Lehrsäle, Straße). Sie funktionieren wie
ein Bühnenbild und bieten eine Bühne für die Ereignisse. Größere historische Bezüge werden in
kurzen Kommentaren eingesprochen. Gegenwart und Vergangenheit werden im Film parallel erzählt.
Archivbilder spielen eine wichtige Rolle. Sie zeigen nicht nur die konkreten Ereignisse, die Negri direkt
betreffen, sondern auch Bilder der gesellschaftlichen Bewegungen, deren theoretischer Imaginator
Negri war und ist. Es sind weitestgehend Bilder, die von den Aktivisten selbst festgehalten wurden und
nur in Ausnahmefällen offizielle Nachrichtenbilder. Durch unsere Kontakte zu zahlreichen Aktivisten
haben wir Zugang zu vielen Privatarchiven. Durch atmosphärische Montage von Musik und
Archivbildern soll ein Bild der Stimmungen und des Lebensgefühls der vergangenen Jahrzehnte
vermittelt werden.
DRAMATURGIE
Der Film beginnt mit einer Einführung Negris als Erzähler und als radikaler Denker. Wenn Negri
spricht, hat man den Eindruck einem Häretiker des ausgehenden Mittelalters zuzuhören. Mit derartiger
Wortgewalt spricht er von dem Drang der Auflehnung gegen die Politik der Dummheit und von seinem
Glauben an die Schaffung einer neuen und besseren Welt. In Negris Wohnung hängt ein Rahmen
ohne Bild: „Damit die Vision des Neuen einen Platz hat“, erklärt er.
Schon im ersten Akt des Films wird Negri seine Dachwohnung in Trastevere verlassen und in seiner
aktuellen Funktion als Aktivist und Denker der Antiglobalisierungsbewegung langsam in Erscheinung
treten. Die Relevanz seines Denkens in der Gegenwart wird so ganz konkret, Schritt für Schritt, parallel
zu den Erzählungen aus der Vergangenheit sichtbar.
Die historische Erzählung beginnt mit Negris Rückkehr aus dem Exil 1997. Im ersten Teil des Films
werden die Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte der 60/70er Jahre erzählt, das Engagement, die
politische Entwicklung und das Ende. Die traumatischen Inhaftierungen, das Gefängnis, die
Verurteilungen. Langsam wird für den Zuschauer klar, was damals geschehen war.
Im zweiten Teil des Films wird das Gefängnis und die Zeit des Exils erzählt, andere Protagonisten
werden eingeführt. Es geht vor allem um die Szene in Paris, die Stimmung, die Befindlichkeit, aber
auch um die neuen Pläne und die Beschreibung dieser immer fruchtbarer und größer werdenden
Szene.
Der dritte Akt beschreibt parallel die Situation in Italien während der 80er und 90 er Jahre.
Der vierte Akt schließlich erzählt die Zeit nach Negris Rückkehr: Das erneute Gefängnis, das
Erscheinen von EMPIRE, die Ereignisse von Seattle, Genua etc., das Aufleben einer neuen radikalen
Protestbewegung. Hier schließt sich der Kreis. Gegenwartsebene und Vergangenheitsebene fließen
zusammen. Negri ist in Padua/Venedig und Mestre, wo er die Militanten vom Centro Sociale „Rivolta
Marghera“ trifft und neue Strategien für Aktionen in Rom besprochen werden. Negri wird bei einer
großen Anti-Berlusconi Demo neben zahlreichen anderen Aktivisten zu sehen sein.

