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Bremen: Die Agenda 2010: Veranstaltung Donnerstag, 3. Juli 2003 / 19 Uhr

GEGENSTANDPUNKT & DISKUSSION


Die Agenda 2010

am Donnerstag, 3. Juli 2003

um 19 Uhr

im Bürgerhaus Weserterrassen


1. Jahrzehntelang hieß es, der Sozialstaat mache aus dem Kapitalismus eine "soziale Marktwirtschaft", der auch die "Unselbständigen" ihr Leben anvertrauen könnten. Keiner verschwieg, dass mit dem lohnabhängigen Arbeitnehmerdasein weiterhin "Lebensrisiken und soziale Notlagen" untrennbar verbunden sind. Aber das durfte nicht gegen die Wirtschaftweise, sondern hatte für den sozialen Staat zu sprechen. Kein Arbeitsloser, Rentner oder Sozialhilfeempfänger brauche sich zu sorgen oder zu schämen, wenn er seine monatliche Überlebenshilfe bei dem zuständigen Amt abhole. Darauf habe er schließlich einen rechtlichen und moralischen Anspruch: Erstens habe er nämlich als Arbeitnehmer stets in die Sozialkassen eingezahlt und zweitens sei Solidarität einer der Grundwerte der demokratischen Gesellschaft.


Damit macht die Agenda 2010 materiell und moralisch gründlich Schluss. Der sozialdemokratische Kanzler und die größte Koalition der bundesrepublikanischen Geschichte wollen ein �neues Verständnis des Sozialstaats, in dessen Mittelpunkt nicht finanzielle Transferleistungen� (SPD Leitantrag) stehen. Dafür scheuen sie keine Konfrontation, insbesondere mit den Gewerkschaften.


2. Dabei beruft der Kanzler sich auf Sachzwänge, die jeder für unhintergehbar halten soll:


�Die Struktur unserer Sozialsysteme ist seit 50 Jahren praktisch unverändert geblieben. An manchen Stellen, etwa (!) bei der Belastung der Arbeitskosten, führen Instrumente der sozialen Sicherheit heute sogar zu Ungerechtigkeiten. Zwischen 1982 und 1998 sind die Lohnnebenkosten von 34 auf fast 42 Prozent gestiegen. Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden. Dabei geht es nicht darum, ihm den Todesstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, die Substanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brauchen wir durchgreifende Veränderungen � Die Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist und die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt, mehr Beschäftigung zu schaffen � Wir müssen aufhören � das ist der Kern dessen, was wir vorschlagen �, die Kosten von Sozialleistungen, die der Gesellschaft insgesamt zugute kom-men, immer nur und immer
wieder dem Faktor Arbeit aufzubürden.�


Es lohnt sich, diese Ansage Punkt für Punkt zu würdigen:


Was ist los, wenn �die Lohnnebenkosten von 34 auf 42 Prozent� steigen? Jeder weiß es: Immer mehr Lohnabhängige sind arbeitslos, zahlen nichts mehr in die Sozialkassen ein, sondern müssen aus denen alimentiert werden. Genauer gesagt: Immer mehr �Unselbständige� werden von ihren �selbständigen� Arbeitgebern überflüssig gemacht; mit marktwirtschaftlicher Not-wendigkeit im Interesse und infolge des Konkurrenzkampfs, den die Unternehmen führen, und im Zuge des allgemeinen kapitalistischen Wachstums, das bis zu recht ansehnlichen Prozentsätzen mit gleichbleibenden oder sogar verminderten Belegschaften zu erwirtschaften geht. Die immer noch verdiente Gesamt-Lohnsumme wird folglich immer knapper für den Lebensunterhalt all derer, die auf Lohn als Lebensmittel angewiesen sind, darauf auch dann angewiesen bleiben, wenn sie keinen mehr verdienen, und deswegen sozialgesetzlich � in Abhängigkeit von ihrem persönlichen Lohnempfänger-Schicksal � zu einer gewissen Teilhabe am verdienten Gesamtlohn
berechtigt sind. Wenn der dafür umverteilte Teil der Gesamt-Lohnsumme steigt, dann zeigt das: Die Kosten eines kompletten Arbeiterlebens oder, was sozialkassenmäßig auf dasselbe hinausläuft, des Lebensunterhalts der Gesamtheit der Lohnabhängigen und der Preis, den die Arbeitgeber für die Arbeit zahlen, die sie für die Erwirtschaftung �schwarzer Zahlen� brauchen, laufen auseinander; das sozialstaatliche Kunststück, dem Gesamtpreis für Arbeit in der Nation einen Lebensunterhalt für die Gesamtheit der Arbeiter abzuringen, wird immer nötiger und das Resultat immer elender. Anders gesagt: Es steigt die systembedingte Armut der Gesamtheit der Lohnabhängigen; also genau das Elend, für dessen systemkonforme Bewältigung der Sozialstaat einst erfunden worden ist.


