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Text | "Nachsitzen für das ideale Institut" - Was könnte 'Akademie' bedeuten?

NACHSITZEN FÜR DAS IDEALE INSTITUT
DIEDRICH DIEDERICHSEN

Wie ideal sind die Akademien? Und wie ideal sind die idealen Akademien? --
Die utopischen Konzepte, welche die Avantgarde am Anfang dieses Jahrhunderts
erstellt hat, wurden nicht alleine von der Generation von Beuys und Vostell
aufgegriffen, sie tauchen in unterschiedlichen Konzepten der 80er und 90er
Jahre wieder auf. Umso mehr lohnt eine Auseinandersetzung mit ihnen, ohne und
um nicht darüber zu vergessen, daß Lösungen situationsbezogen sein müssen.
Für eine interdisziplinäre und interinstitutionelle Veranstaltung an der
Angewandten und der Merz-Akademie Stuttgart diskutierte ich mit Studentinnen
und Studentent die Utopie eines idealen Instituts. Dabei dachten wir an
Inhalte, aber auch an Formen, von inhaltlich möglichst entgegengesetzten
Projekten. Wir untersuchten die Strukturen zeitgenössischer unabhängiger
Forschungsinstitute, die von Industrieaufträgen leben und an Unis gekoppelt
sind, und die von Kommunen und idealistischen Wohngemeinschaften. Uns fiel
auf, daß immer in solchen idealen Konstruktionen etwas zusammengefaßt und
-gebracht werden sollte, das vorher vom Leben bzw. der gesellschaftlichen
Entwicklung getrennt worden war: Leben und Arbeit, Kunst und Leben, Broterwerb
und Forschung, freie Lehre und abhängige Auftragsarbeit, Sexualität und
Wahrheit.

AKADEMIE IST DAS GANZE LEBEN, IST DIE GANZE WELT

Eine Nummer der Zeitschrift "Interfunktion"(1) aus dem Jahre 69 fiel uns in die
Hände -- Titel der Reihe: "Die ideale Akademie". In den darin abgegebenen
Stellungnahmen und Beiträgen dominierte wie so oft in der Institutionskritik
zunächst das Motiv der Ausdehnung, der zu fällenden Schlagbäume, aufzuhebenden
Grenzen etc. Beuys: "Die Akademie wird das ganze Leben, die ganze Welt."
Vostell: "Ich sehe nicht ein, warum das Kunststudium auf bestimmte Räume
beschränkt sein soll, es kann ebensogut auf Bahnhöfen, in Foyers von Banken
und Versicherungen etc. stattfinden." Immendorff schlägt ein
Schlüssel-Vermietungssystem vor usw. usf. Die Akademie soll sich dehnen,
erweitern, einschließen und aufnehmen. Logischerweise endet diese Phase damit,
daß die Staatsmacht, in Form des heutigen Landesvaters und damaligen
Kultusministers Johannes Rau, nicht mehr mitmacht, als Beuys darauf besteht,
sämtliche Bewerber für seine Klasse aufzunehmen. Institute wie die heute noch
aktive Free International University gehen u.a. aus dieser Phase hervor, die
wie so viele andere freie und unabhängige Institute einen Lehrbetrieb ohne
Herrschaftswissen schaft und Zugangsbeschränkung zu verwirklichen versuchte.
Nach einer nicht unbeträchtlichen Pause kommen solche Ideen heute wieder.
Neuregelung von Akademie-Struktur, außerakademische Lehrveranstaltungen, Freie
Klassen, didaktische Ausstellungen sind in Mode. Zum einen, weil es soviel zu
wissen gibt: Modernisierungsschübe, technologische Entwicklungen und
politische Diskussionen, die in narzißtischer orientierten Jahren -- uns allen
als die sogenannten 80er bekannt -- vergessen worden sind, verlangen
offensichtlich kollektives Nachsitzen. Zum anderen verweist die Lehr- und
Forschungsbegeisterung auf ein neues, kollektiveres, weniger spezialisiertes
und weniger vereinzeltes Künstlerideal, den in den USA zunächst sogenannten
"Cultural Producer". Da dieser ein umfassend informierter und ausgebildeter
Mensch sein muß, der einige Spezialisierungen aushebelt, braucht er auch eine
andere oder jede Menge zusätzliche Ausbildungen. Der oder die Cultural
Producer entsprechen etwa der Idee des Wissenschaftlers-cum-Atelier, die in
immer mehr künstlerischen Praxen heutzutage eh schon realisiert ist: Einer
künstlerischen Praxis (mit Atelier: also Produktion) stehen ein akademisches
Studium und/oder journalistische Recherche-Techniken zur Seite. Dem entspricht
etwa auf einigen Akademien der USA die Tendenz, den theoretischen Teil des
klassischen Kunststudiums immens zu erhöhen: 50seitige Abschlußarbeiten zur
Abschlußausstellung werden zunehmend zur Regel, während im deutschsprachigen
Raum der Nachweis einer intellektuellen Kompetenz in bezug auf die eigene
Arbeit immer noch allenfalls symbolisch erbracht werden muß.(2)

