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»So etwas wie Magic Dust« - Chemische Waffen neuen Typs

Die russischen Sondereinsatzkommandos wollten die Geiseln und die Geiselnehmer in dem Moskauer Musicaltheater mit einem starken Betäubungsmittel in den Schlaf schicken. Und tatsächlich schliefen alle ein. Der Tod der Geiseln wurde in Kauf genommen. Das Szenario gibt einen Ausblick auf eine neue Ära chemischer Kriegsführung.

Nach Angaben des russischen Gesundheitsministers Yuri Shevchenko soll die verwendete Substanz ein Sedativum namens Fentanyl gewesen sein, ein starkes, dem Heroin verwandtes Opiat. Es steht zu vermuten, dass der Einsatz einer solchen Substanz auf medizinische Forschungen zurückgeht, die Möglichkeiten untersuchen, weit verbreitete Sedativa wie Valium, Prozac oder Zoloft in chemische Waffen zu verwandeln, um den Gegner augenblicklich zu sedieren und »außer Gefecht« zu setzen.

Nicht tödlich wirkend. Das Sunshine Project, eine international operierende NGO mit Sitz in Austin/Texas und Hamburg, die sich für ein Verbot biologischer und chemischer Waffen einsetzt, legte jetzt eine Dokumentation vor, die geheime Forschungs- und Entwicklungsprogramme für Chemiewaffen in den USA belegt. Die vom Pentagon initiierten Programme zur Verwendung von Betäubungsmitteln und psychoaktiven Substanzen als »nicht tödlich wirkende« Waffen verstoßen, so das Sunshine Project, gegen die internationale Konvention über chemische Waffen (CWC) von 1997.

Im Oktober dieses Jahres beschuldigte das Sunshine Project während der turnusmäßigen Konferenz der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag die Vereinigten Staaten, die CWC verletzt zu haben. Ed Hammond, Biotechnikexperte und Mitgründer des Sunshine Project, präsentierte der Konferenz Beweise für die Entwicklung von Betäubungsmittelwaffen, unter anderem im Auftrag des US Marine Corps. Die US-Regierung stufte zu diesem Zeitpunkt die Forschung als legal ein.

»Wir sehen unsere Beschuldigungen gegen das Pentagon und gegen das Programm zur Entwicklung 'nicht tödlich wirkender' Waffen als wichtigen Test für die OPCW an«, erklärte Hammond. »Wir versuchen auszuloten, ob die Chemiewaffenkonvention in der Lage ist zu reagieren, ob sie in der Lage ist, die Regeln auch dann durchzusetzen, wenn ein großes und mächtiges Land wie die USA sie ganz offensichtlich verletzen.« Hammond und das Sunshine Project wurden von der weiteren Teilnahme an der Den Haager Konferenz ausgeschlossen, man entzog ihnen kurzerhand die Akkreditierung.


Urbane Operationen

Im November 2000 führte das US Marine Corps gemeinsam mit der US Army und der britischen Armee eine Reihe von Planspielen durch. Federführend war das Joint Non-Lethal Weapons Directorate (JNLWD) des Pentagon. Auf der Abschlusskonferenz betonten die anwesenden britischen und US-amerikanischen Offiziere die Notwendigkeit, Waffen zu entwickeln, die Zivilisten in Schlaf versetzen; sie waren sich aber gleichzeitig darüber im Klaren, dass die Chemiewaffenkonvention dem im Wege steht. Wie aus den vom Sunshine Project veröffentlichten Dokumenten weiter hervorgeht, hat die US Army seit 1994 im Labor Edgewood Betäubungsmittelwaffen entwickelt.

Eine »nicht tödlich wirkende« Waffe wird von ihren Befürwortern als Waffe beschrieben, die Menschen außer Gefecht setzt und die maximal eines von hundert Opfern tötet oder dauerhaft schwer verletzt. Dazu zählen Plastikgeschosse ebenso wie Betäubungsmittelgranaten. Die Washington Post berichtete kürzlich über Szenarien des Einsatzes solcher Waffen. Das Pentagon spricht von »urbanen Operationen«. Man geht im Marine Corps davon aus, dass man, um eine Stadt von der Größe Chicagos zu erobern und zu halten, das gesamte Corps bräuchte, wenn die Bevölkerung auch nur mäßig feindlich gesinnt ist. Die Zeitung zitiert einen Offizier, Tom Johnston, Kommandeur des Centre for Joint Urban Operations (Norfolk), der den »Fortschritt des US-Militärs seit dem Zweiten Weltkrieg« hervorhebt. Von der Belagerung ganzer Städte sei man übergegangen zu »zielgerichteten Operationen, die bezwecken, den Willen des Feindes zu brechen, ohne einer großen Zahl von Zivilpersonen Schaden zuzufügen oder die Infrastruktur zu zerstören«.