DIE PROTAGONISTEN
ANTONIO NEGRI (Jahrgang 1933, Rom)
Bei unserem Besuch in Rom erzählt Negri von seinen
Plänen. Wegen des enormen Erfolgs seines Buches
EMPIRE ist er in seiner Wohnung in Trastevere in Rom
kaum mehr anzutreffen. Die überschäumende Energie des
70 jährigen ist beeindruckend.
Negri liebt es in Paradoxen zu denken, doch so komplex und
vielschichtig seine Bücher sind, so ausgezeichnet einfach
und pointiert kann er erzählen. Negri war in seinen Analysen und Prognosen vielen Kollegen immer
eine Naselänge voraus. Es ist diese Fähigkeit immer wieder von vorne zu beginnen, die ihn als
Intellektuellen auszeichnet und ihm auch in den eigenen Reihen immer wieder Schwierigkeiten
bereitet. Was ihn außerdem von anderen Intellektuellen unterscheidet, ist sein ungebrochener Hang
zur Aktion: Er kann nicht denken ohne auch zu handeln - sein Denken ist nie ohne Handeln gedacht.
Das ist faszinierend aber zum Teil auch sehr widerspruchsvoll. Einige dieser Widersprüche treten in
den Aussagen seiner Freunde und ehemaligen Weggefährten hervor.
ALISA DEL RE (Jahrgang 1944, Padua)
„Es ist Tonis Kompromisslosigkeit und seine Fähigkeit
Menschen zu begeistern, die ich an ihm bis heute
bewundere“, meint Alisa del Re. Sie ist Dozentin an
derselben Fakultät in Padua, an der Negri in den 70ern
lehrte. Dezent spricht Alisa vom Denken Negris und von
den Schwierigkeiten und Gefahren, seine Visionen in
Realpolitik umzusetzen.
Damals wurde sie nach dem Studium Negris
wissenschaftliche Mitarbeiterin und erlebte die Zeit des Aufbruchs, in der die Uni von Padua ein
intellektuelles Zentrum war. Mit Begeisterung spricht sie von dem besonderen Geist, der damals
herrschte. Man lehrte und lernte gemeinsam. Militanz bedeutete konkret und gemeinsam an dem
„Projekt der Revolution“ zu arbeiten. Alisa del Re wird 1979 wie der gesamte Lehrkörper der Fakultät
verhaftet. Der verheirateten Mutter von zwei Kindern ist der bewaffnete Kampf so fremd wie nur etwas.
Nach zwei Jahren Gefängnis ohne Gerichtsurteil wird sie freigelassen. Als eine erneute Verhaftung
droht, flüchtet sie mit ihren kleinen Kindern nach Frankreich. Sie schlägt sich anfangs mit
Sprachunterricht durch, dann kann sie an der Universität unterrichten. Schließlich wird sie
freigesprochen. Wie viele Frauen ihrer Generation engagiert sie sich, damals wie heute, in der
feministischen Bewegung. Sie ist mit Negri freundschaftlich verbunden, doch ihr Engagement ist bis
heute eher konkret praktisch und an den Erfordernissen der Wirklichkeit orientiert.



ALFONSO MARICELLI (Jahrgang 1948, Salerno)
Alfonso erlebt die Zeit der großen Arbeiterkämpfe 1969 in
Turin bei Fiat. Er kam nur wenige Monate vor den großen
Streiks aus Süditalien, weil er dachte im Norden „da glänzt
alles“. In seiner witzigen, lebendigen Art erzählt er von den
wilden Streiks, von den Konflikten mit den
Gewerkschaften, den Schlägereien mit den Vorarbeitern
und dem gemeinsamen Gefühl der Stärke. Es ist genau
dieses Empfinden, die Unerträglichkeit in der Fabrik und
der Verhältnisse, die ihn und zehntausende Arbeiter dazu bringen, spontan Tumult und Aufstand
gegen die Fabrik zu machen. Alfonso war kurze Zeit bei Potere Operaio. Man wollte alles
umschmeißen, nicht nur die Fabrik, auch die Welt. Alfonso ging nach den Ereignissen vom Herbst
1969 und den „Schlachten“ vor den Toren von FIAT wieder zurück nach Salerno. Er ist zur Zeit in einer
Bürgerinitative gegen den Bau eines Kraftwerks engagiert. „Doch da geht es nicht um große Politik,
sondern um das nackte Überleben“, sagt Alfonso lachend.
FRANCO BERARDI (Jahrgang 1949, Bologna)
Franco Berardi, genannt Bifo, ist eine der schillernsten
Figuren, die die 70er Jahre in Italien hervorgebracht
haben. Anfang der 70er noch gehörte er zu Potere
Operaio. Dort wurde ihm recht schnell klar, dass seine
Vorstellungen von einer kreativen, offenen Form von
Politik und Engagement nicht mit den auf Organisation
ausgerichteten Positionen der „Genossen“ zusammen
passen. Eine harte Auseinandersetzung mit Negri blieb damals nicht aus. Trotzdem blieb er dem
operaistischen Denken nahe. Bifo erkannte bereits früh, dass man neue Formen der politischen Aktion
entwickeln muss. Daher gilt seine Aufmerksamkeit noch heute den Medien und
Repräsentationsmechanismen. Er ist die treibende Kraft hinter Radio Alice in Bologna, der Mutter aller
Piratenradiostationen der 70er und gründete die dada-politische Zeitung a/traverso, eines der
wichtigsten Sprachrohre der Bewegung. Er arbeitet zur Zeit an dem Projekt Telestreet, in dem
Medienaktivisten von Bologna in einem Netzwerk von Straßen- und Viertelfernsehen verbunden sind.



