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Halle: Demonstration am 16.11. anlässlich des Volkstrauertags

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Halle/Saale: [Demo 16.11.] Don't worry, be happy! Gegen den deutschen
Opfermythos. Volkstrauertag abschaffen!

Am Volkstrauertag ist das Einvernehmen zwischen den einzelnen politischen
Parteien bzw. den Parteien und großen Teilen der Bevölkerung so groß wie sonst
nur selten. Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Parteien und
Verbände, Angehörige der Bundeswehr und Mitglieder von Bürgerinitiativen legen
gemeinsam Kränze zum Gedenken an diejenigen nieder, die Sorge dafür trugen, dass
Auschwitz betrieben werden konnte, verurteilen die alliierten Bombenangriffe
auf deutsche Städte als Kriegsverbrechen und betrauern die Deutschen als die
eigentlichen Opfer des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Wer
diese Rahmenbedingungen akzeptiert, ist herzlich eingeladen mitzutrauern und
seinen Kranz abzulegen. Dementsprechend erschienen in den letzten Jahren
immer wieder Neonazis bei den offiziellen Gedenkfeiern zum Volkstrauertag und
durften sich – wie z.B. in Halle – als akzeptierter Teil der Trauergemeinschaft
begreifen. Aufruf zur Demonstration am 16. November 2003 ("Volkstrauertag")
in Halle:


Deutschland als Opfer - dieses Motiv spielte in den deutschen Geschichts-
und Vergangenheitsdebatten der letzten hundert Jahre stets eine zentrale Rolle.
Deutschland wurde wahlweise als Opfer des "Erbfeinds Frankreich" und als
Leidtragender des Versailler Vertrages dargestellt, als Verfolgter einer
"jüdischen Weltverschwörung" halluziniert und nach 1945 schließlich als Opfer des
Nationalsozialismus präsentiert.
Das hierbei gepflegte Selbstmitleid korrespondierte stets mit Aggressivität:
Aus dem Gefühl der Benachteiligung bei der Vergabe von Kolonien erwuchs die
Bereitschaft zum Losschlagen von 1914, die Wahl der NSDAP wurde nicht zuletzt
als Reaktion auf die Politik der Sieger des Ersten Weltkrieges begriffen,
und der Zweite Weltkrieg galt als weltanschaulicher Abwehrkampf gegen
undeutsche Einflüsse und Angriffe. Selbst der erste deutsche Krieg nach 1945, der
Angriff auf Jugoslawien, wurde nicht nur mit dem Argument geführt, man wolle ein
"Auschwitz auf dem Balkan" verhindern. Vertreterinnen und Vertreter der
politischen Parteien, der Medien und der Zivilgesellschaft verwiesen zugleich
darauf, dass man die Menschen im Kosovo hierzulande gut verstehe, immerhin
wüssten die Deutschen sehr genau, was es heißt vertrieben zu werden.

