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Potsdam: Demonstration "Kein Sommer für Bornstedt", Samstag, den 13. Juli 2002

Demonstration "Kein Sommer für Bornstedt", Samstag, den 13. Juli 2002


[update] Treffpunkt 14 Uhr auf dem Luisenplatz in Potsdam

Beinahe die Hälfte der im Potsdamer Stadtteil Bornstedt lebenden
abstimmberechtigten Einwohner unterschrieben seit März dieses Jahres
die Erklärung einer "Bürgerinitiative Bornstedt", in der gegen die
Verlegung der Asylbewerber des Standorts Michendorfer Chaussee in ein
bisher zur Unterbringung von russischen Spätaussiedlern genutztes
Gebäude protestiert wird. Dass es sich dabei um einen durchaus
normalen Vorgang im wiedervereinigten Deutschland handelt, davon
zeugen etliche ähnliche Vorgänge z.B. in Neustrelitz und Bad Doberan.
Auch in Bornstedt kam es bereits Anfang der 90er Jahre zu Protesten,
als das betreffende Objekt erstmals als Flüchtlingsunterkunft in
Betrieb genommen wurde.

Die Argumentation der explizit zu diesem Thema gegründeten
Bürgerinitiative vereint die volle Bandbreite rassistischer und
wohlstandschauvinistischer Denkmuster. In Anfragen in die
Stadtverordnetenversammlung Potsdam, in offensiver Öffentlichkeits-
und Pressearbeit und nicht zuletzt auf einer gut besuchten
Bürgerversammlung am 19. März wird diese immer wieder mit Ängsten in
der Bornstedter Bevölkerung gerechtfertigt. Die geäußerten
Befürchtungen reichen dabei von Image- und Werteverlusten Bornstedter
Immobilien, Überfremdungsängsten gerade in Bezug auf die Wohnsituation
und Lehr- und Lernbedingungen in der Schule, der Zunahme von Drogen-
und Eigentumsdelikten bis hin zu deutlich rassistischen Projektionen.
In dieser Vorstellung schleichen die Immigranten tagsüber durch die
Vorgärten, klauen, vergewaltigen Frauen und Kinder und hindern die
benachbarten Bewohner durch exzessives Feiern am Schlafen. Die
Versuche des stellvertretenden Bürgermeisters Jann Jakobs, dem mittels
standortökonomischer Logik beizukommen, scheiterten am sturen Beharren
der Protagonisten. Diese ließen sich nicht davon beeindrucken, dass
auf dem sogenannten Sago-Gelände in der Michendorfer Chaussee mit der
Errichtung eines Biotechnologieparks auch Arbeitsplätze entstehen
werden, und selbst mit der nur provisorischen Neubelegung des Heimes
die Zahl der Immigranten in Bornstedt ab- statt zunimmt. Vielmehr trat
mit jedem entkräfteten Argument immer mehr für Rassismus typische,
irrationale Ressentiments bis hin zur unmissverständlichen Androhung
von physischer Gewalt gegenüber den Immigranten durch die normalen
Bürger zutage. Hierbei wurde unter anderem auf Hoyerswerda und
Rostock-Lichtenhagen verwiesen.


> Projektion und deutsche Leidkultur

Daran kann man erkennen, dass rassistische Vorurteile nicht
ausschließlich mit ökonomischen Fakten zu begründen sind. Es ist den
Menschen in Bornstedt - wie allen Menschen - der Eintritt
individuellen Glücks durch eigene Schaffenskraft versagt geblieben.
Dieses Versprechen bürgerlicher Ideologie musste eine Lüge bleiben,
denn die zugrundeliegende Vorstellung vom Glück durch Macht,
Sicherheit und Wohlstand ist verknüpft mit dem Erfolg in der
permanenten Konkurrenz des Marktes. Gerade die Alteingesessenen
mussten sich nach dem Zusammenfall des realexistenten Sozialismus aber
an eine Situation gewöhnen, in der ihre Arbeitskraft nicht mehr
benötigt wird. Der wohlstandschauvinistische Reflex, das auserwählte
Stück des Kuchens gegen mögliche, nichtdeutsche Konkurrenten zu
verteidigen, ist aber kein unausweichlicher Automatismus. Der Einzelne
hat für sein Denken und Handeln eine individuelle Verantwortung.

