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                        Argentinien: Die Morde der argentinischen Polizei beschwören das Gespenst der Diktatur 
						 
                          Die Morde der argentinischen Polizei beschwören das Gespenst der Diktatur
 von Rafael Azul - 2.7.2002 (world socialist web site)
 Die nach Art einer Exekution verübten Morde an zwei arbeitslosen 
 Jugendlichen bei den Arbeitslosen-Protesten in Buenos Aires letzten Mittwoch 
 markieren eine neue Stufe des Klassenkampfes in Argentinien - sie beschwören 
 einmal mehr den Geist der Militärdiktatur.
 Fotos und Videomaterial belegen eindeutig, dass der Tod von Dario Santillan 
 und Maximiliano Kosteki keine zufälligen Ereignisse waren. Im besonderen 
 Dario könnte aus vorhergehenden Konfrontationen herausgepickt worden sein. 
 Als ein Polizeibeamter in Begleitung des Polizeichefs von Avellaneda, 
 Franchiotti, erneut auf ihn zukam, kniete er am Boden der Bahnstation von 
 Avellaneda und half dem verwundeten Maximiliano.
 Auf einem Foto ist zu erkennen, wie Dario sich den Beamten zuwendet, seinen 
 rechten Arm hebt und schreit `Schiesst nicht, schiesst nicht!´ Dann drehte 
 er sich um, um zu fliehen. Ein Polizist schoss ihm aus nächster Nähe in den 
 Rücken. Die Beamten zerrten den sterbenden Dario auf den Gehsteig ausserhalb 
 der Bahnstation und lehnten die Leiche von Maximiliano mit dem Kopf nach 
 unten an einen Tisch, als eine groteske Trophäe. Die Autopsien haben 
 ergeben, dass beide Männer durch von Polizisten abgefeuerte 9mm-Projektile 
 getötet wurden. Keiner von ihnen war bewaffnet. Die Beamten machten zu 
 keinem Zeitpunkt Anstalten, die Rettung für die beiden zu rufen.
 An den Morden waren sowohl Zivilbeamte der Provinzpolizei von Buenos Aires 
 beteiligt, wie auch der Prefectura Naval, eine halb-militärische Einheit, 
 die für die Bewachung von Häfen und Wasserwegen in Argentinien zuständig 
 ist. Ein Film der Demonstrationen und der Schüsse zeigt auch Zivilbeamte, 
 die die Reihen der DemonstrantInnen infiltriert hatten. Diese agents 
 provocateurs warfen Scheiben ein und begingen andere Gewalttaten, bevor sie 
 sich gegen die DemonstrantInnen richteten, indem sie ihre Waffen abfeuerten 
 und Leute verhafteten.
 Im Verlauf der vergangenen Wochen haben Regierungsvertreter die politische 
 Stimmung für diese Angriffe vorbereitet, indem sie davor warnten, dass 
 radikale Elemente unter den DemonstrantInnen einen bewaffneten Aufstand 
 organisieren würden. Dabei griffen sie auf die Sprache der Militärjuntas 
 zwischen 1976-83 zurück, wie der Generalstabchef von Präsident Eduardo 
 Duhalde, Alfredo Atanasof, der wiederholt den die Proteste tragenden 
 Organisationen vorwarf, sie würden `Chaos´ in Argentinien verbreiten.
 Diese Vorwürfe waren nicht vollkommen neu. Schon im Januar versuchten die 
 Autoritäten, die Repression gegen Proteste der arbeitslosen ArbeiterInnen im 
 Norden Argentiniens damit zu rechtfertigen, dass sie unterstellten, 
 Guerrillas aus Kolumbien hätten Agenten unter die ArbeiterInnen geschleust.
 Seither veröffentlichten Regierungsvertreter immer häufiger Erklärungen, in 
 denen die Notwendigkeit einer Verstärkung der Provinzpolizei durch 
 Bundesbeamte behauptet wurde. Mehr als einmal gab der Armee-Generalstabchef 
 Lt.Gen. Ricardo Brinzoni Hinweise darauf, dass das Militär bereit sei, gegen 
 soziale Rebellion oder Unordnung vorzugehen. Im Februar hielt Brinzoni 
 Gespräche mit argentinischen Wirtschaftsvertretern ab, wo er diesen 
 mitteilte: `Wir werden tun, was auch immer notwendig ist´, um die Ordnung 
 aufrechtzuerhalten.
 Es gibt Berichte, dass jetzt führende Mitglieder des peronistischen Partido 
 Justicialista das Militär zu einem Putsch drängen, entweder um ein 
 Militärregime zu errichten oder um Duhalde in einen `argentinischen 
 Fujimori´ zu verwandeln, was sich auf den peruanischen [Ex-] Präsidenten 
 bezieht, der 1993 den Kongress aufgelöst und diktatorische Vollmachten 
 übernommen hatte. Jede dieser Varianten würde dazu dienen, der 
 argentinischen Gesellschaft die Politik des IWF aufzuzwingen.
