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Hamburg: Auswertung des öffentlichen Radiohörens am 14.12.2002

Auswertung des öffentlichen Radiohörens am 14.12.2002
von FSK

FSK wertet das öffentliche Radiohören in der Hamburger Innenstadt aus und bedankt sich bei allen HörerInnen und Hörern! Und reflektiert ein wenig auf die politische Form der Zerstreuung.

Zur öffentlichen Zerstreuung in der City am Samstag, 14.12.02

Viele hundert Menschen folgten der Einladung des Freien Sender Kombinats zum öffentlichen Radiohören in der Hamburger Innenstadt am 14. Dezember. Praxis bedeutete an diesem Tag: Zerstreuung im Herzen des Warenumschlages. Präsenz bedeutete an diesem Tag: Zerstreuung in der konsumierenden Menge. Zerstreuung ist keine Versammlung. Anders als eine Demonstration wirkt sie nicht durch Geschlossenheit, sondern durch eine gute Verteilung im Raum.
Viele hundert Menschen hörten in der Innenstadt auf 93,0 MHz Inhalte, die nach dem Willen des Senats von dort verbannt werden sollten. Und schließlich gab es zwischen dröhnendem "Jingle Bells³, "In excelsis deo³ und lautstarker Werbung tatsächlich Platzverweise, exklusiv für Hörerinnen und Hörer von FSK. Sechs Engel und ein Pastor wurden in Gewahrsam genommen, da sie zur Blockflöte Weihnachtslieder intoniert hatten. Vielleicht wurden statt des Stalls in Bethlehem ein Wagen im Karoviertel als Schlafstätte besungen und somit die im christlichen Kulturraum festgelegte Toleranzgrenze überschritten? Selbst ein süddeutscher Radioreporter wurde trotz seines amtlich anerkannten Presseausweises und ohne nähere Angabe von Gründen eingepackt und auf die Wache St. Georg gebracht. Dort setzt man ihn ebenso
kommentarlos wieder vor die Türe. Ein Vorgang, dessen absurder Charakter nicht über die Brisanz der zunehmenden Eingriffe der Polizei in die Pressearbeit hinwegtäuschen sollte. Im Bewußtsein, daß es egal ist, wenn in vielleicht zwei Jahren ein Verwaltungsgericht Maßnahmen als juristisch nicht tragbar rügt, nimmt es die Polizei mehr und mehr mit ihren Vorschriften nicht allzu genau. Und wer klagt schon gegen einen Platzverweis oder eine Personalienfeststellung, auch wenn sie nichts als offensichtliche Schikanen sind? Umso bemerkenswerter, daß sich viele Hörerinnen und Hörer davon nicht beeindrucken ließen und weiter das Beanstandete taten: sie hörten Radio im öffentlichen Raum. Ihr Zusammenwirken machte erst den Erfolg der Aktion
möglich. Aber: wie schon das Radioballett am Hauptbahnhof war auch die Zerstreuung kein Massenornament. Jede Hörerin, jeder Hörer hielt sich dort auf, wo der Empfang am besten und die Situation am angenehmsten war. Der Sender bestimmte nicht die Verteilung der Menschen im Raum. Den Drang zur autoritären Ballung, zur totalen Formierung und Nivellierung der Differenz
hatte wieder nur die Hamburger Polizei, jene Ninja-Turtels eines
Innensenators, der seinem Kind-Ich noch nicht entwachsen zu sein scheint.

Was ist Zerstreuung?
³Das Radio ist schuld daran, daß die Öffentlichkeit verwaist², beklagte einst Siegfried Kracauer das Verstummen des Diskurses im urbanen Raum. Das Radio hat die Öffentlichkeit verwaisen lassen, weil die Menschen zuhause blieben und nicht die Wohnung verließen. Das Radio steht so bei der Öffentlichkeit in der Schuld.
Radio in den Strassen der Innenstadt zu hören, bringt dem urbanen Raum die Öffentlichkeit zurück. Doch jetzt ist Hamburger Politik schuld da ran, daß die Öffentlichkeit in der Innenstadt verwaist.

