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Strasbourg: 17 Pseudo-"GeiselnehmerInnen" von NO BORDER freigelassen | blamierte Staatsanwaltschaft stürzt sich wieder auf AHMED

Am Freitag, 23. August, besetzte eine Gruppe von 17 Personen friedlich eine Außenstelle des französischen Justizministeriums in Straßburg, um die Justiz zu kritisieren,
die an AHMED in Folge des NO BORDER-Camps voreilig und parteiisch ein Exempel statuiert hatte.

Die Aktion endete damit, daß die 17 DemonstrantInnen unter Gewaltanwendung festgenommen wurden. Sie wurden dem Strafgericht im Schnellverfahren vorgeführt,
nachdem sie einen verlängerten Polizeigewahrsam und eine Inhaftierung im Gefängnis über sich ergehen lassen mußten. Angesichts der Maßlosigkeit der Vorwürfe und der
Anklagerede des Staatsanwalts
VANNIER erklärte sich der Richter für nicht zuständig, das Gericht gab das Verfahren ab und die Festgehaltenen wurden freigelassen.

Drei DemonstrantInnen, die sich außerhalb des besetzten Gebäudes befanden, waren ebenfalls unter gewaltsamen Umständen festgenommen und für 24 Stunden in
Polizeigewahrsam gehalten worden. Sie werden am 20. März vor Gericht erscheinen müssen. Im übrigen ist die Staatsanwaltschaft, der die Verurteilung AHMEDs nicht
hart genug ist, in Gestalt von Staatsanwalt VANNIER dabei, gegen diese erste Entscheidung in Berufung zu gehen.

AHMED MEGUINI ist in Haft seit seiner Festnahme bei einer Demonstration des internationalen No-Border-Camps, das für Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit und
gegen Grenzen kämpft und vom 18. bis 28. Juli in Straßburg stattfand. Er wurde für Taten, die er weiterhin bestreitet, zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, davon drei ohne
Bewährung.
Seit seiner Verhaftung hält ihn die Gefängnisverwaltung in Isolationshaft und verweigert ihm jeglichen Besuch, unter dem Vorwand, als Aktivist des No-Border-Netzwerks
bestünde die Gefahr, daß er seine gefängnisfeindlichen Ideen unter seinen Mitgefangenen verbreitet. Die Gruppe forderte das Ende der Isolationshaft und das Besuchsrecht,
auf das alle Gefangenen
Anspruch haben.

MUSKELSPIELE
Die Präfektur glänzte mit ihrer Maßlosigkeit, die so weit ging, das GIPN (spezielle Eingreiftruppe der französischen Polizei) mit der Festnahme der BesetzerInnen zu
beauftragen. Der Präfekt forderte den Einsatz von Gummigeschossen und hatte die Anwesenheit der Verbrechensbekämpfungsbrigade sichergestellt, er schickte auch
eiligst
Krankenwagen und Feuerwehr. Vier Personen wurden ebenso rabiat wie diskret auf die Wache gebracht. Der Staatsanwalt eilte anschließend auf den Schauplatz und rief
"Geiselnahme!" - ein Tatvorwurf, auf den fünf Jahre Gefängnis stehen; außerdem versicherte er, daß die Festnahmen ohne Gewalt abgelaufen seien.

JURISTISCHE VERIRRUNGEN
Die Entscheidung, die Beschuldigten am Sonntagabend zur Haft ins Gefängnis zu überführen, verhieß nichts Gutes für die Achtung der Unschuldsvermutung in dieser
grotesken Affäre.
Die Vorführung im Schnellverfahren am Montag, 26. August, versammelte 17 Beschuldigte auf der Anklagebank und verstieß nicht nur gegen die Rechte der Verteidigung,
sondern auch gegen die Tatsachen und die elementarste Logik. Diese voreilige und heimtückische Verfahrensweise läßt praktisch keine Zeit, eine wirkliche Verteidigung
vorzubereiten.
Dennoch laufen die Beschuldigten, die das Schnellverfahren verweigern, Gefahr, bis zu ihrem Prozeß in Untersuchungshaft zu landen, einen oder mehrere Monate später,
eine Form der Erpressung, für die AHMED bezahlt hat. Wie bei jedem Prozeß von NO BORDER-DemonstrantInnen oder ihrem Unterstützungskomitee war der Zugang zum
Gerichtssaal
teilweise blockiert und machte aus der Anhörung eine geschlossene Veranstaltung.

