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München: Sicherheitskonferenz 2002 - Eine Stadt unter Repression - Klagen, Folgen, Fakten...und ein Appell!

Sicherheitskonferenz 2002 - Eine Stadt unter Repression

Klagen, Folgen, Fakten...und ein Appell!

Im letzten Jahr hatte der Freistadt und die Stadt München um den
Protest gegen die Sicherheitskonferenz bereits im Keim zu ersticken
und den laut Verfassungsschutz mehreren Tausend anreisenden
"gewaltbereiten Autonomen" aus dem In- und Ausland jegliche
Entfaltungsmöglichkeiten zu nehmen, den Ausnahmezustand verhängt und
damit die Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit außer
Kraft gesetzt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bestätigte
schließlich das über das Münchner Stadtgebiet verhängte Gesamtverbot
aller Demonstrationen und Veranstaltungen.

Das "Bündnis gegen die Nato-Sicherheitskonferenz", deren Konto auf
behördlichen Druck hin von der Stadtsparkasse gekündigt worden war,
verzichtete auf Grund des Fehlens einer schriftlichen Begründung des
Demonstrationsverbots auf einen Eilantrag beim
Bundesverfassungsgericht, weil er sowieso nicht mehr rechtzeitig hätte
behandelt werden können.

Trotz dem Versammlungsverbot demonstrierten fast 10.000 Menschen in
der Münchner Innenstadt. Dabei wurden am ganzen Wochenende rund 850
Menschen in Gewahrsam genommen. Dort wurden ihnen massiv grundlegende
Rechte verwehrt. Viele waren über zwölf Stunden in Gewahrsam.
Minderjährigen wurde nicht erlaubt ihre Eltern zu verständigen. Die
medizinische Versorgung wurde oft verweigert und eine angemessene
Versorgung mit Essen und Trinken gab es in vielen Fällen nicht.

Einsatzhundertschaften der Brandenburger Polizei riegelten - zum
ersten Mal seit 1933 - während einer legalen Diskussionsveranstaltung
das Münchner Gewerkschaftshaus ab; niemand kam mehr hinein oder
hinaus; die Polizei forderte die TeilnehmerInnen auf, einzeln zur
Personalienfeststellung herauszukommen, was jedoch nach zwei Stunden
Verhandlungen verhindert werden konnte.


Drei Klage-Wege

Auf dem juristischen Wege standen drei Klagewege offen. Angelika Lex
legte Beschwerde gegen das Demonstrationsverbot ein. Diese Klage wird
vermutlich bis zum Bundesverfassungsgericht gehen und mehrere Jahre in
Anspruch nehmen.

Zum anderen legten über 30 Menschen im März Beschwerde gegen die
Polizeimaßnahme an sich und die Grundrechtsverletzungen in Gewahrsam
ein. Viele der in Gewahrsam genommenen wurden mehr als 24 Stunden fest
gehalten, ohne einem Haftrichter vorgeführt zu werden. Nach einem
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat die Gerichtsbarkeit dafür
zu sorgen, dass ein Haftrichter zu gegen ist, so dass diese Frist
eingehalten werden kann. Den Behörden war durchaus Bewusst, dass an
diesem Wochenende mit einem "erhöhten Arbeitsaufkommen" für den
richterlichen Notdienst zu rechnen ist.

Alle diese Klagen wurde im Oktober und November abgewiesen. Über die
Anhörungssituation sagte eine der Klägerinnen: "Ich hatte das Gefühl.
Dass ich angeklagt bin". Selbst in dem Protokoll der Anhörung wurde
sie als Angeklagte - nicht als Klägerin bezeichnet. Inhaltlich wurde
von den Richtern nicht auf die angeklagte Situation in Gewahrsam
eingegangen. Es wurde lediglich versucht, die Kläger als "Teilnehmer
an einer unangemeldeten Versammlung" zu kriminalisieren.

Nur weniger wollen die Klage in die nächste Instanz tragen und
versuchen mit diese skandalösen Verfahrensweisen an die Öffentlichkeit
zu tragen.

Videoüberwachung

Im August hatte die Stadt 87 Bußgeldbescheide an
DemonstrationsteilnehmerInnen verschickt. Doch nicht nur diejenigen,
die während den Demonstrationen im Februar kontrolliert oder in
Gewahrsam genommen wurden, erhielten einen Bescheid.

So werden die Folgen der fast flächendeckenden Videodokumentation der
Demonstrationen spürbar. Der Roten Hilfe e.V. sind mehrere Personen
bekannt, die an diesen Wochenende weder festgenommen noch kontrolliert
worden sind, denen nun aber Anhörungsbögen wegen einem angeblichen
Verstoß gegen das Versammlungsgesetz zugestellt worden sind.