Radiowellen durchdringen den Raum. Sie folgen uns bis in die Wohnung. Im privaten Raum sind sie unsichtbar. Öffentliches Radiohören lädt ein, den Radiowellen bis in die Innenstadt zu folgen. Die Innenstadt wird durch zunehmende Kontrolle zum privatisierten Raum. Sie wird so gegen das Unerwünschte und Unerwartete immunisiert. Die unkontrollierbare Zerstreuung des Radios infiltriert diesen Raum. Durch die Vielzahl der öffentlichen Radiohörerinnen und -hörer entsteht eine unkontrollierbare Situation. In der unkontrollierbaren Situation nimmt das Unerwartete seinen Einzug. Öffentlich ist der Raum nur, wo er unkontrollierbar wird.

Öffentliches Radiohören verwandelt die zerstreute Ausstrahlung des Radios in eine politischen Konstellation. Die über den Raum der Innenstadt verteilten Hörerinnen und Hörer bilden in ihrer Zerstreuung einen gemeinsamen akustischen Raum. In diesem Raum erklingen Töne und Inhalte, die aus der Innenstadt ausgeschlossen waren. Die Klänge der Bambule-Demos suchen die Einkaufenden heim. In ihrer Zerstreuung entsteht eine bisher unmögliche Öffentlichkeit.

Öffentliches Radiohören ist keine Versammlung. In der Innenstadt gilt die Versammlungsfreiheit nicht mehr. Das Recht des ungestörten Einkaufs wird seit Wochen mit Hundertschaften von Polizei gegen politische Demonstrationen durchgesetzt. Das öffentliche Radiohören begegnete der Einschränkung der Versammlungsfreiheit mit der Uneingeschränktheit der Zerstreuungsfreiheit.

Öffentliches Radiohören rechnet mit zerstreuten Betrachterinnen und Betrachtern. Es versucht nicht, die Blicke der anderen auf sich zu lenken wie ein Demonstrationszug. Es kommt den Blicken von überall her entgegen. Es hat keinen eigenen Ort, sondern sucht Orte heim. Es ist nicht 'da drüben', sondern immer direkt nebenan.

Das öffentliche Radiohören will die zerstreuten, bewegten Betrachterinnen und Betrachtern. Es ist keine Blockade der Innenstadt. Es stellt sich dem Fluß der Käuferinnen und Käufern nicht in den Weg. Es begleitet sie und es ist immer schon da, wo sie hinwollen. Damit wird es zum Schatten der lockenden Waren: Ein unheimlicher Schatten, fast schon ein Partisan. Für die
Waren kann man bezahlen, um sie dann in der Tasche verschwinden zu lassen. Der Klang der Radios bleibt. Er flüstert beunruhigend: "Kauft keinen Scheiß,hört Radio!"

Die Zerstreuung des Radios ist ein unbezahlbares Geschenk, mit dem das Radio seine Schuld gegenüber der Öffentlichkeit abgelten will. Doch wurde FSK von seinen Hörerinnen und Hörer ebenfalls beschenkt. Die Zerstreuun regte an, in Kaufhäusern stellten ganze Rundfunkabteilungen den Empfang auf 93,0 MHz, Autofahrer und Geschäftsleute öffneten trotz der Kälte Fenster und Türen, um
anderen das Radiohören zu ermöglichen. Andere nutzten die Gelegenheit und verschenkten Warengutscheine von Karstadt, die eine "große Flaschen Brechmittel³, "schillige Gasmasken³ oder einen Aufenthalt auf der "Wellnessfarm Glassmoor" im Gegenwert von 50 Euro empfahlen. FSK möchte sich auf diesen Weg bei all seinen Hörerinnen und Hörern bedanken, die der Einladung zur öffentlichen Zerstreuung in der Innenstadt gefolgt sind: Wir
hören weiter voneinander!


Homepage:  http://www.fsk-hh.org


 

18.12.2002
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