Es wurde bereits betont, in welchem Punkt die Anklage, die die 17 DemonstrantInnen trifft, Fantasie ist: Sie werden beschuldigt wegen "Freiheitsberaubung von Personen
mit Befreiung innerhalb von sieben Tagen und Hausfriedensbruch", obwohl die betroffenen Angestellten des
Justizministeriums vollkommen frei waren, wegzugehen. Bei der Anhörung bestätigten die Angestellten selbst die Version der Angeklagten: Sie erklärten, daß sie auf
Anweisung von oben (per Telefonanruf aus Paris) in den Räumen geblieben waren. Die vor Ort anwesenden
Personen, einschließlich der JournalistInnen, wie in der Lokalpresse (Dernières Nouvelles d'Alsace) nachzulesen, waren ZeugInnen davon. Der einzige Angestellte, der sich
als Nebenkläger präsentierte, erklärte übrigens, daß er das auch nicht in seinem eigenen Namen
macht, sondern auf Anweisung und im Namen seiner Vorgesetzten, und auch nicht wegen "Freiheitsberaubung", sondern wegen "Nutzung von Telefon, Fax, Kopierer und
versuchter Nutzung des Comp! uters". Die ZeugInnen der Anklage verwandelten sich so durch ihre Äußerungen zu ZeugInnen der Verteidigung - das, obwohl Staatsanwalt
VANNIER ihnen fast
keine Fragen stellte und diese Aufgabe dem NO BORDER-Anwalt überließ.

Was die Anklage wegen "Hausfriedensbruch" (in Frankreich "Wohnungsverletzung") betrifft, haben die Anwälte der Verteidigung gezeigt, genau wie bei der
Freiheitsberaubung, daß der
Tatbestand nicht erfüllt ist, es sei denn, die Angestellten des Justizministeriums hätten in ihrer Verwaltung gewohnt...

Diese Anklagen, die zu den bisher bei zahlreichen Polizeieinsätzen klassischen "Beleidigungen" und "Widerstandsleistungen" hinzukommen, hätten einen juristischen
Präzedenzfall geschaffen, um eine Vervielfachung der Verhaftungen von DemonstrantInnen zu rechtfertigen und dem Staat die Möglichkeit zu geben, sie hart zu verurteilen.
Der Staatsanwalt hat das klar gezeigt im Lauf der Anhörung, indem er bekräftigte, daß man
dieser Art von Protestaktionen einen Riegel vorschieben müsse. "Das muß aufhören", hämmerte Staatsanwalt VANNIER während seines Plädoyers unaufhörlich ein.

Die Personen, die außerhalb des Gebäudes angehalten wurden, sind übrigens wegen Widerstand und Anstiftung zum Aufruhr beschuldigt, wobei es schwer fällt, zu
glauben, daß sie zu dritt einen Aufruhr veranstalten können hätten.

Staatsanwalt VANNIER brachte zweifellos eine seiner schönsten Blüten zustande, als er die Pressefreiheit verurteilte, indem er in der Anordnung des Haftbefehls als
erschwerenden Umstand die "sehr emotionale Inszenierung für die Öffentlichkeit durch die Täter selbst
und die damit verbundene Beeinträchtigung des öffentlichen Friedens" vermerkte; "außerdem wollten sie die Medien aufhetzen..." erzürnte sich der Staatsanwalt in der
Anhörung.

FLOP
Ausdrücklich im Namen der politischen Notwendigkeit, jeden Protest zu unterdrücken, forderte daher die Staatsanwaltschaft für die 17 DemonstrantInnen Gefängnisstrafen
(einen Monat ohne und drei mit Bewährung). Das Gericht hat letztendlich erklärt, es sei nicht in
der Lage, die Taten zu bewerten. Nach so einer offensichtlichen Abfuhr (deutlicher kann man nicht sagen, wie sehr der Staatsanwalt den Sinn für Verhältnismäßigkeiten
verloren hatte) hat die Staatsanwaltschaft schließlich der Freilassung der 17 Geiseln zugestimmt,
die sie seit Freitag abend festgehalten hatte. Es sei nochmals hervorgehoben, daß sie für diese imaginären Verbrechen trotzdem zwei Nächte auf einer Polizeiwache und
eine Nacht im
Gefängnis verbracht hatten. Dem Staatsanwalt steht es trotzdem offen, die Angelegenheit vors Schwurgericht zu bringen. Die Anklagen werden in einigen Tagen bekannt
werden.