Was ist los, wenn die Finanzierung dieser systemerhaltenden Veranstaltung �für die Arbeitnehmer zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist�? Dann hat man es mit dem zynischen Konstruktionsprinzip des marktwirtschaftsgemäßen Sozialstaats zu tun. Der zieht nämlich das, was er den nicht benutzten Lohnabhängigen zuschustert, systematisch denen vom Lohn ab, die überhaupt noch einen kriegen; denen, die mit ihrer Arbeit und ihrem Lohn �der Wirtschaft� ihr Wachstum erarbeiten, legt er den Lebensunterhalt auch aller anderen zur Last, für die keine andere Überlebenschance vorgesehen ist als die Lohnarbeit, die sie nicht haben. Nicht nur die sind zu progressiver Armut verurteilt; auch die, die noch das elende Glück ha-ben, dass ein Arbeitgeber sie rentabel ausnutzt, werden um so mehr geschoren, je weniger von ihnen �die Wirtschaft� für ihr Wachstum braucht.


Was ist los, wenn die �Lohnnebenkosten� die �Arbeitgeberseite� daran hindern, �mehr Beschäftigung zu schaffen�? Dann hat man es, theoretisch gesehen, mit einer glatten Lüge zu tun: Kapitalistische Unternehmer produzieren alles Mögliche, aber überhaupt keine �Beschäftigung�. Für ihr Geschäft kaufen sie so viel Arbeit, wie sie lohnend anwenden können. Sie leiden nicht darunter, dass das, was sich an Lohn für sie lohnt, vom Sozialstaat zu Lasten des Einkommens ihrer Dienstkräfte umverteilt wird. Moralisch gesehen liegt ein Fall von Frechheit vor: Erst erzeugt das kapitalistische Geschäftsleben den großen Haufen Bedürftigkeit, für die die Lohnarbeiter mit ihrem Verdienst mit aufkommen dürfen; dann rechnen die Ideologen und Lobbyisten dieses Geschäftslebens das Geld, das der Sozialstaat zwecks Unterhalt der bedürftigen Gesamt-Mannschaft aus den Einkommen der Lohnabhängigen herausquetscht, aus dem Preis, den die Arbeitgeber für Arbeit zahlen, einfach heraus und beschweren sich darüber,
dass diese Summe ja offensichtlich gar nicht für den Zweck verausgabt wird, für den sie doch bloß gezahlt wird, nämlich für rentable Arbeit. Damit ist auch schon, praktisch gesehen, der Zweck des Schwindels klar: Es geht um nichts als pure Lohnsenkung. Die Arbeitgeber wollen sich das sparen, was ihren Arbeitnehmern sozialstaatlich weggenommen wird; was nämlich der Sozialstaat an sich nimmt, um aus einem Entgelt, das für ein ganzes Leben respektive für die Gesamt-heit der Lohnabhängigen nicht reicht, trotzdem einen Lebensunterhalt für alle respektive für ein ganzes Leben zu verfertigen.


3. Was ist also los, wenn die politischen Herren des Sozialstaats praktisch ernst machen mit dem Standpunkt der Arbeitge-ber, wonach alle Teile des Lohns, die sozialstaatlich umverteilt werden, eine Kostenlast sind, die ihnen nicht mehr zuzumuten ist?


Dann stellen die Retter des Sozialstaats dessen elende �Logik� auf den Kopf. Sie ziehen aus dem wachsenden Elend in ihrem Laden, dem mit der verdienten Lohnsumme immer schlechter beizukommen ist, den radikalen Schluss, dass die Armut nicht etwa zu groß, sondern zu teuer ist. Sie beschließen, dass ihr großartiges Gemeinwesen sich die wachsende Armut sehr wohl, deren Finanzierung aber nicht mehr leisten kann. Wenn die Finanzen der Sozialkassen den Folgen des kapitalistischen Fort-schritts, der Zunahme der systemnotwendigen Bedürftigkeit, nicht mehr gewachsen sind, dann muss nicht an dieser Konsequenz, geschweige denn an der �Logik� des kapitalistischen Fortschritts selber etwas geändert werden; dann muss man sich vielmehr �ehrlicherweise� eingestehen, dass der sozialstaatliche Versuch, mit der zunehmenden Bedürftigkeit systemkonform fertig zu werden, gescheitert ist; und man muss sich zu dem Entschluss durchringen, diesen Versuch nicht mehr fortzusetzen, jedenfalls nicht mehr wie
bisher � damit es mit dem Grund des ganzen Elends weitergehen kann.