Zielgerichtete Operationen, die nicht töten, sondern den Willen brechen, das ist eine weitere Definition »nicht tödlich wirkender« Waffen. Das Pentagon hat sie sich zu Eigen gemacht. »Nicht tödlich wirkende« Waffen gehören zur Kriegsführung im Belagerungszustand. Die Technologie findet ihren taktischen Einsatz gegen feindlich gesinnte Zivilisten, ob in städtischen Revolten oder in Antiterroroperationen.

Eines der vom Sunshine Project veröffentlichten Dokumente aus dem Jahr 2001 trägt den Titel »To The Future: Non-Lethal Capabilities Technologies in the 21st Century«. Ganz oben auf der Liste »nicht tödlich wirkender« Waffen stehen für die Autoren ruhig stellende Substanzen (so genannte calmatives), die direkt die kognitiven und motorischen Fähigkeiten der Gegner beeinträchtigen. In dem Dokument wird das CWC eine gewichtige »Herausforderung« für das Betäubungsmittelprogramm genannt.

Gewalt ohne Todesfolge. In den Untersuchungen über den Einsatz von Betäubungsmitteln geht es um neuartige Methoden, um die Substanzen »dem Trinkwasser zuzufügen, sie in Kontakt mit der Haut oder zur Inhalation zu bringen«, so heißt es in einer Studie, die unter Leitung von J. Lakoski, W.B. Murray und J. Kenny am Applied Research Laboratory der medizinischen Fakultät der Universität von Pennsylvania entstand. Projektiert wurden dort mit Betäubungsmittel gefüllte Plastikgeschosse und Verfahren so genannter Mikroverkapselung. Dabei werden die Chemikalien in winzige Kügelchen verpackt, die sich bei Kontakt auflösen und die Substanzen freisetzen. Als ein potenzielles Einsatzfeld für die Munition beschreibt die Studie »aufgewiegelte Massen«, etwa Flüchtlinge, die nicht willens sind, auf die Verteilung von Lebensmittelrationen zu warten. Eine Mitarbeiterin der Universität, Barbara Hale, erklärte zu dieser Studie, dass sie darauf abziele, »mögliche Alternativen zum Einsatz von Gewalt mit Todesfolge in Krisensituationen aufzuzeigen«.

Professor Paul Root Wolpe lehrt ebenfalls an der Universität von Pennsylvania und ist Bioethikberater der Nasa. Er vergleicht die ethischen Fragen, die sich bei der Entwicklung dieser neuartigen Technologie stellen, mit denen während der Entwicklung der Nuklearwaffen. Ein neues Wettrüsten stehe bevor, diesmal gestützt auf medizinische Forschung. »Das Problem wird seit der Antike diskutiert. Bereits Hippokrates und Sokrates stellten die Frage, inwieweit ein Arzt den Staat unterstützen muss. Doch die Verabreichung von Drogen gegen den Willen der Leute läuft der medizinischen Ethik grundsätzlich zuwider.«

Lakoski, Murray und Kenny behaupten ebenso wie das JNLWD, dass die Betäubungsmittelstudie nur auf das persönliche Forschungsinteresse der beteiligten Wissenschaftler zurückgehe und keinesfalls im Auftrag des JNLWD oder des Verteidigungsministeriums entstanden sei. Deshalb blieben ethische Erwägungen unberücksichtigt. Es sei reiner Zufall, dass zwei der Forscher gleichzeitig für das Human Effects Laboratory arbeiten, das die Wirkungsweise »nicht tödlich wirkender« Waffen auf Menschen untersucht - für das JNLWD.


War without tears

Joe Rutigliano, ein Mitarbeiter des Judge Advocate General (JAG) beim Marine Corps, erklärt: »Das JNLWD erreichen jedes Jahr Hunderte von Anfragen unabhängiger Forschungseinrichtungen für die Entwicklung nicht tödlich wirkender Agenzien. In vielen dieser Dokumente finden Sie unverlangte Empfehlungen.« Rutiglianos Statement zufolge finanziert das JNLWD keine Forschung an neuen Betäubungsmittelwaffen.

