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Genua/ Thessaloniki: [gipfelinfo]

Gipfelinfo - Meldungen über globalisierte Solidarität
und die Proteste gegen unsolidarische Globalisierung
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- Genua: Mord = legitime Notwehr
- Übergriffe auf Fahrradkarawane

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Genua: Mord = legitime Notwehr

Ob Prag, Göteborg, Genua, der Rechtsstaat wurde außer Kraft gesetzt, das ohnehin
zurechtgestutzte Recht auf freie Meinungsäußerung durch brutalen Polizeiterror
ergänzt.

megraphics
Die Welt sah mit Entsetzen auf Genua, das am 20. Juli 2001 zum Sinnbild
westlicher Spielart von Demokratie geworden ist, die in ihrer Überheblichkeit
der Welt Lektionen über Freiheit erteilt, während sie ohne Bedenken auf längst
vergangen geglaubte Formen der Unterdrückung zurückgreift. Dafür stand die
inzwischen berüchtigte Carabinieri-Kaserne Bolzaneto, der Überfall auf die
Scuola Diaz, der kalkulierte Mord an einem jungen Menschen, der an diesem Tag,
wie seine Mutter erzählt, eigentlich ans Meer zum Baden fahren wollte, dann aber
doch in die Demonstration gegen den Gipfel der Reichen am Corso Torino und in
der Via Tolemaide geraten war.

Die Herrschaftspresse hatte schon Wochen zuvor ein Geheul über die Welle von
Gewalt angestimmt, die auf die alte Hafenstadt zurollt. Die Buhnen und Dämme,
die dagegen errichtet wurden und Antlitz wie Klima der Stadt innerhalb weniger
Wochen merklich veränderten, übersah sie geflissentlich. Und als schließlich die
alten Gespenster der Vergangenheit ihre Schatten über die Stadt warfen, an ein
Lateinamerika der siebziger Jahre erinnerten, in den Kasernen alte faschistische
Kampflieder angestimmt wurden, überschwemmte sie ihre Medien mit Bildern und
Informationen, die belegen sollten, wie notwendig doch das Polizei- und
Militäraufgebot war, um die Staatschefs vor Schlimmerem zu beschützen. Diese
demokratischen Saubermänner auf der Luxusjacht im Genueser Hafen wussten, wie es
in der Stadt aussieht, ein Blick über Bord genügte, um die Fregatte zu bemerken,
deren Kanonen auf die Stadt gerichtet waren. Kein nachdenkliches Wort, keine
kritische Bemerkung -obwohl auf festem Boden der Halbinsel sogar die Spitzen der
Reformlinken von chilenischen Zuständen sprachen- trübte die gute Spumantelaune
der Fortschrittsmacher unserer Welt. Die jämmerliche Abschlusserklärung ihres
Treffens, in der allen Menschen -besonders den Armen- die Globalisierung
versprochen und "den Bürgern von Genua für ihre Gastfreundschaft" gedankt wird,
zeigte einmal mehr die Arroganz und den Zynismus einer politischen Kaste, der es
nicht mehr gelingt, ihre Sonderinteressen im Namen der großen Konzerne als
Allgemeininteressen zu retuschieren und zu schminken. Dazu bedarf es der Beugung
von Recht und nackter Gewalt.

Das war Genua: die Aussetzung fundamentaler Grundrechte, faschistischer
Polizeiterror, Folter, Mord, die Verwandlung einer lebendigen Metropole in eine
belagerte Stadt, oder auch das Versuchsfeld der Herrschenden nach Jahrzehnten
des Abbaus demokratischer Rechte, die Stärke ihrer Macht zu demonstrieren. Die
Stadt war das Zentrum eines Spinnennetzes des europäischen Polizeiapparates, das
Exempel auf die Funktionstüchtigkeit der in den letzten Jahren aufgebauten
polizeilichen Unterdrückungsmechanismen europäischer Sicherheitspolitik.