 Einer von denjenigen, die eine `harte Linie´ als Antwort auf die sozialen 
 Proteste fordern, ist der Aussenminister Argentiniens, Carlos Ruckauf, ein 
 Veteran des rechten Flügels der PeronistInnen. Er hatte 1975 ein Dekret 
 erlassen, mit dem es der Armee ermöglicht wurde, zur `Vernichtung der 
 Subversion´ an der Repression innerhalb des Landes teilzunehmen. Dieses 
 Dekret war ein Schlüssel, der den Weg zur Militärdiktatur ebnete.
 Verhängnisvollerweise gehörte zur Repression vom Mittwoch das Eintreten der 
 Türen in den Lokalen der Kommunistischen Partei/ Vereinigten Linken in 
 Avellaneda, wo die Polizei mehrere Salven von Gummigeschossen aus nächster 
 Nähe abfeuerte und dabei drinnen zahlreiche Menschen verletzte. Eine Anzahl 
 von Parteimitgliedern wurde verhaftet. Diese Stürmung wurde ohne irgendeine 
 legale Deckung durchgeführt und erinnert an die brutalen Taktiken der 
 Repression durch das Militär.
 Beamte der Duhalde-Regierung scheinen eine direkte Rolle bei der 
 Vorbereitung der Morde durch die Polizei gespielt zu haben. Drei Tage vor 
 dem Angriff teilte ein Bundesrichter dem Reporter Miguel Bonaso von Pagina 
 12 mit, dass gegen die Proteste auf der Puente Pueyrredon eine gewaltsame 
 Repression vorbereitet und dass die Polizei scharfe Munition einsetzen 
 würde. Das deutet darauf hin, dass die Regierung dem Massaker schon vorher 
 zugestimmt hatte.
 Als am letzten Mittwoch die ersten DemonstrantInnen die Brücke von 
 Pueyrredon erreichten, wurden sie bei der vordersten Absperrung von Provinz- 
 und BundespolizistInnen durchgelassen; so wurden die DemonstrantInnen 
 wirksam in Richtung der Polizeiabsperrung geschleust, von der aus sie dann 
 attackiert wurden. In diesem Hinterhalt ließ die Polizei die piqueter@s 
 zwischen aus nächster Nähe abgefeuerten Tränengaspatronen und 
 Gummigeschossen Spießruten laufen.
 Diese Katz-und-Maus-Taktik war entworfen worden, um die Arbeitslosen zu 
 provozieren, wütend zu machen und in Panik zu versetzen. Gestürzte oder 
 taumelnde DemonstrantInnen wurden verprügelt und mit scharfer Munition 
 beschossen. Bis zum Samstag gab es noch keine vollständigen Zahlenangaben 
 der Verletzten; eine vorläufige Schätzung geht von 90 Verletzten aus. Von 
 den verwundeten   piqueter@s sind zwei in ernster gesundheitlicher Verfassung. 
 Zwei weitere   piqueter@s werden vermisst, sie sind nicht mehr von der Puente 
 Pueyrredon nach Hause zurückgekehrt.
 Zumindest 170 DemonstrantInnen wurden verhaftet, unter ihnen sind mehrere 
 von den Verletzten. Sie wurden zur Polizeiwache von Avellaneda verschleppt, 
 wo sie laut ZeugInnen geschlagen und einige von ihnen gefoltert wurden. Zu 
 den Gefangenen gehören 52 Frauen, sieben von ihnen sind schwanger, und 43 
 Kinder.
 Im ersten Moment übernahmen Regierungsvertreter und die Provinzpolizei von 
 Buenos Aires keine Verantwortung für die Ermordeten. Sie erklärten, nur 
 Gummigeschosse eingesetzt zu haben. Für kurze Zeit beharrte die Polizei auch 
 weiterhin darauf, dass sie einen bewaffneten Aufstand vereitelt habe. Dieser 
 Version zufolge seien es die   piqueter@s selbst gewesen, die mit scharfer 
 Munition einen mörderischen Streit ausgetragen hätten. Doch die Fotos in der 
 Tagespresse von Buenos Aires zeigen eindeutig, wie Dario Santillan 
 hingerichtet worden war.
 Nachdem sich die erste `offizielle Geschichte´ als Lüge herausgestellt 
 hatte, erklärte die Regierung, dass eine Gruppe von schurkischen Polizisten 
 die Jugendlichen im Zuge eines Rachefeldzuges für ihren Chef Alberto 
 Franchiotti getötet hätten. Franchiotti und drei weitere Beamte unter seinem 
 Kommando wurden für das Verbrechen verhaftet. Am Sonntag hat sich nun auch 
 diese Behauptung in Luft aufgelöst, denn die Berichte von AugenzeugInnen und 
 PressefotographInnen belegen, dass die Kugeln, die Maximiliano getötet 
 haben, von Einheiten der Bundespolizei und nicht von der Franchiotti 
 unterstehenden Einheit der Provinzpolizei abgefeuert wurden. Ausserdem ist 
 auf Videos zu sehen, wie Zivilpolizisten auf DemonstrantInnen schiessen.