4. Es sind aber nicht bloß die uralten Imperative der �dramatisch veränderten� kapitalistischen Klassengesellschaft, die diesen Fortschritt gebieten. Schröder erläutert, was �die Rolle Deutschlands in Europa und Europas in der Welt� mit dem Lebensun-terhalt der arbeitenden Klasse daheim zu tun hat. Bindeglied ist �die Wirtschaftskraft�, mit der Deutschland in und mit Europa imperialistisch vorankommen will, von der aber auch �unsere sozialen Möglichkeiten� abhängen:


�Wir werden sowohl unsere Verantwortung als auch unsere mitgestaltende Rolle in einer multipolaren Weltordnung des Friedens und des Rechts nur dann umfassend wahrnehmen können, wenn wir das auf der Basis eines starken und geeinten Europas tun. Es geht um die Rolle Europas in der internationalen Politik. Aber es geht auch um die Unabhängigkeit unserer Entscheidungen in der Welt von morgen. Beides � auch das ist Gegenstand dieser Debatte � werden wir nur erhalten können, wenn wir wirtschafts- und sozialpolitisch beweglicher und solidarischer werden, und zwar in Deutschland als dem größten Land in Europa, was die Wirtschaftskraft angeht, und damit natürlich auch in Europa. Diesen Zusammenhang zwischen unseren wirt-schaftlichen und damit auch sozialen Möglichkeiten einerseits und unserer eigenen Rolle in Europa und Europas in der Welt andererseits, darf man nicht aus den Augen verlieren; denn er ist für uns und unsere Gesellschaft genauso wichtig wie für unsere Partner in Europa.�


Sehr übersichtlich. Ganz oben in der Liste der Prioritäten steht für den Kanzler die �Unabhängigkeit unserer Entscheidungen in der Welt von morgen�. Er nennt ja keine Namen, wer die eigentlich gefährdet. Klar aber ist auch so, dass die nur in einer �multipolaren Welt� gegeben ist, in der nicht nur Amerika über Krieg und Frieden auf dem Globus entscheidet und Recht und Unrecht in der Staatenwelt definiert. Also gilt es, sich entsprechend aufzustellen und als Macht zu etablieren, die das auch kann. Dem Kanzler ist völlig klar, dass diese Macht nur Europa heißen kann; nur auf der �Basis� kommen �wir� weiter. Dem Kanzler ist aber auch klar, dass dieses ehrgeizige Projekt nicht zuletzt eine Frage der ökonomischen Potenzen, der nationalen �Wirtschaftskraft� ist, und in dem Zusammenhang fällt das Stichwort �sozial� das erste Mal. Es ist nämlich so, dass diese Wirtschaftskraft, die für mehr imperialistische Größe eingespannt werden soll, also freigesetzt werden muss, ein gewisses
�solidarisches� Verhalten auf Seiten derer voraussetzt, die maßgeblich am Zustandekommen derselben beteiligt sind � indem sie sie nämlich erarbeiten. Es ist eigentlich ganz einfach, und der Kanzler erläutert diesen Zusammenhang in seiner Rede rund ein halbes Dutzend Mal: Es muss mehr gearbeitet werden, damit mehr in die nationalen Kassen Deutschlands und seiner euro-päischen Partner kommt; und damit mehr gearbeitet wird, müssen die sozialen Standards gekippt werden, mit deren Aufrecht-erhaltung der Sozialstaat nur den Kostenfaktor Arbeit unnötig verteuert. Damit hat man die gültige Positionsbestimmung des-sen vor sich, was Sozialpolitik heute ist: Wahrhaft soziale Politik betrachtet und behandelt den sozialstaatlich organisierten Lebensstandard der lohnabhängigen Massen konsequent als Mittel für den gesamtwirtschaftlichen Konkurrenzerfolg der Nation. Und warum der sein muss, steht sowieso außer Frage � siehe oben. Oder wie schon einmal ein deutscher Kanzler gewusst hat: Deutschland
wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein.
Gruppe Keine Alternative (Bremen)
 http://companeros.org/keinealternative

 

29.06.2003
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