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Deutschland: Nazis auf Montagsdemos

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"Alles, was ich will, ist, die Regierung stürzen"?

Seit Mitte Juli wird in zahlreichen Städten mit so genannten
Montagsdemonstrationen gegen das Hartz-IV-Programm protestiert. An den
Demonstrationen nehmen regelmäßig auch größere Neonazi-Gruppen teil; in
manchen Städten (Köthen, Weissenfels, Merseburg) treten sie sogar als
Organisatoren und Anmelder der Demonstrationen auf. Zu den
Anti-Hartz-Protesten und ihren rechten Sympathisanten:


"Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." – Diese grausige Formel aus dem
Repertoire des Leninismus ist das inoffizielle Motto des
Hartz-IV-Programmes. Hartz IV trägt nicht nur zur Verschlechterung der Lage
zahlreicher Arbeitsloser und Sozialhilfeempfänger bei. Das Programm bedient
zugleich den Neid all derer, die ihre verdrängten Sehnsüchte (Müßiggang,
Untätigkeit und Genuss) ausgerechnet auf die Ärmsten, auf die Empfänger von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe, projizieren. "Während wir schuften", so
lautet die weit verbreitete Vorstellung, "liegt der 'Sozialschmarotzer' auf
der faulen Haut und genießt sein Leben."

Die Proteste gegen Hartz IV zeigen jedoch, dass diese Zuschreibungen in der
Tat nichts als Projektionen sind. So fordern die Demonstranten (leider!)
weder das Recht auf Genuss, Müßiggang und Faulheit noch die Wahrung oder
Verbesserung ihres Lebensstandards, d.h. die Erhöhung von Sozialhilfe und
Arbeitslosengeld. Ihre zentrale Forderung lautet vielmehr: Arbeit!
Demonstranten führen in Interviews aus, dass Arbeit etwas mit Menschenwürde
zu tun habe, auf Transparenten wird "Arbeit statt Almosen" gefordert, und
arbeitslose Akademiker erklären, dass sie auch als Straßenkehrer arbeiten
würden. Damit haben die Proteste zugleich etwas zutiefst deutsches: Während
französische Erwerbslose "eher materielle Verbesserungen einforderten", so
umschreiben Holger Schatz und Andrea Woeldike die Protestaktivitäten der
letzten Jahre, "stand hierzulande die Parole 'Her mit den Arbeitsplätzen'
auf dem Programm". Mit anderen Worten: Arbeit wird in Deutschland nicht als
notwendiges Übel begriffen, sondern als Sinn des Lebens. "Arbeite nicht um
zu leben," so verkehren die Montagsdemonstranten einen sympathischen
Kalenderspruch, "sondern lebe um zu arbeiten." Wenn die Hartz-Gegner
schließlich nicht müde werden zu betonen, sie würden auch Tätigkeiten
übernehmen, die weit unter ihrer eigentlichen Qualifikation liegen,
signalisieren sie, dass ihr Protest von einem ähnlichen Motiv getragen wird,
wie das Handeln der Hartz-Befürworter: der Abneigung gegen Untätigkeit,
Nichtstun, "Drückeberger" und "Schmarotzer".

Diese Abneigung ist zugleich der Grund für das vermeintlich
regierungskritische Auftreten der Montagsdemonstranten. Auf Politiker,
Manager, Aufsichtsratsmitglieder etc. werden die gleichen verdrängten
Sehnsüchte projiziert, wie auf Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. "Die da
oben", so wird bei den Demonstrationen regelmäßig halb neidvoll, halb
verächtlich kritisiert, seien unproduktiv, würden faul in der Sonne liegen
und von "anderer Hände Arbeit" leben. Sie seien Schuld am
"Arbeitsplatzmangel", nicht an den Problemen der "kleinen Leute"
interessiert und würden nur an sich selbst denken.

In diesen und weiteren Ressentiments erkennen die Neonazis, die sich seit
einigen Wochen an den Montagsdemonstrationen beteiligen und teilweise sogar
als Anmelder fungieren (Merseburg, Weissenfels und Köthen), ihre eigenen
Gedanken wieder. Sie teilen mit der Mehrheit der "normalen" Demonstranten
nicht nur den positiven Bezug auf Deutschland, das "deutsche Volk" und die
"deutsche Wirtschaft". (Die Hartz-Gegner beschweren sich regelmäßig über den
Zustand des "Standortes Deutschland", werfen Politikern
"Gemeinwohlschädlichkeit" und "Verrat am Volk" vor – und zeigen damit
zugleich, dass sie Arbeit nicht zuletzt als einen "Dienst an der
Gemeinschaft" verstehen.) Auch die Verherrlichung "produktiver Arbeit" und
der damit verbundene Hass auf Unproduktivität und Müßiggang erinnern an
eines der zentralen Ideologiestücke des Nationalsozialismus: die
Unterscheidung in "schaffende" und "raffende" Arbeit bzw. "schaffendes" und
"raffendes" Kapital. Die Produktionssphäre wird nicht als Kern des
kapitalistischen Wirtschaftssystems begriffen. "Ehrliche Arbeit" wird
vielmehr als positives Gegenbild zur Zirkulationssphäre (Banken und Handel),
geistiger Tätigkeit und Genuss propagiert. Darüber hinaus wird die
Akkumulation des Kapitals nicht als gesellschaftlicher Prozess verstanden,
der sich quasi subjektlos vollzieht. Alle als negativ empfundenen
Erscheinungen werden auf das hinterhältige Agieren einer Clique böswilliger
Schmarotzer zurückgeführt. Der derzeitige "Arbeitsplatzmangel" wird
dementsprechend nicht als Ausdruck der Krise der warenproduzierenden
Gesellschaft erkannt, sondern vor allem auf persönliche Unfähigkeit,
Verantwortungslosigkeit oder Bösartigkeit einer bestimmten Menschengruppe
zurückgeführt. Während die Nazis diese Personen in alter deutscher Tradition
als Juden identifizieren ("schaffende" Arbeit wird hierzulande seit Luther
als etwas deutsches, "raffen" als etwas jüdisches begriffen), beschränkt
sich die Mehrzahl der Demonstranten einstweilen auf Parolen gegen
egoistische, macht- und raffgierige Politiker, Wirtschaftsbosse und
Bankiers.

Besorgniserregend sind auch die weiteren – wenn auch zunächst nur kryptisch
auf Transparenten, in Sprechchören und Interviews formulierten –
gesellschaftspolitischen Idealvorstellungen der Demonstranten. Zwar gibt
sich die Mehrheit der Hartz-Gegner regierungskritisch. Ihr Ansprechpartner
ist jedoch ein zur Zeit noch imaginärer starker Staat, in dem "die Politik"
nicht von der Wirtschaft bestimmt wird, Partikularinteressen ausgeschaltet
sind und Sorge dafür getragen wird, dass deutsche Unternehmer in
Deutschland, und nicht in Tschechien, Polen oder Thailand investieren. Das
Gros der Demonstranten verlangt damit nach einer Art "Volksgemeinschaft"
(Motto: "Gemeinnutz geht vor Eigennutz"), in der Arbeit und Kapital
gemeinsam zum Wohle des Ganzen – Deutschlands und des "deutschen Volkes" –
agieren.

Anders als von linken Sympathisanten der Proteste immer wieder behauptet
wird, versuchen die Neonazis also nicht, die Montagsdemonstrationen für ihre
Zwecke zu "missbrauchen". Sie erkennen vielmehr das nationalistische
Potential, das in ihnen steckt.

AfA Halle,
August 2004


 

19.08.2004
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