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Halle: Bericht vom 4. bis 6. Prozesstag des 129a-Verfahrens gegen drei Magdeburger

129a Verfahren gegen Marco, Daniel und Carsten
Prozeßbericht vom 4. Prozeßtag, 4. 11. 2003

„Ich kenne nur Stupide ... und die sitzen da oben“

Der Saal war voll, die Stimmung war gut und Ri Henning überraschte uns
gleich am Anfang:

Carsten wurde vorgeworfen während der letzten Verhandlung im Rahmen
eines
LKA-Gutachten in dem es u. a. um Stoppine ging den Satz „Ich kenne nur
Stupide .. und die sitzen da oben“ an die weiteren Angeklagten
geflüstert zu
haben.
Ri Grimm hat das angeblich gehört und fühlte sich wohl beleidigt
weswegen er
es dem Vors. Ri steckte. Gegen C. wurde wegen Missachtung des Gerichts
eine
Ordnungshaft von 2 Tagen verhängt.
Der Vors. Ri verwarnte das reagierende Publikum .

Der Zeuge B. wurde vernommen. B. war mit RA Franke als Zeugenbeistand
gekommen und verlas eine Erklärung in der er ankündigte aufgrund des §55 keine Aussagen zu machen, da er selbst Beschuldigter ist. Auch erklärte er wie es zu den Aussagen vor Staatsanwalt Dr. Hornick gekommen war. Durch den Beamten des BKA Müller war B. enorm unter Druck gesetzt worden in Bezug auf seine Homosexualität. Müller meinte, dass er bei Ermittlungen in B.s
Umfeld ganz sicher den Großeltern von B. stecken müßte, welche sexuelle Neigung B. hat und diese damit sicher Probleme hätten. Ebenso unangenehm würde es B. sicher seinen Kommilitonen gegenüber sein.
BKA Müller forderte ihn zur Aussage auf mit dem Hinweis, dass auch eine Durchsuchung seines Arbeitsplatzes in Handschellen keinen guten Eindruck auf seinen Arbeitgeber machen würde.
B. erklärte dazu, hierin eine Erpressung zu sehen woraufhin BKA Müller meinte, es seien lediglich Entscheidungshilfen. Diese Entscheidungshilfen wurden wiederholt vor Dr.Hornick . Über diese Verhörmethoden schrieb er ein Gedächtnisprotokoll welches er am 11.04.03 Carsten geben wollte, wobei
er verhaftete wurde mit Hilfe von Handschellen und Strumpfmütze, die ihm
über den Kopf gezogen wurde. Angeblich wäre mit ihm eine erkennungsdienstliche
Maßnahme vereinbart gewesen. Sein Gedächtnisprotokoll wurde ihm
abgenommen.
Seine Aussage vor dem Staatsanwalt wurde ihm vorgelegt. Er sollte die
korrigieren und unterschreiben, was er nicht tat.

Dazu wurde BKA Müller ebenfalls in den Zeugenstand gerufen. Er
bestätigte im
Grunde die Erklärungen von B. auch wenn er bemüht war betont
freundlichere
Worte zu finden.

Ri Hennig schien aber ebenfalls überzeugt, dass die Aussagen von B., auf

diese Weise zustande gekommen wertlos waren.

Carstens Verteidiger Ulrich von Klinggräf stellte den Antrag auf
Aufhebung
des Haftbefehls gegen Carsten, da dieser auf Grund der Aussagen von B.
festgenommen worden war. Darüber wurde noch nicht entschieden und
zunächst
hielt sich auch die Staatsanwaltschaft mit einer Entgegnung zurück.

Dreieinhalb Stunden, unterbrochen von einer einstündigen Mittagspause,
gab
es Mitschnitte der abgehörten Telefonate zu hören. Es war stellenweise
sehr
sehr langweilig und brachte weniger als nichts, falls damit was bewiesen

werden sollte.

Am Ende entgegnete Staatsanwalt Dr. Hornick dass er am Haftbefehl gegen
Carsten mit Verweis auf die Anklageschrift festhalte. Außerdem wäre auf
einem
Konzeptblatt des „Autonomen Zusammenschluszes“ (AZ) Carsten als Mitglied
verzeichnet UND da wäre auch noch die Frequenzliste die bei Carsten
gefunden worden war, die zum Abhören des Polizeifunks benutzt wird!

Ri. Hennig wird später darüber entscheiden.