SERGIO BIANCHI und PINO TRIPODI (Jahrgang 1955/1956, Rom/Mailand)
... sind Freunde aus den Zeiten der Autonomia im Mailand
der 70er. Pino kommt 1974 als 18jähriger Student von
Kalabrien nach Mailand, angezogen von der „Bewegung“
und den Ereignissen im Norden. Sergio ist etwa gleich alt.
Die beiden gehören nur lose der Autonomia an, denn
keiner von beiden verspürt das Bedürfnis, eine Partei oder
ähnliches zu gründen. Für sie war die Revolution, mit der
alles anders wird, um die Ecke. Sie beschreiben den permanenten Ausnahmezustand, der in Mailand
damals herrschte. Ganze Viertel, z.B. das Quartiere Ticinese, werden besetzt und über Jahre von der
„Bewegung“ kontrolliert. „Was man braucht nimmt man sich einfach, ohne eine Lira zu bezahlen“,
erzählt Pino. Die autonome Bewegung hatte die Stadt unter Kontrolle, auch mit spontaner Gewalt. Die
beiden erleben das tragische Ende der „Bewegung“. Sergio sitzt –
sozusagen unschuldig - mehrere Jahre im Gefängnis; er durchlebt die
Gefängnisrevolten von Trani, die Auseinandersetzungen zwischen
Terroristen und solchen, die sich ganz klar von der Gewalt distanzierten.
Pino arbeitet am Aufbau und der Entwicklung des großen Centro Sociale
Leoncavallo mit.. Beide halten den Kontakt nach Paris, wo viele ihrer
Freunde im Exil verharren. Negri beschreiben sie als sehr einflussreiche
Stimme, die für beide persönlich enorm wichtig war und ist.
YANN MOULIER BOUTANG (Jahrgang 1935, Paris)
Boutang und Negri kennen sich aus der Zeit des regen Austauschs zwischen Frankreich und Italien.
Schon in den frühen 70ern war das Interesse französischer Intellektueller an dem verlängerten
italienischen ’68 groß. Boutang half Negri nach dessen Flucht 1983 im französischen Exil
„anzukommen“. Und während die italienischen Genossen noch der verlorenen Revolution nachtrauern,
began man hier bereits neue Projekte in Angriff zu nehmen. Das Zeitungsprojekt Futur antérieur wird
1990 zum Sprachrohr der Theorien und Untersuchungen, die Negri gemeinsam mit anderen
durchführt. Boutang kennt die italienische Exilszene in Paris ausgezeichnet.