EIN EXEMPLARISCHER PROZESS FÜR EINE ALLGEMEINE SICHERHEITSOFFENSIVE:

Auch wenn sich heute die Anklagegründe als strafwütige Hirngespinste des örtlichen Staatsanwalts erwiesen haben, bleibt dieser Repressionseifer Beispiel einer
ernsthaften staatlichen Politik, bei der es um viel mehr als den Kontext von Straßburg geht und deren
Ziel ist, jegliche Anwandlungen von sozialem und politischem Protest zu ersticken. Während die Urlaubszeit in einem Sicherheitsdelirium zu Ende geht (Unterdrückung der
Sans-Papiers-Bewegungen und Drohung neuer Massenabschiebungen, erste Auslieferung eines
ehemaligen Militanten der Roten Brigaden an die italienischen Gefängnisse, Inkrafttreten der "Gesetze über die alltägliche Sicherheit"...), ist es nicht unbedeutend, daß
eine einfache Besetzung, eine bisher allgemein praktizierte politische Aktionsform, aufs äußerste kriminalisiert und zum terroristischen Akt deklariert wird.

Angesichts des Grenzcamps von NO BORDER (einem Netzwerk von Gruppen und Einzelpersonen, das für die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit und gegen Grenzen
kämpft und während zehn Tagen, vom 18.-28. Juli, mehr als 2000 Personen in Straßburg zusammengeführt hatte)
hatten Präfektur und Staatsanwaltschaft bereits versucht, die verschiedenen vorgesehenen Demonstrationen (Protestmarsch gegen das Abschiebezentrum, Versammlung
der Sans-Papiers, Straßentheater und Vorstadt-Karawane) um jeden Preis zu verhindern. Erinnert sei nur an
die Schüsse mit Gummigeschossen aus potentiell tödlich kurzen Distanzen, das totale Verbot von Demonstrationen und Versammlungen von mehr als fünf Personen durch
Erlaß des Präfekten, die gewaltsamen Verhaftungen und zahlreichen Ingewahrsamnahmen, die
Ermittlungsverfahren gegen sechs DemonstrantInnen und die Verhaftung und Verurteilung von AHMED aufgrund einiger widersprüchlicher Zeugenaussagen von Polizisten.

DIE STAATSANWALTSCHAFT GEHT GEGEN AHMED IN BERUFUNG:

Trotz der heutigen Niederlage bleibt die Staatsanwaltschaft stur und hat angekündigt, daß sie in Berufung gehen wird, um eine härtere Strafe gegen AHMED zu erwirken;
dieser zweite Prozeß wird in einem oder zwei Monaten stattfinden.

Aber zahlreiche Gruppen haben jetzt bereits ihre Solidarität zum Ausdruck gebracht und sind dem Unterstützungskollektiv für AHMED und die anderen Angeklagten
beigetreten. Anläßlich seines Prozesses gab es bereits Solidaritätskundgebungen in einer ganzen Anzahl
französischer und europäischer Städte.

Dank ihrer Entschlossenheit und infolge ihrer Besetzungsaktion glauben die 17 angeklagten AktivistInnen der Unterstützungsgruppe übrigens, daß sie sich AHMED bereits
- dank der überraschenden Beihilfe durch Staatsanwalt VANNIER - ganz gut genähert und so mutig dem
gegen ihn verhängten Besuchsverbot getrotzt haben.

Sie sind dennoch weiter unzufrieden, denn obwohl sie eine Nacht lang im selben Gefängnis waren, haben sie es noch nicht ganz geschafft, AHMED aus seiner Isolation zu
holen.
Deshalb haben sie fest vor, bis zu seiner vollständigen Freilassung mit ihren Aktionen weiterzumachen.

No Border im Exodus fordert außerdem die Einstellung aller Verfahren gegen die anderen TeilnehmerInnen des Camps und neue Protestaktionen bei Vertretungen des
französischen Staates, seiner Justiz und seiner Gefängnisse.

Unterstützungskomitee für Ahmed und die anderen Angeklagten
No Border im Exodus

Montag, 26. August, 20:30 Uhr

 

28.08.2002
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