Die verfolgende Unschuld. Zur Geschichte des Volkstrauertages

Das zentrale Ritual der kollektiven deutschen Opferpräsentation ist seit
1919 der so genannte Volkstrauertag. Wenn sich Anlass und Formen des Erinnerns
seit 1919 auch stetig verändert haben - der zentrale Gedanke des
Volkstrauertages ist erhalten geblieben: Die Deutschen haben Europa zwar wiederholt
verwüstet, Schuld waren jedoch immer die Anderen.
Der Volkstrauertag wurde erstmals 1919 zum Gedenken an die vermeintlichen
Helden des "im Felde unbesiegten" deutschen Heeres - so die weit verbreitete
Deutung der deutschen Niederlage 1918 - begangen. Wenn es auch vereinzelte
Stimmen gab, die den Tag als Symbol einer Abkehr vom Hass begriffen wissen
wollten, wurde Deutschland im Rahmen der entsprechenden Gedenkveranstaltungen doch
zumeist als Opfer eines "Verrats der Heimatfront" und des "Versailler
Diktats" betrauert, der Hass auf die inneren und äußeren "Volksfeinde" gepflegt und
die kriegerische Revision der Ergebnisse des Ersten Weltkrieges angekündigt.
Im Jahre 1923 erklärte der Präsident des Volksbundes Deutscher
Kriegsgräberfürsorge - der Bund ist nach wie vor einer der zentralen Initiatoren des
Volkstrauertages - die antifranzösischen Ressentiments in Deutschland zu einem
heiligen Hass: "Wir verstehen, was das alte Testament meinte: Du sollst Deinen
Freund lieben und Deinen Feind hassen, Auge um Auge, Zahn um Zahn."
1934 wurde der Volkstrauertag schließlich zum Staatsfeiertag erhoben und in
"Heldengedenktag" umbenannt. Die an diesem Tag bis dahin ohnehin nur am Rande
zelebrierte Trauer entfiel nun vollständig zu Gunsten der Heroisierung von
Krieg, Opfertod und eines Aufgehens des Individuums im Kollektiv. Von nun an
ging man daran, den in der Weimarer Republik formulierten Revanchegedanken in
die Tat umzusetzen. Bei den jetzt stattfindenden militärischen Aufmärschen
zum Volkstrauertag wurden die gefallenen deutschen Soldaten des Ersten
Weltkrieges als Vorbilder präsentiert, zum Kampf gegen die vermeintlichen Feinde
Deutschlands aufgerufen und die Volksgemeinschaft auf das kollektive Projekt
"deutscher Endsieg" eingeschworen. Als der Glauben an diesen Sieg nach 1943
zunehmend schwand, beschränkte man sich fortan auf die gegenseitige Versicherung
des gemeinsamen Vernichtungswillens.
Nachdem der Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge 1945 zunächst von den
Alliierten verboten wurde, konnte er seine Arbeit bereits nach einem Jahr
wieder aufnehmen. Schon 1950 wurde der Volkstrauertag erstmals im Plenarsaal des
Bundestages mit einer Feierstunde begangen und damit erneut in den Stand
eines offiziellen Gedenktages erhoben. Dieser Rückgriff auf die Traditionen der
Weimarer Republik und des Nationalsozialismus stand in unmittelbarem
Zusammenhang mit dem neuen deutschen Selbstbewusstsein nach der Rückübertragung von
Hoheitsrechten durch die Alliierten. Er ordnete sich in eine Reihe ähnlicher
Maßnahmen und Ereignisse ein: Bereits kurz nach dem Zusammentreten des ersten
Bundestages wurde auch dort über die Beseitigung der Folgen der
Entnazifizierung beraten, mit den "Richtlinien zum Abschluss der Entnazifizierung"
signalisierten die Abgeordneten im Dezember 1950, dass sie die Auseinandersetzung mit
dem Nationalsozialismus als beendet ansahen, und im Mai 1951 wurden Bund,
Länder und Gemeinden schließlich verpflichtet, die in Folge der alliierten
Reeducation-Politik aus dem öffentlichen Dienst entlassenen Personen wieder
einzustellen. Ausgenommen blieben lediglich diejenigen, die per
Spruchkammerbescheid als untragbar eingestuft worden waren.

"Ich hatt’ einen Kameraden"

