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TV: ARTE Themenabend 16.7.02: Aktivismus heute

ARTE Themenabend, Dienstag 16.7.02
WAS TUN? AKTIVIMUS HEUTE

Fast auf den Tag genau, ein Jahr nach den Protesten von Genua, stellt
der ARTE-Themenabend die Frage: Was tun? Vorgestellt werden neue Formen
demokratischen Engagements und politischen Aktivismus, die äußerst
flexibel und mit vielfältigen Strategien operieren sowie einen
zeitgemäßen Begriff von Solidarität und Selbstbestimmung.

20.45
EINE WELT ZU ERFINDEN
Dokumentation · 40 MIN · VPS 20.45
von Florian Schneider, Deutschland 2002, Deutsche und französische
Erstausstrahlung

Was soll man anfangen mit dem Wissen um all die Ungerechtigkeiten, mit
dem unbedingten Wunsch nach Veränderungen? Was tun mit der Frage "Was
tun?" Im Eröffnungsfilm erörtern vier führende Theoretiker die
brennenden Fragen einer Bewegung, die vorschnell mit dem Etikett
"Globalisierungsgegner" abgestempelt wurde. Die Soziologin Saskia Sassen
aus Chicago hat mit ihren Studien zur "Global City" die Forschung zur
Globalisierung entscheidend geprägt. In der Protestbewegung seit Seattle
sieht sie eine neue politische Architektur entstehen, die durch die
Vervielfachung lokaler Bezugspunkte eine Politik des Globalen erst
denkbar und möglich macht. Franco Bifo Berardi, notorischer Querdenker
aus Bologna, ist flammender Verfechter einer Kultur der Vernetzung. Er
plädiert für einen neuen Begriff von Freundschaft als Grundlage von
Beziehungen, die sich jenseits der alten Logik von Markt und Wettbewerb
formieren. Michael Hardt und Toni Negri haben mit ihrem Bestseller
"Empire" das politische Manifest einer globalen Bewegung vorgelegt. Der
junge US- amerikanische Literaturprofessor und der
Staatsrechtstheoretiker aus Rom überlegen, wie sich aktuelle politische
Formationen, die sie mit dem Begriff der "Multitude" ("Menge" /
"Vielfalt") zu fassen versuchen, von ihren Vorläufern unterscheiden. "Im
Gegensatz zur Masse, die immer passiv bleibt, ist die ,Multitude' aktiv.
Es geht um die Fähigkeit, bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam
handeln zu können." (Michael Hardt)

21.25
GANZ IN WEIß - TUTE BIANCHE
Dokumentation · 30 MIN · VPS 21.25
von Adonella Marena, Italien 2002, Deutsche und französische
Erstausstrahlung

"Tute blu" heißt im Italienischen der Blaumann, die traditionelle
Arbeitskleidung des Facharbeiters, der nicht nur einen Job hat, sondern
vor allen Dingen stolz auf seine Tätigkeit ist, seine Rechte kennt und
dafür auch zu kämpfen versteht. Doch ein solches Selbstbewusstsein, das
immerhin die Grundlage der Arbeiterbewegung, der größten sozialen
Bewegung des 20. Jahrhunderts, bildete, ist heutzutage vom Aussterben
bedroht. Als Ende der 90er Jahre die Arbeitslosenproteste aus Frankreich
herüberschwappten, organisierte sich in Norditalien ein Aktionsbündnis
mit dem Namen "Tute bianche" quer zu den traditionellen politischen
Formationen. "Tute bianche" machte den "weißen Overall" zu seinem
Erkennungszeichen. Damit sollte denjenigen ein Erscheinungsbild
verliehen werden, die in der heutigen Gesellschaft unsichtbar sind, die
kein Gesicht und keine Stimme haben: Arbeitslose, Rechtlose, Illegale,
Gelegenheitsarbeiter, Obdachlose - kurz: die Gesamtheit aller an den
Rand gedrängten Menschen. Weit über die spezifischen, italienischen
Verhältnisse hinaus repräsentierten die "Tute Bianche" einen ebenso
riskanten wie energiegeladenen Ansatz politischer Praxis, der von
kleinen Aktionen im Wohnviertel vor Ort bis hin zu spektakulären
theatralischen Auftritten und Aktionen auf den Demonstrationen gegen die
verheerenden Auswirkungen der Globalisierung reichte. Ob in Seattle,
Prag oder Genua - die "Tute Bianche" waren überall dabei. Nach den
schweren Krawallen während des G8-Gipfels in Genua, stellt sich jedoch
für die "Tute Bianche", wie für viele andere Globalisierungskritiker die
Frage, welcher Formen sich der Protest gegen die Missstände vor Ort und
in der globalen Welt nun bedienen kann.