 Diese Zivi-Einheiten - in Argentinien bei der einheimischen Polizei 
 "patotas", Strassen-Rowdys, genannt - sind die direkten Nachkommen der 
 sogenannten "Spezialeinheiten", die in den 70er Jahren Oppositionelle zur 
 Militärdiktatur kidnappten, folterten, ermordeten und "verschwinden" ließen. 
 Auf Filmen der Konfrontationen erkennt mensch auch, wie Zivilpolizisten die 
 Patronenhülsen nach dem Abfeuern wieder aufsammeln, um jeden Hinweis auf den 
 Einsatz von scharfer Munition zu verschleiern.
 Maximiliano Kosteki war 23 Jahre alt, er war Künstler und Schriftsteller. Er 
 studierte Keramik, Bildhauerei und Graphik. Er wurde von den Kugeln 
 unterhalb des Herzes getroffen und starb an seinen Verletzungen. Er hatte 
 sich vor zwei Monaten der Arbeitslosen-Bewegung angeschlossen.
 Dario Santillan war 21 Jahre alt, er unterstützte das koordinierende Komitee 
 der Arbeitslosen (CTD Anibal Verón). Er war auch aktiv in seiner 
 Nachbarschaft, er beteiligte sich an einer Kampagne für den Aufbau einer 
 Ziegel-Kooperative, welche die Hütten in der Nachbarschaft durch 
 Baustrukturen aus Ziegel ersetzen sollte. Seine Freundin Claudia wird 
 demnächst ihr gemeinsames Kind zur Welt bringen. Dario wurde im unteren Teil 
 des Rückens getroffen, die Kugeln haben eine Arterie durchlöchert. Er ist 
 wie Maximiliano verblutet.
 Die Wendung der Duhalde-Regierung zu einer neuen harten Linie gegen sozialen 
 Protest hängt mit den Verhandlungen mit dem IWF zusammen. Die Regierung hat 
 bereits signalisiert, dass sie keine Demonstrationen mehr dulden würde, bei 
 denen Strassen und Brücken blockiert werden. Es ist die Absicht der 
 Regierung, dem IWF zu beweisen, dass sie die Opposition der Bevölkerung zu 
 ihrer Wirtschaftspolitik unter Kontrolle kriegen kann.
 Die Depression in Argentinien verschlimmert sich; im ersten Vierteljahr von 
 2002 ist das Bruttoinlandsprodukt bei einer Jahresrate von über 16% 
 gefallen. Letzte Woche ist der Vorsitzende der Zentralbank, Mario Blejer, 
 plötzlich zurückgetreten, mit der Begründung, er werde keiner weiteren Runde 
 der Hyperinflation vorstehen - inmitten von Vorhersagen, dass der Wert des 
 Peso kurz davor steht, von einem Peso pro Dollar im Januar auf 7 oder 8 pro 
 Dollar abzustürzen.
 Es lässt sich kaum übertreiben, was dieses ökonomische Debakel für die 
 ArbeiterInnenklasse in Argentinien bedeutet. In wenig mehr als einem Jahr 
 hat sich die Zahl der ArgentinierInnen, die in Armut leben, verdoppelt. Mehr 
 als 63 Bilionen Pesos auf Sparkonten der Mittelklasse sind verloren 
 gegangen. Grosse Banken stehen kurz vor dem Kollaps und es ist kein Ende der 
 wirtschaftlichen Depression in Sicht.
 Angeekelt von den Morden marschierten zwischen 27.-29.Juni Tausende von 
 Arbeitslosen zum Amtssitz des Präsidenten und forderten das Ende der 
 Duhalde-Regierung.
 Letzten Freitag kamen Reihen von DemonstrantInnen aus den Industrievororten 
 rund um die Hauptstadt von 6 Mio. EinwohnerInnen zum Plaza de Mayo, in 
 Herausforderung einer massiven Polizeipräsenz. Die Polizei verhaftete 30 
 DemonstrantInnen, mit der Behauptung, sie hätten Stöcke, Steine und Molotov 
 cocktails dabei gehabt.
   http://www.wsws.org/articles/2002/jul2002/arg-j02_prn.shtml
 Die Demos krönten einen 24-stündigen, landesweiten Streik der staatlichen 
 Beschäftigten, organisiert von der ArbeiterInnen-Zentrale Argentiniens 
 (CTA), die kleinere der zwei Gewerkschaftsverbände.
 
 
 
						 
	                      
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