Wie in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus diente der
Volkstrauertag auch nach dem Ende des Nationalsozialismus dem Zusammenfinden der
Nation als Opfergemeinschaft. Während nach 1918/19 vor allem der Toten des Ersten
Weltkrieges gedacht wurde, standen im Zentrum der Erinnerung nun vor allem
diejenigen, die entweder selbst an Massenmorden teilgenommen oder zumindest
Sorge dafür getragen hatten, dass im Rücken der Front Auschwitz betrieben werden
konnte. In den Reden zum Volkstrauertag und mit dem obligatorischen "Lied
vom guten Kameraden" ("Ich hatt' einen Kameraden, einen bessern findst du
nicht...") wurde die Legende der "sauberen Wehrmacht" gepflegt und Verbundenheit
mit denen gezeigt, die dazu beigetragen hatten, Europa in ein Schlachthaus zu
verwandeln. Ganz im Sinn dieser Verlängerung des nationalen "Wir" über das
Ende des Nationalsozialismus hinaus erklärte der damalige Bundespräsident
Theodor Heuss bei der Einweihung eines Soldatenfriedhofes in den 50er Jahren nicht
nur, dass die Soldaten der Wehrmacht "an ihre Pflicht gebunden" gestorben
seien. Er führte gleichzeitig aus, dass hiervon "nur in Dankbarkeit und
Ehrfurcht" gesprochen werden dürfe. "Ein anderer Ton", so Heuss, "ist nicht
erlaubt."
Einer der perfidesten Einfälle der Vorbereitungskreise dieses Gedenkens war
die Unterordnung des Volkstrauertages unter das Motto der Versöhnung und
Völkerverständigung. Die Täterinnen und Täter luden ihre ehemaligen Opfer zur
Versöhnung ein und forderten sie damit auf, so zu tun, als wäre nichts
geschehen. Da man sich nach der früh erfolgten Bagatellisierung von Auschwitz und der
Aufrechnung von Coventry und Dresden selbst nicht als Täterin und Täter,
sondern als Opfer begriff, glaubte man auch das Recht zu besitzen, gönnerhafte
Versöhnungsangebote unterbreiten zu dürfen. Wenn dem Zweiten Weltkrieg in
dieser Zeit überhaupt ein besonderer Charakter zugestanden wurde, dann nur
aufgrund des angeblich doppelten Leidens der deutschen Bevölkerung unter der
Nazidiktatur und den alliierten Bombenangriffen. Die Opfer der Verfolgungspolitik,
der Konzentrations- und Vernichtungslager oder des Vernichtungskrieges der
Wehrmacht tauchten in den Reden zum Volkstrauertag allenfalls am Rande bzw. als
"Opfer Hitlers" auf. In der Provinz wurde selbst auf diese halbherzigen
Verweise oftmals mit Entrüstung reagiert: Als ein Pfarrer im niedersächsischen
Moringen 1982 die Opfer des ehemaligen örtlichen Jugend-KZs in seine Predigt zum
Volkstrauertag mit einbezog, ging ein Sturm der Empörung durch den Ort. Man
wolle mit "Kriminellen" nichts zu tun haben, wenn man der "gefallenen Helden"
gedenke, beschwerten sich die Funktionäre von CDU und FDP unter stürmischem
Beifall und Bravo-Rufen.