Und dennoch gibt es im JNLWD den Wunsch nach chemischen Waffen neuen Typs. So zitiert das Militärfachblatt Navy News and Undersea Technology (10. Mai 1999) die Forschungsdirektorin des JNLWD: »Wir brauchen etwas neben Tränengas, so etwas wie ruhig stellende Substanzen, Betäubungsmittel, die die Leute in Schlaf oder in gute Laune versetzen.« Und der Kommandeur des JNLWD, Colonel George Fenton, sagte dem New Scientist (16. Dezember 2000): »Ich hätte gern so etwas wie magic dust, der jede Person in einem Gebäude in Schlaf versetzt, ob kämpfende Truppe oder Zivilist.«

Joe Rutigliano war bei den bereits erwähnten Planspielen US-amerikanischer und britischer Militärs anwesend. Damals einigte man sich auf folgende Marschrichtung: »Das Verteidigungsministerium darf diese Technologie nicht verfolgen. Falls viel versprechende Technologien existieren, die das Verteidigungsministerium nicht verfolgen darf, wird ein 'Memorandum of Understanding' mit dem Justiz- oder dem Energieministerium aufgesetzt.« (JNLWD Assessment Report, 11/2000)

Alltäglicher Einsatz. Ed Hammond ist überzeugt, dass das US-Militär Betäubungsmittel des gleichen Typs, wie er in Moskau bei der Erstürmung des Musicaltheaters Verwendung fand, nutzen möchte. »Sie wollen calmatives im gesamten Spektrum militärischer Gewaltanwendung. Wir reden also von Einsätzen jeder Art, von so genannten friedenserhaltenden Maßnahmen bis zum Krieg im eigentlichen Sinn. Die Planer im Pentagon antizipieren, dass ihre Streitkräfte in Zukunft immer wieder in Situationen kommen werden, in denen die Notwendigkeit besteht, eine große Anzahl von Zivilisten unter Drogen zu setzen. Hier liegt das Problem.«

In den Dokumenten des JNLWD sind solche Situationen beschrieben, wobei die Zielpersonen häufig people of colour sind. Sie erscheinen beispielsweise als afrikanische Frauen, indigene Südamerikaner oder junge Asiatinnen. Gelegentlich geht es auch um weiße männliche Collegestudenten.

Professor Julian Perry Robinson von der Universität Sussex ist Experte für chemische Waffen. Nach seiner Überzeugung fallen die neuen Betäubungsmittelwaffen unter die Chemiewaffenkonvention, ihr Einsatz ist somit verboten: »Staaten kamen plötzlich auf die verrückte Idee mit der nicht tödlich wirkenden Waffentechnologie. Und nun denken sie, die CWC steht der weiteren Entwicklung im Wege.«

Das Sunshine Project pocht auf das existierende internationale Recht. »Wenn die USA in der Welt herumlaufen und mit dem Finger auf andere Staaten zeigen, weil sie die Abkommen zur Kontrolle biologischer und chemischer Waffen nicht einhalten, dann wäre es an ihnen, vor der eigenen Tür zu kehren. Unsere Arbeit dokumentiert ganz genau, woran es in den USA an diesem Punkt hapert«, erklärt Ed Hammond.

Für das Sunshine Project kündigt er weitere Ermittlungen an. »Das in Moskau verwendete Gas ist das russische Gegenstück zu den so genannten nicht tödlich wirkenden chemischen Waffen, die die in den USA laufenden Programme entwickeln. Die Waffen machen die Leute handlungsunfähig - bis zum Tod.« Auch Hammond warnt vor einem neuen Wettrüsten. »Wenn die Regierungen nicht den politischen Willen aufbringen, den Gasangriff in Moskau zu verurteilen, dann stehen wir vor einer sehr gefährlichen Situation: dem alltäglichen Einsatz chemischer Waffen.«


Aus dem Englischen von Thomas Atzert.

Stephen James Kerr ist Journalist und lebt in Toronto. Die Website des Sunshine Project findet sich unter  http://www.sunshine-project.de

 

09.12.2002
Stephen James Kerr [subtropen #20/12]   [Aktuelles zum Thema: Antimilitarismus]  Zurück zur Übersicht

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