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Magdeburg: Bewegungssplitter - Montagsdemo

Bewegungssplitter: Montagsdemo in Magdeburg

von AG Frauen gegen Sozialabbau
(gefunden auf  http://de.indymedia.org)

Bericht und Einschätzungsversuch zu Protesten gegen Hartz IV in Magdeburg
Bewegungssplitter - Magdeburg Montags

Versuch der Bewertung eines Phänomens

Am 02 August fand in Magdeburg bereits zum dritten Mal eine sogenannte Montagsdemonstration gegen die Arbeitsmarktreformen statt. Nachdem in den zwei Wochen zuvor zunächst 200 hernach etwa 600 Menschen teilgenommen hatten, waren es am vergangenen Montag nach Angaben der Polizei 6000 Teilnehmer/innen. Der Zug bewegte sich auf der Route der Demonstrationen des Jahres 1989 vom Domplatz zum Hauptbahnhof. Dominierende Parole der Demo war : Wir sind das Volk. Zufall ?

Sturm im Wasserglas ?

Anmelder und Organisator der Demonstration ist eine Privatperson aus dem Landkreis Jerichower Land, ein Mann der selbst seit Jahren arbeitslos ist und bisher in keinem politischen Kontext organisiert war / ist. Er selbst zeigte sich überrascht von der Zunahme der teilnehmenden Demonstrant/innen. Und in der Tat schienen vor wenigen Wochen diese Proteste fast undenkbar, da bisherige Aufrufe nie mehr als ein paar Dutzend Menschen mobilisierten. Die Ursachen für diesen Umschwung können nur vermutet werden : in den letzten Wochen bekamen viele zukünftige ALG II Empfänger die Antragsunterlagen übersandt und wurden zudem über die Medien mit immer neuen Horrormeldungen überschüttet. Nach Schätzungen von Experten sind in Sachsen Anhalt ca. 200 000 Personen von ALG II betroffen. Hiervon sollen nach Angaben der Wohlfahrtsverbände fast 30% von Kürzungen betroffen sein, da Partnereinkommen etc. zur Anrechnung kommen. Wie hoch der Prozentsatz derer liegt, die nach den neuen Verordnungen nichts mehr erhalten werden, gilt als unklar. Im Moment liegt die Arbeitslosigkeit in Sachsen Anhalt bei 20%. Glaubt man medial vermittelten den Stimmen einiger Teilnehmer, so hat sich unter diesen eine Mischung aus Angst, Wut und Euphorie angestaut, die in den kommenden Wochen auf die Strasse getragen werden soll. Zitat : „Wir gehen so lange auf die Strasse, bis Hartz IV kippt“ (Quelle : Tonmitschnitt mdr – Info) Ob sich die Entwicklung verstetigen wird, ob und wie Organisierungs- und Politisierungsprozesse entstehen, oder die Mobilisierung im Falle kleiner Zugeständnisse der Regierung bei der Umsetzung von Hartz IV wieder zusammenbricht, ist nach so kurzer Zeit schlichtweg nicht zu beurteilen.


Wer geht eigentlich auf die Strasse ?

Natürlich liegt hierzu keine soziologische Untersuchung vor. Vorerst müssen Beobachtungen zu einer vorsichtigen Beurteilung herangezogen werden. Hier lässt sich mit verlässlicher Sicherheit nur sagen, dass die Mehrheit der Teilnehmer offenbar seit der Wende nicht mehr an einer Demonstration teilgenommen hat, entweder arbeitslos ist oder um ihren Arbeitsplatz fürchtet, und in der Regel Arbeiter und Angestellte sind (vgl. Volksstimme 4.08.04 Magdeburger Lokalanzeiger) Das Erscheinungsbild der Demonstration unterschied sich jedenfalls gründlich von dem der linksradikalen oder auch gewerkschaftlichen Demonstrationen der letzten Jahre : keine Ordner, viele selbstgemalte Transparente, keine Lautsprecher, keine Kundgebung mit Reden. Stattdessen dominieren ganz normale Leute mit Fahrrädern, Kinderwagen oder in Arbeitskleidung den Zug. Auch wurde für diese Demonstration offenbar über Mund zu Mundpropaganda mobilisiert und nicht über Plakate, Aufruftexte etc.
Kalt erwischt