Gedenken macht frei

Mit dem altersbedingten Ausscheiden ehemaliger Nazis aus höheren Positionen
in Wirtschaft, Politik und Kultur und der hiervon beeinflussten Veränderung
der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik wandelte sich spätestens seit
Mitte der 90er Jahre auch die Form des Gedenkens am Volkstrauertag. Wurde zuvor
fast ausschließlich auf die Soldaten der Wehrmacht und die Toten der
alliierten Bombenangriffe verwiesen, werden seither auch andere tatsächliche oder
vermeintliche Opfergruppen in die offizielle Erinnerung integriert. Das Gedenken
firmiert nun offiziell als Andacht an die "Opfer von Krieg und
Gewaltherrschaft", man erinnert an die Leidtragenden des Stalinismus oder die Mauertoten
und verweist schließlich auch auf die Ermordeten der Konzentrations- und
Vernichtungslager.
Diese neue Form des Gedenkens ist jedoch weniger Ausdruck einer offener,
toleranter oder kritischer gewordenen Bundesrepublik. Sie ist lediglich die
abgewandelte, modernisierte Version des selbstbezogenen deutschen Opferkultes,
bei dem die Kategorien der nationalsozialistischen Reichsbürgergesetze auch
weiterhin Anwendung finden. So verschwinden hinter der Aufzählung der
verschiedenen realen oder eingebildeten Opfergruppen aus den unterschiedlichsten
Zeitepochen nicht nur die Taten, die Täterinnen und Täter sowie die jeweiligen
Spezifika der Taten. Die gemeinsame Nennung der Opfer des Ersten Weltkrieges, des
Stalinismus, der Konzentrations- und Vernichtungslager sowie der gefallenen
Wehrmachtssoldaten ist vielmehr die Weiterführung des Versuchs, die deutsche
Geschichte zu normalisieren und den Zweiten Weltkrieg zu einem normalen
Krieg, in dem es keine Täterinnen und Täter, wohl aber unschuldige Opfer gab,
umzulügen. Die wichtigste Aufgabe überhaupt sei die "Arbeit für den Frieden", so
erklärte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse am letzten Volkstrauertag vor
denen, gegen die mit dem größten Recht der Geschichte Krieg geführt wurde:
deutschen Stalingradveteranen und anderen ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht.
Die zentrale Funktion des Volkstrauertages besteht damit in der Leugnung
einer simplen Tatsache: Die Bekämpfung derjenigen, die Auschwitz betrieben bzw.
die Garanten dafür waren, dass Auschwitz betrieben werden konnte, war die
Bedingung für die Beendigung der Massenmorde in den Vernichtungslagern. Am
Volkstrauertag hingegen werden diejenigen als die eigentlichen Opfer betrauert,
die nur durch Gewalt von der Fortführung ihres Amoklaufes abgehalten werden
konnten. Insofern ist es nur konsequent, wenn - wie in den vergangenen Jahren
u.a. in Halle - auch Neonazis bei diesen Feierlichkeiten erscheinen und
Einheiten der Waffen-SS ehren wollen.
Die mittlerweile in Reden zum Volkstrauertag zu findenden Randbemerkungen
über ermordete Jüdinnen und Juden, Homosexuelle, Widerstandskämpferinnen und
-kämpfer, Sinti, Roma, Behinderte usw. ziehen zwar zum Teil den Unmut von
Angehörigen der rechten Szene auf sich. Als ausreichender Grund für einen Boykott
der jeweiligen Veranstaltungen werden sie in diesem Spektrum jedoch auch
weiterhin nicht angesehen. Die Schlaueren unter den Neonazis ahnen ohnehin,
welche Funktionen diese Verweise erfüllen: Durch ein gemeinsames Gedenken sowohl
an die Auschwitz-Schutztruppe Wehrmacht als auch an diejenigen, die in den
Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet wurden, werden die Unterschiede
zwischen Täterinnen bzw. Tätern und Opfern nivelliert. Die Täterinnen und
Täter werden rehabilitiert. Nach einigen Verweisen auf die "dunklen Seiten der
Vergangenheit", auf Zwangsarbeit, Vernichtungskrieg und Konzentrationslager -
so lautet dementsprechend das inoffizielle Motto der neuen deutschen
Erinnerungspolitik - kann die Präsentation der Deutschen als Opfer nur noch
unverblümter und unverschämter betrieben werden.

Außenpolitische Normalisierung

Die zaghaften Verweise auf die Opfer der deutschen Verfolgungs- und
Vernichtungspolitik sind allerdings nicht nur Teil der modernisierten
Selbstpräsentation der Deutschen als Opfer. Sie sind gleichzeitig eine der
Legitimationsgrundlagen der neuen deutschen Außenpolitik. Da Deutschland besondere Erfahrung
im Umgang mit Unrecht habe und die Vergangenheit hierzulande vorbildlich
bewältigt worden sei, so wird auf internationaler Ebene neuerdings von deutscher
Seite ausgeführt, sei die Bundesrepublik gegenüber weltweitem Unrecht
besonders sensibilisiert. Diese Sensibilisierung kann sich mittlerweile sowohl in der
Forderung nach Interventionen der Bundeswehr als auch in der Ablehnung von
Kriegseinsätzen äußern. Gerade aufgrund der deutschen Vergangenheit, so wurde
der deutsche Angriff auf Rest-Jugoslawien 1999 gerechtfertigt, habe die
Bundesrepublik die Pflicht, militärisch in den Konflikt einzugreifen. Nur wenige
Jahre später wurde mit dem gleichen Argumentationsmuster die - ebenso
machtpolitisch motivierte - deutsche Nichtbeteiligung am Irakkrieg und die damit
verbundene offizielle Reaktivierung des "deutschen Weges" begründet. Im
Unterschied zu den USA, so wurde angedeutet, habe die Bundesrepublik die Lektionen aus
der Geschichte gelernt.
Mit beiden Formen dieser neuen "Vergangenheitsbewältigung" verfügen die
Nachkommen der Täterinnen und Täter noch einmal über die Opfer und nutzen das
Gedenken an sie als einen Beitrag zur innen- und außenpolitischen
Normalisierung.