21.55
"DEPORTATION CLASS"
Dokumentation · 26 MIN · VPS 21.55
von Kirsten Esch, Deutschland 2002, Deutsche und französische
Erstausstrahlung

"Was können Sie tun?" liest man in einem Aufruf einer
Lufthansa-Broschüre "Sie fühlen sich vielleicht ohnmächtig, wenn Sie an
Bord eines Flugzeuges an Händen und Füßen gefesselte Menschen sitzen
sehen, die in Begleitung von Zivilpolizisten sind. Sie glauben, nichts
tun zu können, um die gewaltsame Abschiebung aufzuhalten. Irrtum!" Seit
wann protestiert die Lufthansa gegen ihre eigenen Abschiebungsflüge? Bei
genauerem Hinsehen entpuppt sich die Broschüre als täuschend echte
Fälschung: "Deportation Class" lautet der ironische Absender der
Broschüre. "Deportation Class" ist der Name einer Kampagne gegen
Zwangsabschiebungen. Der gewaltsame Erstickungstod des sudanesischen
Flüchtlings Mohammed Aamir Ageep an Bord einer Lufthansa Maschine war
vor drei Jahren der Auslöser für das bundesweite Netzwerk "Kein Mensch
ist illegal", eine Kampagne gegen die Abschiebungen durch
Fluggesellschaften zu starten. Ziel dieser Kampagne ist es, die an den
Abschiebungen beteiligten Fluglinien soweit unter öffentlichen Druck zu
setzen, dass sie den Transport von Zwangspassagieren künftig verweigern.
Die Lufthansa mit den in der Zahl meisten Abschiebungen ist dabei
verstärkt in der Kritik. Für ihre Kampagne haben sich die Aktivisten der
"Deportation Class" bisher eines Satzes vielfältiger Methoden bedient,
die nicht den Konzern an sich, sondern bestimmte, leicht verwundbare
Stellen seines Image im Visier haben: Von aufwändig gestalteten
Websites, die die Konzern- Ästhetik parodieren, über täuschend echt
gestaltetes, gedrucktes Werbematerial, das in Call- Centern, vor
Flugschaltern und in Reisebüros für Verwirrung sorgt, bis hin zu
Performances bei Aktionärsversammlungen und Informationsveranstaltungen
der Fluggesellschaft. Das Unternehmen Lufthansa als schwächstes Glied in
der langen Kette deutscher Abschiebepolitik ist ein konkretes und gut
erreichbares Ziel der Anti-Image- Kampagne "Deportation Class". Schon
jetzt ist die Kampagne wesentlich erfolgreicher als herkömmliche
Protestformen wie Kirchenasyl, die dazu neigen, immer wieder gegen
dieselbe Wand zu rennen. Und dafür ernteten die Aktivisten in
Fachkreisen breite Anerkennung, die bis hin zum Wall Street Journal
reicht.

22.25
DIE UNORGANISIERBAREN
Dokumentation · 32 MIN · VPS 22.25
von Florian Schneider, Deutschland 2002, Deutsche und französische
Erstausstrahlung

Unterbezahlte Arbeiter in Textilfabriken, Putzkräfte ohne gültige
Aufenthaltspapiere, temporär Beschäftigte in der High-Tech-Industrie:
Die Protagonisten einer neuen Welle von betrieblichen
Auseinandersetzungen in Kalifornien galten bis vor kurzem schlichtweg
als unorganisierbar. Heute bilden sie eine neuen Generation von
Arbeitskämpfen, in denen der extrem prekäre Status der Arbeitskraft
nicht Hinderungsgrund, vielmehr der Ausgangspunkt für vielfältige Formen
gewerkschaftlicher und außer- gewerkschaftlicher Organisierung ist. Der
Film stellt in Kurzporträts drei verschiedene Kampagnen vor: Im Garment
Worker Center in Los Angeles organisieren sich Textilarbeiter aus
unterschiedlichsten Ländern, um ihre Löhne einzufordern und für bessere
Arbeitsbedingung zu kämpfen. Gegen ihre Arbeitgeber haben sie oft keine
Chance, deswegen wenden sie sich an die Modehäuser, die die unter
elenden Bedingungen gefertigten Kleidungsstücke vertreiben. Wie
erfolgreich der Kampf um die eigenen Rechte sein kann, beweisen
ausgerechnet die Reinigungskräfte, die sogenannten "Janitors". "Justice
for Janitors" fordert Gerechtigkeit für Menschen, die meist illegal über
die Grenze kommen und seit der Rezession in den 80er Jahren von den
Unternehmen als bereitwillige Lohndrücker benutzt wurden. In Los Angeles
ist es der Dienstleistungsgewerkschaft Local SEIU mit der systematischen
Organisierung lateinamerikanischer Putzkräfte gelungen, das Vorurteil
der "Unorganisierbarkeit" nicht nur zu widerlegen, sondern in das glatte
Gegenteil zu verkehren. "Debugging" heißt im High-Tech Slang die
Überprüfung eines Produktes auf etwaige Mängel und Schwachstellen hin.
Debug ist seit kurzem aber auch der Name einer Initiative von
Beschäftigten bei Zeitarbeitsfirmen im Silicon Valley. "De-bug" ist eine
Plattform für neue Organisierungsformen, die auch in einer Umgebung
funktionieren, in der allein schon das Aussprechen des Wortes
"Gewerkschaft" die fristlose Kündigung nach sich zieht.

 

08.07.2002
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