. . . hat es ohne Zweifel die Gewerkschaften. Denn sie spielten zumindest bisher in Magdeburg bei der Mobilisierung und der Demonstration keine Rolle. Offenbar haben sie, ebenso wie die disparate Linke, die Dynamik der bisherigen Entwicklung unterschätzt. Ein weiterer Grund dafür, warum die Gewerkschaften Nachdem Protesten am 3. April in Berlin hatte der DGB für den Fall der Umsetzung von Hartz IV vor allem auf individuelle Rechtsberatung gesetzt. Die Mobilisierungsschwäche zum 1. Mai schien dieser Intention recht zu geben, da nur wenige hundert Menschen landesweit an Kundgebungen und Demonstrationen teilnahmen. Inzwischen ist jedoch beim DGB hektische Betriebsamkeit ausgebrochen. Man versucht wieder Einfluss auf den Lauf der Dinge zu bekommen. Ob es der Gewerkschaft gelingt ihre kanalisierende, integrative und radikale Spitzen brechende Funktion auszufüllen, ist im Moment nicht zu beurteilen.

Medien

Bisher betätigen sich die regionalen Medien noch Multiplikatoren des Protests. Beachtenswert ist jedoch die Wiedergabe der Inhalte und Forderungen der Demonstration in einigen Medien. Wo Teilnehmer die Rücknahme des Hartzgesetzes fordern, vermitteln manche Medien den Eindruck, den Demonstranten ginge es nur um Korrekturen bei den Auszahlungsmodalitäten etc. Medien wie der MDR bedienen zudem sehr stark den Vergleich mit den Mobilisierungen von 1989, eine Einschätzung die weniger auf inhaltlichen Analyse, denn auf Bildern zufußen scheint.

Neonazis

Wie im vergangen Jahr bei den Demonstrationen gegen den Irakkrieg gelang es am 2. August einer Gruppe von ca. 80 Neonazis, sich durch ihr, im Gegensatz zu den unorganisierten Teilnehmer/innen, koordiniertes Auftreten an die Spitze der Demonstration zu setzen. Dies wurde von der überwiegenden Mehrheit der Teilnehmer zumindest toleriert. Die Nazis trugen ein Transparent mit der Aufschrift Wir sind das Volk und verteilten Flugblätter, in denen Flüchtlinge und Migranten einerseits, dem Zitat „liberalkapitalistischen System“ andererseits die Schuld für die Entwicklung gegeben wurde. Der Text ist bei www.radio-freiheit.com einsehbar. Als linke Jugendliche die Neonazis in die Schranken weisen wollten, wurden sie daran von der Polizei gehindert. Es besteht die Gefahr, das Neonazis das Bild der Demonstration dominieren können. Ob ihnen dies auch inhaltlich gelingt, hängt von den Demonstrant/innen ab. Reagieren diese weiterhin mit Gleichgültigkeit oder gar mit Zustimmung, könnte sich anbahnen, was einige Linke fürchten : soziale Proteste von rechts.

Mehr als Sommerloch ?

Einige Aktivist/innen fürchten, der Zeitpunkt der Proteste im Sommerloch führe dazu, dass die Politik die Proteste einfach aussitzt und abwartet, bis diese sich zum Wiederanfang des Politbetriebs in Berlin gelegt haben. Für Einschätzungen ist es noch zu früh. Viel wird davon abhängen, ob sich der offenbar im Entstehen begriffene Aufbruch in Ostdeutschland stabilisiert, selbstständig organisiert und sich weder spalten noch dominieren oder vereinnahmen lässt : weder von der PDS, noch von Gewerkschaften oder den Neonazis. Die Mentalität der Protestierenden bereits jetzt als Ausschließlich ostzonal-völkisch-dumpfbackig zu denunzieren, geht fehl. Auch Revolutionshoffnungen sind fehl am Platze. Offenbar ist es nicht mehr, aber auch nicht weniger als Wut und Angst, die Menschen auf die Strasse treibt. Es ist an der Linken diese Proteste skeptisch konstruktiv zu unterstützen.

AG Frauen gegen Sozialabbau; Magdeburg

 

10.08.2004
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