"Unberechtigte Ansprüche"

Welcher Stellenwert den Opfern der deutschen Ausplünderungs- und
Vernichtungspolitik tatsächlich zugeschrieben wird, ist u.a. am offiziellen Umgang der
Bundesrepublik mit den wenigen Überlebenden der Konzentrationslager und der
Zwangsarbeiterpolitik abzulesen. Während selbst ehemalige Wehrmachts- und
SS-Angehörige, die von den Ermittlungsbehörden wegen der direkten Beteiligung an
Kriegsverbrechen gesucht wurden, pünktlich ihre Pensionen ausgezahlt bekamen
und bekommen, wird den meisten Opfergruppen eine angemessene Entschädigung
weiterhin vorenthalten. Dem neuen und scheinbar offeneren Umgang mit der
deutschen Vergangenheit entsprechend verwies Gerhard Schröder zu Beginn der
Diskussionen um Entschädigungsleistungen an ehemalige Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter zwar auf die Schuld der deutschen Wirtschaft. Gleichzeitig erklärte
er allerdings, die deutschen Unternehmen vor "unberechtigten Ansprüchen"
schützen zu wollen.

Warum gerade Halle?

Proteste gegen den Volkstrauertag, die Formierung zur Trauer- und
Opfergemeinschaft und die Gleichsetzung von Täterinnen bzw. Tätern und Opfern könnten
somit im Grunde überall stattfinden. Dennoch ist der Ausgangspunkt der
Demonstration, der Gertraudenfriedhof in Halle, nicht willkürlich gewählt. Hier fand
die in der Konzeption des Volkstrauertages angelegte Tendenz in den letzten
Jahren ihre wohl deutlichste praktische Umsetzung. Gedachte
Bundestagspräsident Thierse im vergangenen Jahr noch gemeinsam mit den ehemaligen Kämpfern
gegen Bolschewismus und Judentum - Stalingradveteranen der deutschen Wehrmacht
-, begeht man den Volkstrauertag in Halle bereits seit einigen Jahren in
Kooperation mit denen, die die Forderung "Juden raus!" in Deutschland derzeit am
vehementesten vertreten.
So waren seit etwa 1998 nicht nur Vertreter studentischer Verbindungen
regelmäßig bei der offiziellen Gedenkveranstaltung der Stadt auf dem
Gertraudenfriedhof erschienen, sondern stets auch bis zu dreißig Angehörige der örtlichen
rechten Szene. Im vergangenen Jahr nahmen schließlich etwa 200 Neonazis aus
Niedersachsen und verschiedenen Regionen Sachsen-Anhalts an dieser
Feierlichkeit teil und nutzten sie als Ersatzveranstaltung für den kurz zuvor verbotenen
zentralen Neonaziaufmarsch zum so genannten "Heldengedenktag" im
brandenburgischen Halbe. Die hallesche Oberbürgermeisterin Ingrid Häußler (SPD) hielt
eine Rede, Mitglieder der regionalen Parteien und Verbände - CDU, FDP, PDS, SPD
usw. - legten Kränze nieder, die Neonazis präsentierten Gebinde zu Ehren von
Einheiten der Waffen-SS und entrollten ein Transparent mit der Aufschrift
"Wir sind ein Volk des Geistes, aber mit einer eisernen Faust". Abschließend
spielten Angehörige der Bundeswehr das "Lied vom guten Kameraden", die Neonazis
senkten dazu ihre Fahnen.
Da nahezu alle im Stadtrat vertretenen Parteien und Organisationen ihre
Kränze gemeinsam mit den Nazis abgelegt hatten, blieben Auseinandersetzungen auf
der Ebene des Stadtparlamentes aus. Oberbürgermeisterin Häußler rechtfertigte
in einer Stadtratssitzung noch einmal die Kranzniederlegung und behauptete -
obwohl sie noch im November 2000 erklärt hatte, die Teilnahme von Neonazis
nicht noch einmal dulden zu wollen - dass niemand mit dem Erscheinen von
Angehörigen der rechten Szene hätte rechnen können. Auch die Regionalzeitung
mochte keine Kritik äußern und berichtete lediglich, dass einige Neonazis versucht
hätten, das Gedenken für ihre Zwecke zu "missbrauchen".
Als Störenfriede wurden vor allem diejenigen betrachtet, die gegen die
gemeinsame Manifestation von Neonazis und Vertretern der Stadt protestierten.
Angehörige antifaschistischer Initiativen verteilten vor der nachfolgenden
Stadtratssitzung Flugblätter und der Verein Kellnerstraße e.V. - ein linkes
Kulturprojekt - äußerte in einem offenen Brief Kritik am Verhalten der örtlichen
Organisatoren des Volkstrauertages und der Oberbürgermeisterin. Als Reaktion auf
diesen Protest wurde dem Verein eine Sozialarbeiterstelle gestrichen. Der
Grund für diese Streichung, so wurde nach Widerspruch des Vereines auch
amtlicherseits erklärt, seien die Methoden seiner Jugendbildungsarbeit, die u.a.
anhand der "politischen Stellungnahme zu den Ereignissen des Volkstrauertages
2002" deutlich geworden seien. Ihr Gedenken will sich die Volkstrauerfront eben
von niemandem vermiesen lassen.