MICHAEL HARDT (Jahrgang 1960, USA)
Es ist die besondere Mischung aus französischer Philosophie und
italienischer Militanz, die Paris seit Ende der 80er Jahre zu einem
Anziehungspunkt für Intellektuelle aus aller Welt macht. Negris Wohnung
in Paris ist längst ein Treffpunkt für Aktivisten und Intellektuelle
geworden. Einer von ihnen ist Michael Hardt, junger Professor für
Komparatistik an der Duke University. Er kommt von New York nach
Paris, um Negris Spinoza Buch ins Englische zu übersetzen. Er bleibt
und zusammen schreiben sie an dem großen Entwurf von EMPIRE, der
die neue Konzepte zur globalen Herrschaft, Veränderung der
Arbeitsprozesse, und dem Entstehen einer neuen widerständigen
Bewegung zusammenführt. Es dauert lange bis EMPIRE bei Harvard Press veröffentlicht wird. 2000 ist
es soweit. Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn ein knappes Jahr nach Erscheinen der englischen
Originalausgabe wird es fast zu einer Vision der Ereignisse von Genua.
LUCA CASARINI (Jahrgang 1967, Mestre/Venedig)
Luca Casarini ist der nicht medienscheue Sprecher der
Gruppe der Tute Bianche/Dissobiendienti. Negri steht in
direktem Kontakt zu der Gruppe. Er erscheint in ihrem
Centro Sociale Rivolta immer wieder zu
Strategiediskussionen oder Seminaren. Luca und Antonio
Negri kennen sich aus Paris. Luca erzählt von den
Erfahrungen im Paris der frühen 90er, wo er Negris
Vorlesungen besuchte und von den ersten gemeinsamen
Projekten, die während des Metropolenstreikes 1995 in Angriff genommen wurden. Die Konzepte der
Negri’schen Theorie von Empire, Biopolitik, Biomacht, immaterieller Arbeit und Multitude finden durch
Luca und andere direkten Eingang in das Vokabular und die politischen Aktionen der Tute
Bianche/Dissobiendienti. Ihr Centro Sociale Rivolta liegt inmitten eines ausgedehnten
Industriekomplexes in Mestre, einem Vorort von Venedig, nur 20 Minuten von Padua entfernt. Man ist
stark auf lokaler Ebene engagiert und kämpft auf verschiedensten Ebenen gegen soziale
Ungerechtigkeiten und für Selbstbestimmung. Von hier aus fahren die jungen Aktivisten aber auch zu
Protestaktionen in alle Welt, wie zum European Social Forum in Paris.


ZIEL
Uns interessiert es herauszufinden, was Menschen ihr Leben lang dazu antreibt, sich für eine
bessere Gesellschaft einzusetzen. Negri konfrontiert die gegenwärtigen Gesellschaft auf
analytische wie leidenschaftliche Weise mit einer fundamentalen moralischen und ethischen
Kritik. Er ist ein radikaler Intellektueller, der zum Handeln aufruft. Er wurde und wird dabei von
vielen Aktivisten beim Wort genommen. Warum sind Figuren wie Negri heute wieder so
gefragt?
In der Begegnung mit Protagonisten aus verschiedenen Generationen möchten wir
herausfinden, auf welche Weise die Erfahrungen der Revolte der 70er die gegenwärtigen
globalen Protestbewegungen beeinflussen, aber auch wie sie sich unterscheiden.
STAND DES PROJEKTS
Wir haben dieses Thema bereits seit einigen Jahre verfolgt. Antonio Negri und alle anderen
Protagonisten haben ihre Mitarbeit an dem Projekt zugesagt. Wir stehen in kontinuierlichem
Kontakt zu ihnen. Das Bedürfnis, diese Geschichte zu erzählen ist sehr groß, schon deshalb,
weil das Thema in Italien wegen des traumatischen Ausgangs von 1979 immer noch so gut wie
unbearbeitet ist.
Es gibt eine Aufzeichnung des Interviews, das Negri vor seiner Rückkehr nach Italien in seiner
Wohnung gegeben hat (Retour vers le future). Das Archivmaterial befindet sich im Archivio
Audiovisivo del Movimento Operaio e democratico in Rom bzw. in privaten Archiven, zu denen
wir Zugang haben. Wir konnten weiterhin Thomas Atzert, den Übersetzer von Negris Schriften
ins Deutsche, als wissenschaftlichen Berater für das Projekt gewinnen.

 

19.11.2004
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