Nun, fast drei Jahre danach, ist ein weiteres Kapitel abgeschlossen worden, die
juristische Aufarbeitung der Ereignisse um den Tod von Carlo Giuliani. Bereits
vor einem Jahr durch den Untersuchungsrichter Silvio Franz angekündigt, wurde
nun mit einer 48 seitigen Begründung das Verfahren gegen die Cops an der Piazza
Alimonda von Genua eingestellt. Sentenz der Begründung: Sie haben nicht nur in
legitimer Notwehr gehandelt, auch der tödliche Einsatz der Schusswaffe des
Carabiniere Mario Placanica war gerechtfertigt. Während weiterhin Strafverfahren
gegen Demonstranten der Gegengipfel laufen, sind hiermit alle Verfahren gegen
die Carabinieri abgeschlossen, die unmittelbar an höherer oder ausführender
Stelle in den Polizeiterror verwickelt waren. Der Gerechtigkeit könnten nun -um
mit José Saramago zu formulieren- wieder einmal die Totenglocken geläutet
werden. Fast wünschte man sich einen Richter Aztak aus Brechts Kaukasischem
Kreidekreis herbei, der sein „salomonisches“ Urteil gegen Unterdrückung und
Arroganz der Reichen spricht. Doch es ist auch klar, dass es einen solchen
Richter in dieser Gesellschaft nie geben wird. Wer weiß schon, wie viele
Demonstranten in den vergangenen Jahrzehnten während der Ausübung des Rechts auf
freie Meinungsäußerung in den Nachkriegsdemokratien ums Leben kamen? Ob unsere
Apologeten der Freiheit bei diesen Zahlen wohl ebenso feierliche Worte
formulieren könnten wie zu Zeiten des Kalten Krieges aus Anlass verlorener
Menschenleben an eisernem Vorhang und Mauer? Bezüglich Genua verlautete von
höchster Stelle: „Die Staatschefs der G8 äußerten ihren Dank gegenüber der
Gastfreundlichkeit Genuas und seiner Bürger, sie bedauerten die Gewalt, den
Verlust an Menschenleben und den unerhörten Vandalismus, den sie zu ertragen
hatten.“ (Genua Summit Meeting 2001)

Was die Gastfreundlichkeit angeht, kann der erste Teil der Bemerkung als nichts
anderes, denn als ein Zeichen schleichender Dementia preacox gewertet werden.
Die G8 müssen einfach Ort und Zeit verwechselt haben, da die Genuatage während
des Gipfels für Demonstrationen der Gastlichkeit gar keinen Platz einräumten.
Das Bedauern aber kann ihnen nicht wirklich ernsthaft über die Lippen gekommen
sein: Es war ihre Gewalt und der Mord an Carlo geht mit auf ihr Konto. Nicht
eine der G8-Regierungen hat sich, während und auch nicht im Nachhinein,
veranlasst gefühlt, trotz umfassender Informationen über die Ereignisse in der
Stadt, den Polizeiterror zu verurteilen, geschweige denn die faschistischen
Jubellieder, die noch am selben Tag des Todes von Carlo aus den
Carabienierikasernen tönten: seine Hinrichtung wurde geradezu gefeiert.

Die Begründung für die Einstellung des Verfahrens zeichnet, wie nicht anders zu
erwarten, ein völlig konträres Bild zu den vielen detaillierten Zeugenaussagen,
die alle übereinstimmend feststellen: Carlo kommt als einer der letzten bei
diesem Defender an, er hört die entsetzten Schreie beim Auftauchen der Pistole
in der Heckscheibe, hebt einen Feuerlöscher auf, der ihm vor die Füße rollt,
wird getroffen und noch lebend, zweimal von dem Defender überrollt. Im Kontext
mit den unzähligen Ereignissen an diesem Tag, den Schüssen, die am Corso Torino
fielen, der brutalen Gewalt gegen friedliche Demonstranten ist klar, dass sein
Tod gewollt und kalkuliert und daher Mord war.

