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Algermissen: Demoaufruf nach Pogrom

Demonstration
Samstag, 14.9.2002
Bahnhofsplatz Algermissen
11:00 Uhr


Algermissen nach Ausschreitungen - Zusammenfassung & Demoaufruf
von Niedersächsischer Flüchtlingsrat - 07.09.2002 18:15

Am 31.8. und am 1.9. 2002 kam es in Algermissen im Landkreis Hildesheim wiederholt zu pogromartigen Ausschreitungen gegen eine Flüchtlingsunterkunft in der Hermann-Löns-Straße, drei Flüchtlinge wurden dabei verletzt. Dabei griffen bis zu fünfzig Besucher eines nahegelegenen Schützenfestes mit Eisenstangen bewaffnet die Unterkunft an.
Gegen die Normalität von Rassismus...
Rassistische Grundstimmungen finden sich in vielen Orten in Deutschland, und auch rassistisch motivierte tätliche Angriffe sind im Jahr 2002 fast schon alltäglich. Diese Normalität ist es, die - wie hier in Algermissen geschehen - die Täter dazu bringt und es ihnen ermöglicht, ihren Ressentiments auch Taten folgen zu lassen. Die Normalität ist
es, aus der die Pogrome erwachsen. Und genau diese Normalität ist es, die es zu durchbrechen gilt.
Das, was in Algermissen geschehen ist, gehört zu den schwersten rassistischen Ausschreitungen, die es in den letzten Jahren in Niedersachsen gegeben hat. Erschreckend sind nicht nur die Dauer der Ausschreitungen und Anzahl der Täter, erschreckend sind auch die Reaktionen der verantwortlichen Stellen der Gemeinde. Anstatt sich mit den Flüchtlingen solidarisch zu zeigen, galt ihre Hauptsorge dem guten Ruf Algermissens. Es wurde versucht, die Vorfälle herunterzuspielen und man suchte die Verantwortung vor-rangig außerhalb der Gemeinde oder gar in der Präsenz der Flüchtlinge selbst zu finden.

...und rassistische Normalität!
Wir werden nicht zulassen, dass in Algermissen jetzt schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen wird, als wäre nichts geschehen. Jeglicher Versuch einer Normalisierung erscheint uns unerträglich. Um unserem Protest Ausdruck zu verleihen, rufen wir für Samstag, den 14.9. zu einer Demonstration in Algermissen auf. Wir fordern:

- die konsequente Verfolgung aller an den Ausschreitungen Beteiligten
- die Anerkennung der Tatsache, dass es in Algermissen ein ernsthaftes Problem mit Rassismus gibt und dass entsprechende Konsequenzen gezogen werden
- eine offizielle Entschuldigung der Gemeinde Algermissen bei den Flüchtlingen und eine Wiedergutmachung in Form von Schmerzensgeld
- die sofortige Schließung aller Sammelunterkünfte, die neben den menschenunwürdigen Wohnverhältnissen auch eine leichte Zielscheibe für den völkischen Mob darstellen, und die Unterbringung von AsylbewerberInnen in Wohnungen

Kurze Zusammenfassung der Ereignisse:

Vorgeschichte
Schon bevor die Situation an dem Wochenende 31.8./1.9. eskalierte, kam es in den letzten Monaten wiederholt zu rassistischen Pöbeleien und Übergriffen auf die Flüchtlinge. Vor 5-6 Monaten wurde ein Tamile vor seinem Zimmer ins Gesicht geschlagen und erstattete Anzeige gegen den Täter. Vor drei Monaten wurden sämtliche Wände innerhalb der Flüchtlingsunterkunft mit rassistischen und rechtsradikalen Parolen sowie Hakenkreuzen besprüht, welche die Gemeinde beseitigen ließ, offenbar ohne Strafanzeige zu stellen. Vor 2,5 Monaten wurden tamilische Flüchtlinge von einem Mann, der einen in der Flüchtlingsunterkunft lebenden deutschen Obdachlosen besuchte, mit einer Gaspistole aufgefordert, "ins Haus" zu gehen. Ständig hat es nach Aussage der tamilischen Flüchtlinge
Drohungen und Beschimpfungen durch Besucher dieses Obdachlosen gegeben, die offensichtlich ungehindert in der Unterkunft ein- und ausgehen konnten.

Die Ereignisse vom Wochenende:
Bereits am Samstag pöbelte eine Gruppe von zwanzig Jugendlichen vier Tamilen auf dem Algermissener Schützenfest an. Die Flüchtlinge flohen zurück in ihre Unterkunft, wurden jedoch von der Gruppe verfolgt und mehrfach geschlagen. Ein Flüchtling erlitt eine Verletzung am Arm, ein zweiter eine Platzwunde am Hinterkopf, die im Krankenhaus genäht werden musste. Die zu Hilfe gerufene Polizei schützte die Flüchtlinge vor weiteren
Übergriffen, nahm jedoch keine Personalien der Täter auf. Lediglich die Personalien der betroffenen Flüchtlinge wurden registriert. Danach verließ die Polizei zunächst den Ort.
Nachdem die Polizei weg war, kamen die Täter zurück und zerschlugen mehrere Scheiben der Unterkunft mit Stühlen. Ein Tamile wurde durch einen Glassplitter im Auge getroffen. Von der erneut gerufenen Polizei verlangten die Bewohner nunmehr ultimativ eine Unterbringung in einer anderen Unterkunft, was von der Polizei jedoch abgelehnt wurde. Wenigstens wurde das Gebäude über Nacht von der Polizei bewacht.
Am Sonntagabend überfiel ein Mob von fünfzig teils mit Eisenstangen bewaffneten Dorfbewohnern lauthals rassistische Parolen grölend erneut die Unterkunft. Einige Personen drangen in die - nicht abschließbare - Flüchtlingsunterkunft ein, die Flüchtlinge konnten sich in den ersten Stock retten und versuchten sich so gut wie möglich zu verbarrikadieren. Die anfangs mit nur vier Beamten angerückte Polizei brauchte über eine Stunde, um die um ihr Leben fürchtenden Flüchtlinge zu befreien. Erst jetzt wurden die Flüchtlinge nach Hildesheim evakuiert, mussten aber gegen ihren Willen einige Tage später wieder zurück nach Algermissen, wobei die Gemeinde versuchte, den Vorfall herunterzuspielen ("harmlose Entgleisung") und zudem noch behauptete, die Flüchtlinge hätten keine Angst mehr.