5. Prozeßtag, 5.11.2003

Der 5. Prozeßtag begann gleich mit jeder Menge Aufregung. Nachdem die
zahlreich erschienenen ZuschauerInnen die drei Angeklagten freudig und
lautstark begrüßt hatten, betraten die RichterInnen den Saal. Leider war
den Anwesenden – anders als dem Senat – die Notwendigkeit
feudalistischer Ehrerbietungen nicht gegenwärtig und so blieben, wie
bereits an den Tagen zuvor, fast alle sitzen und warteten gespannt auf
den Fortgang der “Wahrheitsfindung”. An diesem Morgen bestand der Vors.
Richter Hennig jedoch darauf, daß seinem schweren Job die notwendige
rituelle Würdigung zuteil wird und forderte die ZuschauerInnen auf, ihre
“Astralkörper” zu erheben. Dies taten natürlich alle sofort, da jed=
och
dem Richter Hennig offensichtlich das spirituelle dritte Auge fehlte,
sah er nur die sitzenden materiellen Hüllen der Anwesenden. Er verfügte
daraufhin, daß alle, die sitzen geblieben waren, aus dem Saal zu
entfernen sind und für den laufenden Prozeßtag Hausverbot erhielten.
Schade für die zahlreich angereisten GenossInnen aus anderen Städten,
die bereits nach ein paar Minuten wieder die Heimreise antreten mußten.
Trotzdem: Danke, daß Ihr da gewesen seid.
Bevor jedoch die schwarzgekleideten Justizbeamten teilweise recht rüde
zur Tat schreiten konnten, mußten noch schnell die drei Angeklagten,
wahrscheinlich nur zu ihrem eigenen Schutz, wieder in Handschellen
gelegt und aus dem Raum geführt werden. Nur ein einzelner Angehöriger
durfte vorerst dem Justiz-Schauspiel weiter beiwohnen. Recht schnell
fanden sich dann jedoch noch einige Leute, die den verwaisten Saal
wieder etwas auffüllen konnten. Diese warteten jedoch vergeblich darauf,
daß der Senat seine Entscheidung zum Antrag auf die Entlassung Carstens
aus der U-Haft verkünden würde. Stattdessen wurde der restliche Tag mit
dem Verlesen diverser Schriftstücke verbracht. So konnte man u.a. noch
einmal einem alten Radi-Beitrag zur Organisationsfrage lauschen; erfuhr
etwas darüber, wie sich die Soligruppe gründete; bekam einen Einblick in
die Struktur und Arbeitsweise des angeblich so hoch konspirativen AZ und
erfuhr, daß einer der drei Genossen gerne Kekse ißt, wie er auf einer
für die Staatsanwaltschaft sehr wichtigen Schreibtischunterlage vermerkt
hat. Zu jedem handschriftlichen Papier wurden darüber hinaus noch
Gutachten verlesen, die eine Urheberschaft der Angeklagten beweisen
sollen, worauf Staatsanwalt Hornick in Strebermanier auch immer hinwies,
wenn dies vom Richter einmal übersehen wurde. Auch am nächsten Prozeß=
tag
wird es zunächst mit dem Verlesen weiterer Texte weitergehen.