Das zeigt, dass die Polizei die Videoaufzeichnungen des Wochenendes
zur genauen Identifikation der Demonstrantinnen und Demonstranten
auswertet. Mit den gewonnen Daten werden zum einen politisch aktive
Menschen kriminalisiert, zum anderen werden die Daten gespeichert und
weiterverarbeitet, um neue Erkenntnisse über linke, politische
Aktivitäten zu erlangen.

Leider ist davon auszugehen, dass diese Daten auch mit anderen
Behörden nach Belieben ausgetauscht werden. So kann das demokratische
Engagement gegen Grundrechtseinschränkungen im Februar in München dazu
führen, ins Visier des Verfassungsschutz zu geraten und dauerhaft in
einer Polizeikartei (z.B. beim BKA oder LKA) gespeichert zu werden.

Das Vorgehen der Münchner Polizei entlarvt die immer wieder
angebrachte Aussage der Polizei - wer friedlich demonstriere, habe von
polizeilicher Videoüberwachung nicht zu befürchten - als glatte Lüge.
Der Hauptaspekt der Bilddokumentation von Versammlungen ist nämlich
nicht die Verfolgung einzelner Straftaten, sondern die Datensammlung
über politisch missliebige Personen. Sogar das
Bundesverfassungsgericht hatte zu diesem Thema die Meßlatte höher
gelegt, schrieb es doch in seinem Urteil zur Volkszählung (BVerfGE 65,
1) 1983

"Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder
einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm
dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine
Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten.
Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des
Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil
Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf
Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten
freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist."

Die Ausübung elementarer demokratischer Grundrechte - des Rechts auf
Versammlungs-freiheit und des Rechts auf informationelle
Selbstbestimmung - wurde von der Münchner Polizei nicht gewährt. Nicht
nur in der Theorie - sondern ganz praktisch bekommen Bürgerinnen und
Bürger jetzt die Rechnung für ihr politisches Engagement.

Gegen die Bußgeldbescheid haben viele Menschen Widerspruch
eingereicht. Die Verhandlungen finden zum Teil schon jetzt im
Dezember, größtenteils voraussichtlich im Januar und Februar 2002
statt.


Für alle Klagen gilt:

Bei den Klagen kann es nicht Ziel sein, dass einzelne Menschen vor der
(bürgerlichen) Gerichtsbarkeit ihr sogenanntes "Recht" einklagen. Die
Klagen können nur ein Werkzeug für eine politische
Öffentlichkeitsarbeit sein. Nur wenn die Klagen von einer lauten und
solidarischen Arbeit begleitet werden, kann ein politisches Ziel
erreicht werden. Die Rote-Hilfe e.V. kann diese Arbeit nicht allein
leisten. Wir brauchen Unterstützung von allen Betroffenen, von allen
Gruppen und Zusammenhängen, die sich gegen diese repressiven Maßnahmen
wenden. Nur wenn wir zusammen unseren Protest gegen die
Kriminalisierung linker Zusammenhänge und politisch Arbeitender durch
massive Repressionen in die Öffentlichkeit tragen, macht der Weg der
Klage einen Sinn.

Fazit und Ausblick für die Sicherheitskonferenz 2003

Leider fehlte bei den meisten Gruppen und Organisationen, die die
Proteste gegen die Sicherheitskonferenz 2002 getragen haben, genau
diese Auseinandersetzung mit den Repressionsfolgen.

Für die Rote Hilfe bedeutet dies zum einen, dass in der konkreten
Mobilisierung 2003 die Folgen des letzten Jahres (z.B. die
Verhandlungen der Bußgeldbescheide) eine wichtige Rolle spielen
müssen. Zum anderen haben alle zu den Gegenaktivitäten 2003
aufrufenden Gruppen und Organisationen die Verantwortung, die
Antirepressionsarbeit organisatorisch zu unterstützen (z.B. durch
Veröffentlichung von Spendenaufrufen, Mitorganisation von
Veranstaltungen, etc.) und in ihrer politischen Arbeit zu
thematisieren. Wir hoffen auf Mitarbeit in der Roten Hilfe, statt die
Auseinandersetzung mit den Repressionsfolgen lediglich an die Rote
Hilfe zu delegieren.


12.12.2002

Rote Hilfe e.V. Ortsgruppe München
Schwanthalerstr. 139
80339 München
 muenchen@rote-hilfe.de
www.rote-hilfe.de

Spendenkonto:
Nr. 220 16-803
Postbank München
BLZ 700 100 80
Stichwort "Demonstrationsfreiheit"

Rechthilfe ist jeden Mittwoch 18 - bis 19 Uhr im Infoladen
(Breisacherstr. 12, 81667 München, Telefon 089/4489638)

 

12.12.2002
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