Eine erfolgreiche bürgerliche Revolution hätte den Individuen eine
solche Vorstellung von selbstverantwortlicher und gleichberechtigter
Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nahegebracht. Anstelle der
zugrundeliegenden, unbedingten Verknüpfung von demokratischen
Grundrechten an das bürgerliche Subjekt wird in Deutschland jedoch
preußisch-monarchistisches Denken tradiert. Doktrin des Zusammenlebens
und damit Vorraussetzung für die Gnade gesellschaftlicher Akzeptanz
ist die Unterordnung des Einzelnen unter volksgemeinschaftliche Werte
wie Gehorsamkeit, Ordnung, Fleiß und Sauberkeit, wobei die Erziehung
auf die Gefolgschaft zum Monarchen ersetzt worden ist durch Zurichtung
zum selbstbeherrschten Untertan. Die Vorstellung von Glück und
gesellschaftlicher Anerkennung ohne auf Arbeit und Befehlsausführung
hin verstümmeltes Bewusstsein ist diesem nicht nur fremd, sondern
gefährdet seine Stabilität und die der Leidensgemeinschaft. Und da er
den bestehenden Zustand nicht in Frage stellen will, muss er die
Schuld an seinem Unglück auf andere projizieren. In seiner Phantasie
profitieren diese nicht nur an seiner Arbeitsleistung, sondern haben
auch sonst ohne die ihm ansozialisierten und selbstauferlegten
Defizite ein von Wohlstand, sexueller Freizügigkeit, und
kosmopolitischem Hedonismus geprägtes Leben. Dafür muss er sie - bei
Strafe seines psychischen Zusammenbruchs - angreifen und vertreiben.
Nichts anderes ist gemeint, wenn von einer Gefahr für die deutsche
Kultur, einer Grenze der Integrationsfähigkeit die Rede ist.


> Projektionsobjekt Ausländer

Wie die Gemeinschaft den Einzelnen daran integriert, so erfolgt auch
die Ausgrenzung alles Undeutschen anhand der deutschen
Sekundärtugenden. Der Ausländer an sich gilt also - bis auf wenige,
für die Nation als nützlich kategorisierte Ausnahmen - als anders,
kriminell, faul und nur aufs feiern bedacht, als krank, unsauber und
nicht integrationswillig. Dass Asylbewerber in Deutschland
gezwungenermaßen tatsächlich größtenteils nicht arbeiten und
zurückgezogen in Heimen leben, stigmatisiert sie weiter in diesem
Sinne und prädestiniert sie für solche Projektionsleistungen.

Die Kernaussage des strukturellen Rassismus benannte Alwin Ziel,
Sozialminister in Brandenburg, in seiner Ablehnung einer
antirassistischen Initiative: Der diesbezügliche bundesweite Konsens
besteht darin, die Lebensumstände der Flüchtlinge möglichst
abschreckend zu gestalten. Nach Deutschland vor Krieg, Verfolgung und
Armut - vor allem Auswirkungen der kapitalistischen Verwertungslogik -
flüchtende Menschen sind also mit der Gegebenheit konfrontiert, schon
vom Gesetzgeber und den Verwaltungsorganen aus in gesellschaftliche
Isolation gezwungen und an einem normalen Leben gehindert zu werden.
So sind sie der Residenzpflicht unterworfen und dürfen sich nur in
Ausnahmefällen nach Erlaubnis durch Ausländerbehörde aus dem ihnen
zugewiesenen Landkreis herausbewegen. Mittels "verdachtsunabhängiger
Kontrollen" kann eine Zuwiderhandlung jederzeit festgestellt werden,
mehrere solcher Verstöße können zur Abschiebung führen. Gemäß des
Sachleistungsprinzips erhalten Flüchtlinge über ein Taschengeld von 40
? ihre Sozialleistungen - die übrigens unter dem Existenzminimum für
Deutsche liegen - in Form von Wertgutscheinen, die nur in bestimmten
Geschäften und nicht z.B. für Genussmittel oder kulturelle Aktivitäten
ausgegeben werden dürfen. Auch die einzige Möglichkeit, zumindest nach
wertegesellschaftlichen Gesichtspunkten zu gesellschaftlichem Ansehen
zu gelangen, nämlich zu arbeiten, bleibt ihnen versagt. Als damit der
bundesdeutschen Gesellschaft Außenstehende sind sie weiterhin leichte
Beute - ein dem Klischee entsprechendes, willkommenes
Projektionsobjekt.