Nachspiel
Erst auf Intervention des niedersächsischen Innenministeriums hin wurden die Flüchtlinge, die unter keinen Umständen in Algermissen bleiben wollten, in Hildesheim und anderen Orten außerhalb des Landkreises untergebracht. Die Gemeinde beraumte einen "Runden Tisch" an, zu dem Polizei, Schützenfestbetreiber, Parteien des Ortsrats und Kirchen eingeladen waren. Die Betroffenen und die Unterstützerorganisationen waren explizit nicht
eingeladen. Heraus kam eine Resolution unter dem Titel "Algermissen ist weltoffen und tolerant", die zwar einerseits "Hass Gewalt, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit" verurteilt, gleichzeitig aber die Schuld für Rassismus der Präsenz der Asylbewerber zuweist und Verständnis für die Pogrome aufbringt: "18 junge Männer in einem kleine Ort unterzubringen, führt fast zwangsläufig zu negativen Vorkommnissen, wie sie bereits in der Vergangenheit
mehrfach zu verzeichnen waren".

Demonstration
Samstag, 14.9.2002
Bahnhofsplatz Algermissen
11:00 Uhr

Gesamte Erklärung des runden Tisches
Von: ein Schmuckstück! 07.09.2002 20:08

"Algermissen ist weltoffen und tolerant"

Algermissen (r). Folgende Resolution haben Vertreter der Gemeinde, der Ratsfraktionen von CDU und SPD, der katholischen und evangelischen Kirche sowie der Vereine, die das Volksfest organisieren, gestern gemeinsam verabschiedet:
"Wir stehen ein für ein menschliches, weltoffenes und tolerantes Algermissen, für das friedliche Zusammenleben aller Menschen in dieser Gemeinde, ungeachtet ihrer Herkunft, Weltanschauung, Religion, Kultur oder Hautfarbe. Wir verurteilen Hass, Gewalt, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Wir dulden keinen Antisemitismus, keine Schändung von religiösen und kulturellen Einrichtungen, keine feigen Übergriffe auf Menschen jeglicher Herkunft in unserer Gemeinde.
Wir stehen zusammen gegen das Wegschauen und die Gleichgültigkeit. Wir wollen eine Gemeinde, in der kein Mensch Angst haben muss vor Verfolgung und Gewalt.
Wir verurteilen aufs Schärfste die Vorkommnisse, die sich am vergangenen Wochenende rund um unser Schlichthaus abgespielt haben. Wir haben kein Verständnis für jede Form von versuchter oder tatsächlicher Selbstjustiz. Das Gewaltmonopol liegt einzig und allein bei der Polizei. Wir bedanken uns bei den Polizeibeamten, die durch ihr Handeln die Situation beruhigt haben.
Wir betonen jedoch ausdrücklich: Die Übergriffe haben nichts mit dem Volksfest zu tun, bei dem Hunderte von anständigen und rechtschaffenen Bürgerinnen und Bürgern fröhlich miteinander feiern und traditionell die Dorfgemeinschaft pflegen.
Wir distanzieren uns mit aller Schärfe von denjenigen Chaoten, die das Volksfest in Algermissen als Deckmantel für Gewalt gegenüber Menschen welcher Nationalität und Hautfarbe auch immer benutzen wollen. Dies gilt für die, die von auswärts zu diesem Zweck nach Algermissen gekommen sind genauso wie für die einzelnen Algermissener Bürger, die sich an solchen schändlichen Aktionen beteiligt haben.
Deutsche und Ausländer können voneinander lernen, wenn sie sich im gegenseitigen Respekt und mit Achtung vor dem jeweils Fremden begegnen. Wir wollen dazu beitragen, ein Klima wechselseitiger Partnerschaft und Toleranz zu schaffen, in dem sich das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern positiv entwickeln kann. Gleichzeitig betonen wir aber auch, dass ein gemeinsames Miteinander, an dem uns sehr liegt, nur dann gewährleistet ist, wenn
sich alle Beteiligten an die Gesetze und die Gepflogenheiten beispielsweise des respektvollen Umgangs zwischen Mann und Frau halten.
Außerdem appellieren wir an den Landkreis Hildesheim, möglichst Unterbringungskonstellationen wie die in Algermissen zu vermeiden. 18 junge Männer in einem kleinen Ort unterzubringen, führt fast zwangsläufig zu negativen Vorkommnissen, wie sie bereits in der Vergangenheit mehrfach zu verzeichnen waren. Abschließend verwahren wir uns gegen jede Darstellung, die die Gemeinde Algermissen und ihre Bürger pauschal in eine
rechtsradikale Ecke zu drängen versucht. Die Gemeinde Algermissen ist weltoffen und tolerant - und wird es trotz vereinzelter Chaoten bleiben."

 

11.09.2002
anonym zugesandt   [Aktuelles zum Thema: Antirassismus]  Zurück zur Übersicht

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