Prozessbeobachtung 6. Prozesstag

Auch an diesem Tag musste Richter Hennig zu allererst wieder seine
Position im Gerichtssaal festklopfen und belehrte Daniel und Marco
darüber, dass, sollten sie weiter die “Spielregeln” des Gerichts
missachten und während der Verhandlungen miteinander reden, sie durchaus
mit Bestrafung zu rechnen hätten.
Sofort danach gingen die ZeugInnenvernehmungen los. Als erste Zeugin
wurde eine Landtagsabgeordnete, danach die Verlobte von Carsten
vernommen. Hennig stellte sehr konkrete Fragen zu Datum und Rahmen des
eigentlichen Verlöbnisses, fragte, wann die beiden heiraten wollten usw.
Dann machte er ihr noch mal deutlich, dass Verlöbnisse nicht auf die
leichte Schulter genommen werden sollten: “Anständige Leute” würden
nämlich nach Ende des Prozesses und mögl. Ende der Beziehung nicht ihr
Wissen gegeneinander nutzen, aber könne man das in diesem Fall erwarten
– offene Fragen des Richter Hennig!?
Der Senat erkannte jedenfalls das Verlöbnis nicht an, weshalb die
Verlobte nun noch einmal zum nächsten Mittwoch vorgeladen wurde und in
diesem Fall kein Zeugnisverweigerungsrecht nach §52 gelten machen kann.
Auch die anderen Verlobten mussten sich ähnlichen Fragen aussetzen. Nach
Befragung der Eltern zu diesem konkreten Punkt von Daniel und Marco
wurde jedoch deren Verlobung anerkannt und sie konnten ohne Probleme als
Angehörige die Aussage verweigern.
Wenig später wurde die Sachverständige des LKA vernommen, die die
Fingerabdrücke auf dem Paket gesichert und ausgewertet hat. Allein auf
dem Stückchen, was wegen der Größe des Pakets zur Untersuchung
herausgetrennt wurde, befanden sich noch zwei weitere Abdrücke. Auf dem
restlichen Paket befanden sich ebenfalls weitere Abdrücke, die aber
nicht verwertbar waren. Klargestellt werden konnte nur, dass die anderen
Abdrücke nicht von Daniel stammen. Nachdem der Abdruck von Daniel
gefunden wurde, wurden die anderen Spuren auch nicht mehr verfolgt, da
die Behörden dafür ein weiteres Gutachten hätten anfordern müssen. =
Der
Staatsanwalt wies angesichts dieser unangenehmen Aussage ausdrücklich
und wiederholt darauf hin, dass er von den anderen Spuren ja nichts
wusste, weil davon nichts im Gutachten stand. Deshalb konnte er eben
auch nicht in diese Richtung ermitteln.
Nach der Mittagspause wurden etliche Notizzettel mit Autokennzeichen,
Polizeicodes, dem Schriftzug KGW usw. vorgelegt und diverse Texte der
Militanten Gruppe (mg) aus der Interim zum Thema Militanz sowie die
Auflösungserklärung, die bei Marco gefunden wurde, verlesen.
Dazwischen wurden vier weitere Zeugen vernommen, die aber einerseits nur
gefragt wurden, ob ihnen die Täter der Brandanschläge bekannt seien und
woher sie die Angeklagten kennen, und andererseits mit Verweis auf §55
(Selbstbelastung) die Aussagen verweigern konnten. Eine seltsame
Begebenheit in diesem Zusammenhang war die Vernehmung des einen Zeugen,
der nach gerichtlicher Meinung das Zeugnisverweigerungsrecht nach §55
nutzen könnte, da er selbst zu den Beschuldigten zähle. Das hat der
Staatsanwalt zwar verneint – gegen ihn würde nicht mehr ermittelt –,
dennoch hatte auch er keine Fragen.
Kurz vor der letzten Zeugenvernehmung wollte Hennig dann das
Gedächtnisprotokoll der Polizeivernehmung B.s verlesen lassen. Dies ist
v.a. deshalb eigenartig, da die Aussage im Polizeirevier selbst wegen
verbotener Verhörmethoden vom Gericht nicht gewertet wird. Die
RechtsanwältInnen legten jedenfalls Widerspruch ein – u.a. deshalb, weil
dieses Protokoll zu den Verteidigerunterlagen zähle und es auch keine
neue Aussage sondern nur die Reflexion des Geschehens auf dem Revier
sei. Der Staatsanwalt sah das etwas anders, er meinte dieses Protokoll
sein verwertbar, da die Erstellung nicht vom Gericht “sondern von seinen
Freunden” veranlasst wurde, denen er es später sogar gebracht hat.
Außerdem hätte er keinen Widerspruch gegen die Beschlagnahme des
Protokolls eingelegt!?
Die Entscheidung über die Zulassung des Gedächtnisprotokolls will der
Senat bis zum nächsten Dienstag treffen.
Danach war der Verhandlungstag im Prinzip auch beendet. Es wurde nur
noch der weitere Verfahrensablauf (vor-)abgesprochen. Demnach sind am
kommenden Dienstag und Mittwoch weitere Vernehmungen von ZeugInnen aus
der Szene sowie Leute LKA und PD, die die Durchsuchungen vorgenommen
haben. Nach Meinung des Gerichts sollte bis Mittwochmittag die
Beweisaufnahme beendet sein, so dass Staatsanwalt und RechtsanwältInnen
zum 25.11. bzw. 26.11. ihre Plädoyers vorbereiten können. Dies hängt
nach Meinung der RAs allerdings u.a. davon ab, wie die Beweislage am
Ende des 19. November aussieht. Möglichweise müssen dann von ihrer Seite
noch neue Beweise eingebracht werden, bspw. gäbe es – der Anwalt von
Marco hat es getestet – 17.000 Treffer, wenn man bei Google die Worte
soziale, Revolution, weltweit eingibt. Im Zweifel müssen halt all diese
Dokumente vorgelesen werden, wenn es der Entlastung von Marco, Carsten
und Daniel dient.

 

16.11.2003
anonym zugesandt   [Aktuelles zum Thema: Osteuropa]  [Schwerpunkt: 129a-Verfahren in Sachsen-Anhalt]  Zurück zur Übersicht

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