Geringfügige Besserungen der rechtlichen Situation wie z.B. die
Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft, dienen
rechtspopulistischen Politiker immer wieder als Vorwand für
rassistische Kampagnen um Wählerstimmen. Wie das Beispiel Hessen
zeigte, können sie sich an diesem Punkt eines großen Rückhalts in der
Bevölkerung sicher sein. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es
auch im betreffenden Fall zu Gesprächen zwischen dem Brandenburgischen
Innenminister und CDU-Rechtsaußen Jörg Schönbohm und der
"Bürgerinitiative Bornstedt" kam. Die örtliche CDU tat sich mit
Verständnis für deren rassistischen Verlautbarungen hervor. Auch
Rechtsradikale suchten mittels Flugblättern den Schulterschluss zur
Dorfgemeinschaft. Gemeinsam ist allen das Eintreten für traditionelle
Werte, für die Volksgemeinschaft, für die deutsche Leidkultur und die
damit verbundene Abwertung und Ausgrenzung alles "Undeutschen".


> "Egal, ob Juden, Neger oder Obdachlose - die wollen wir hier nicht."

An dieser Situation kann auch die zunehmend praktizierte
Wohnungsunterbringung von Flüchtlingen, ja nicht mal deren völliges
Abhandensein etwas ändern. Wie es ein Vertreter der Bornstedter
Freiwilligen Feuerwehr auf der Bürgerversammlung auf den Punkt
brachte, sind die Volksfeinde jederzeit neu definierbar. Der Austausch
der Feindbilder ist jedoch nicht beliebig. Antisemitismus mit seiner
Personifizierung des "Juden" als das abstrakt "Andere" hat eine
besondere Kontinuität und eliminatorische Tendenzen in Deutschland.
Dagegen haben die rassistischen Einstellungen v.a. die Ausnutzung und
Trennung von den kategorisierten "Ethnien" zum Ziel, wenngleich es
auch hier zu Morden kommen kann.

Es ist dem Autoritären ein zwingendes Bedürfnis, zu projizieren, und
ein Abgleichen seiner Wahnvorstellungen mit der Realität lehnt er
konsequent ab. Zivilgesellschaftlichem Engagement wie etwa Aufklärung
über die Flüchtlingssituation ist er deshalb nicht zugänglich.
Vielmehr setzt das der Zivilgesellschaft zugrundeliegende Modell
voraus, dass eine Gemeinschaft gegen konstruierte Feindbilder
eingeschworen wird und aus diesem Konsens heraus reagiert. Ein solcher
Konsens wird in Bornstedt nie ein antirassistischer sein; das
rassistische Kollektiv wird niemals sich selber bekämpfen.

Trotzdem ist es notwendig, dem rassistischen Konsens in Bornstedt
etwas entgegenzusetzen. Die Flüchtlinge, die in Bornstedt leben,
müssen jeden Tag aufs Neue mit der Bedrohung ihres Leben rechnen und
bedürfen deshalb unserer Solidarität. Außerdem ist es nicht
hinnehmbar, dass sich aggressive Öffentlichkeitsarbeit angesichts der
erreichten Erfolge - die Zahl der Flüchtlinge wurde inzwischen von 150
auf 100 reduziert und der Umzugszeitpunkt verschoben - als legitimes
Mittel der Durchsetzung der Volkshygiene weiter etabliert.
Längerfristig kann Herangehensweise aber nur sein, den Rassisten nahe
zu bringen, dass gerade die Erfüllung ihrer projizierten und sich
selbst entsagten Wünsche nach einem nicht auf bestmögliche Verwert-
und Beherrschbarkeit hin ausgerichteten Zusammenleben Vorraussetzung
für ein glückliches Dasein ist. Dieses setzt jedoch die Erfahrung
einer emanzipierten und nonkonformistischen Gesellschaft voraus. Die
zivilisierende Wirkung der kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft ist
trügerisch, lauert doch bei der nächsten Krise der Rückfall in die
Barbarei. Rassismus ist Ausdruck der bestehenden Verhältnisse, und
diese gilt es zu verändern.


>>> Den rassistischen Konsens angreifen. Für eine befreite Gesellschaft.

organisiert von Antifa Aktion Potsdam, Kampagne gegen Wehrpflicht,
Zwangsdienste und Militär Potsdam, progress.pdm [antifascistic youth],
JungdemokratInnen/Junge Linke LV Brandenburg, Antira-Org Potsdam, AG
Antirassismus Potsdam.

Für Werbematerialien wendet Euch bitte umgehend an
mailto: potsdam@kampagne.de.

 

01.07.2002
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