Warum also: "Don't worry..."?
Um es zusammenzufassen: Der Volkstrauertag dient, wie nicht nur die
Ereignisse in Halle zeigen, dem parteiübergreifenden Zusammenfinden als
Opfergemeinschaft. Selbst die in Gedenkreden neuerdings zu findenden Randbemerkungen über
die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen lediglich als Plattform, auf
der noch ungenierter und verständnisvoller über die Befindlichkeiten der
Täterinnen und Täter geredet und öffentlich um sie getrauert werden kann. Der
Volkstrauertag ist damit primär für das Gedenken an diejenigen reserviert, die
entweder direkt an den Massenmorden beteiligt waren oder durch ihre
Tätigkeiten indirekt dazu beitrugen, dass diese Verbrechen begangen werden konnten.
Der Kampf gegen Deutschland - die Offensive der Alliierten in der Normandie,
die Niederlage der sechsten Armee in Stalingrad, die darauf folgende Befreiung
von Auschwitz, Buchenwald, Belsen usw. - ist jedoch kein Grund zur Trauer,
sondern zur Freude. Darum: Weg mit dem Volkstrauertag! Gegen den deutschen
Opfermythos!

Antifaschistische Gruppen Halle,
September 2003


Infos, News, Wegbeschreibung usw.:  http://www.volkstrauertagabschaffen.tk

Unterstützerinnen und Unterstützer:
AG Antifa im Asta der Uni Potsdam, Antifa Dessau, Antifa Merseburg, Antifa
Recherche Team (ART) Dresden, Antifaschistische Aktion Gera (AAG),
Antifaschistischer Arbeitskreis (AfA) Halle, Antifaschistisches Schul-Netz (ASN) Halle,
Autonome Antifa Altmark, Autonome Antifa Genthin (AAG), Autonome Antifa
Nordost Berlin [AANO], Autonome Gruppe [N]AG Halle, BgR Leipzig, Jugendantifa
Zwille/Dessau, JungdemokratInnen/Junge Linke Halle, Kellnerstraße e.V. (Halle),
Minikino LaBim (Halle). (Stand: 12. Oktober 2003)

 

14.10.2003
Antifaschistische Gruppen aus Halle   [Aktuelles zum Thema: Antifaschismus]  Zurück zur Übersicht

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