Die Version der Richter aber spricht von legitimer Notwehr, schlimmer noch in
Hinsicht auf zukünftiges Klonen solcher Situationen, von legitimer Anwendung der
Waffengewalt und beruft sich auf Art. 53 des Codice Penale (Strafgesetzbuch),
demnach ein Polizist von der Schusswaffe Gebrauch machen kann, wenn er dazu
gezwungen ist, eine schwere Gewalttat zu verhindern. Beide Tatbestände
attestiert die Einstellungsverfügung den beschuldigten Carbinieri und klärt in
keiner Weise die vielen offenen Fragen, die all die dunklen Umstände des Todes
von Carlo aufdecken könnten.

„Die unzähligen Zeugenaussagen, Filme, Photografien darüber, was vor, während
und danach geschehen ist reichen nicht aus. Details ohne Bedeutung. Dennoch gab
es eine Möglichkeit sie zu werten, zu diskutieren, miteinander zu vergleichen.
Es gab eine öffentliche Debatte. Wie viele Male haben wir sie gefordert und
dabei geklärt, dass sie nötig ist und wir keine Rache wollen. Was wir wollen ist
Wahrheit und Gerechtigkeit. Wir wollen drei Instanzen durch die Justiz, wie es
das Gesetz vorsieht. Doch das Gegenteil erhalten wir. Das Verfahren wird
eingestellt. Nur die bekommen ihre Ruhe, die vor der Wahrheit Angst haben. Was
bleibt ist ein Gefühl der Leere bei jenem großen, freien und aufrichtigen Teil
des Landes, bei jenen, die bis heute Blumen und Gedenkschriften zur Piazza
Alimonda tragen, bei jenen, die nicht vergessen wollen, bei jenen, die wissen
wollen, bei jenen, die nicht müde werden ihren Unmut und ihre Hoffnungen
auszudrücken. Und auch jene, die ein Recht darauf, solidarisch zu sein mit uns
teilen. Wegen ihnen und dank der großen Anteilnahme, werden wir weiter
fortfahren Wahrheit und Gerechtigkeit zu verlangen. Wir werden es solange tun
wie unser Atem und unsere Energie reicht.“ (Vater von Carlo Giuliani)

[Homepage:  http://www.melle.at]


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Übergriffe auf Fahrradkarawane

Die Fahrradkarawane auf dem Weg zum EU-Gipfel nach Thessaoloniki wird in Zagreb
von der kroatischen Polizei angegriffen
Heute starteten Leute der Fahrradkarawane, die von Ljubliana nach Thessaoloniki
unterwegs ist, um gegen den EU-Gipfel Mitte Juni zu demonstrieren, eine Aktion
vor dem IOM (International Institution of Immigration) - short action with
banners and noise. Danach zog die Karawane mit lokalen Gruppen zu einer
Werbeveranstaltung fuer den Eu-Beitritt Kroatiens, die im Herzen Zagrebs stattfand.
Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, wobei ca. 10 Leute
festgenommen wurden. Nach neuesten Informationen werden sie morgen dem
Haftrichter vorgefuehrt. Wir rufen deshalb dazu auf, spontante Aktionen vor
kroatischen Vertretungen in Europa durchzufuehren.
Weitere Informationen folgen, sobald sie uns ereichen (evtl. Abschiebungen etc..)
P.S.: Es waere super wen dieser Artikel/Aufruf an die anderen europaeischen
Indymediacenter weitergeleitet wird (bzw. uebersetzt), da Leute aus ganz Europa
an der Fahrradkarawane teilnehmen (u.a. Spanien, Deutschland, Slowakei, Schweiz,
Frankreich) und uns momentan die Moeglichkeiten dazu fehlen. DANKE!!!!

FREIHEIT FUER ALLE POLITISCHEN GEFANGENEN!!!!!

[Homepage:  http://www.go-openup.de]

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08.05.2003
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