CULTURAL PRODUCER: WISSENSCHAFT IM ATELIER
In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hielten wir uns zunächst an
die Geschichte der Institution, wo wir uns getroffen haben, die Merz-Akademie
-- Fachhochschule für Gestaltung. Auch diese hat -- wie so viele
Institutionen, die gerade mit dem nur im deutschen Sprachraum existierenden
Konzept der Gestaltung zu tun haben -- einen utopistischen Ursprung. Ihrem
Gründer Albrecht Leo Merz ging es 1919 darum, Trennungen aufzuheben, die mit
industriellen und technologischen Veränderungen ebenso zu tun hatten wie mit
strukturell-funktionalen Differenzierungen im Kunstsystem, die nicht
unmittelbar und allein von Technologien, sondern auch
kulturell-gesellschaftlich verursacht sind. Er agitierte gegen
Industriearbeit, Reproduktionstechnologien (mit gewissen Einschränkungen) und
träumte von einem in allen handwerklichen und künstlerischen Techniken sowie
"geistigen" Disziplinen ausgebildeten Gestalter. Daß dieser Gestalter deutsch
sein mußte und nebenbei auch das deutsche Volk über die Merzsche
Reformpädagogik gesunden sollte, ja schließlich der Ansatz der Pädagogik sich
so konkretisierte, daß "Führerschulen" entstehen sollten, ist nicht so
untypisch für jene Jahre, in denen so viele in der Geschichtsschreibung unter
"progressiv" und "avantgardistisch" abgelegte Utopismen tatsächlich eher von
der völkischen Rechten und der "konservativen Revolution" geprägt waren (auch
wenn man der Gerechtigkeit halber sagen sollte, daß die Nazis ihn nicht
weitermachen ließen). Daß der Gestalter ein Führer sein soll, der seinerseits
von einem Führer erzogen werden sollte und so die "Erneuerung des deutschen
Volkskörpers" zu seiner Sache machen soll, ist aber noch aus einem anderen
Grunde überraschend und interessant: "Gestalter" selbst ist ja ein leerer und
utopischer Begriff, der gewisse Möglichkeiten zuläßt, aus dem Fächerkanon
auszubrechen, den die normale Lehre prägt, andererseits aber Ansprüche an
politische und gesellschaftliche Realisierung stellt, den die autonome und
abgeschlossene Kunstakademie nicht hat. Über den Gestalter und den
Gestaltungsbegriff war es leichter, gewisse antikanonische, sich neu bildende
kulturelle Gegenstände in die Hochschul- und Ausbildungslandschaft einzubauen.
Interessant also, daß schon in frühen Tagen seiner Verwendung der Begriff auch
mit völkischen Inhalten gefüllt werden kann.

DER GESTALTER UND DIE GANZHEITLICHKEIT

Ein anderer Schlüsselbegriff von A.L. Merz ist der ebenfalls
geläufig-utopistische Begriff der Ganzheitlichkeit. Direkt gegen
Arbeitsteilung und Spezialistentum gerichtet, fällt auf, wie er mit den
Ansätzen von Beuys und Vostell aus den 60er Jahren korrespondiert. Das
spezifisch Ideologische an diesem Ganzheitlichkeitsbegriff ist nicht allein
seine Vorstellung von einem über dem zeitgenössischen Spezialistentum
stehenden überlegen genialen ganzheitlichen Gestalter, sondern sein Pathos
einer Rekonstruktion einer vor aller modernen Verderbnis liegenden,
archaischen, aber selbstverständlichen Situation. Der ganzheitliche und
gestaltende Künstler ist gar nicht mal dem Genie nachempfunden, eher dem
Handwerksmeister, seine Kenntnisse und Fähigkeiten sind ja vermittelbar,
erlernbar, doch sind sie keine abtrennbaren, äußerlichen Kenntnisse, sondern
setzen eine die ganze Person erfassende Läuterung voraus.

SIND DIE TRÄUME AUSGETRÄUMT?

Es ist vielleicht nicht überraschend, daß eine solche Idee ohne weiteres sich
einem rechten Antimodernismus zur Verfügung stellt, sondern auch von ihm mit
hervorgebracht worden ist, aber es ist schon erstaunlich, daß es keine
Akademie- und Instituts-Utopie gibt, die nicht mit ihm operiert. In der
gegenwärtigen Verfassung tun wir dies in unserer Akademie auch. Da uns das
Fachhochschulrecht als eine nichtstaatliche Institution verpflichtet, uns als
sogenannten Tendenzbetrieb zu definieren -- also einen Grund für die besondere
Notwendigkeit der Schule zu nennen --, haben wir als größten gemeinsamen
Nenner zwischen uns, dem Staat und dem privaten Träger, also allen
Beteiligten, die gute alte Ganzheitlichkeit gewählt. Sie ist schwammig genug,
von allem möglichen gefüllt zu werden, bricht nicht mit der Tradition und läßt
sich auch ganz prima für das Computer-Zeitalter einsetzen.
Der Begriff ist ja nun aber nicht nur ein Problem, weil er neben allerlei
mystischem auch völkischen Ballast mit sich herumschleppt, sondern weil ihm ja
auch ein logischer Fehler zugrunde liegt. Er ignoriert halt einfache
Kapazitätsprobleme. Arbeitsteilung ist ja auch im marxistischen Sinne nicht
nur sinnlos und entfremdend, sondern ist dies unter bestimmten Besitz- und
Herrschaftsverhältnissen. Dies gilt allemal auch für Ausbildung und
Spezialisierung. Tatsächlich hat die Ganzheitlichkeit besonders dann ihre
Konjunktur, wenn auch allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen -- zur Zeit
etwa die Computerisierung und damit Universalisierung der meisten sogenannten
künstlerischen Techniken -- Erneuerungen der Ausbildung verlangen.

DIE WUNDERDISZIPLIN KULTURWISSENSCHAFT

Gut die Hälfte aller Instituts-Ideen, mit denen wir zu tun hatten, bezog sich
auf solche Spezialisierungs-Überwindungs-Ideen.
Die anderen hatten einen prinzipiell anderen Ansatz (der sich allerdings auch
mit dem ersten zusammendenken läßt): die Erweiterung der Neu-Definition oder
-Organisation des Fächerkanons. Hier werden konkret einzelne Wissensformen
oder -gebiete angesprochen, die entweder neu und fällig sind und nur von der
langsamen Bürokratie noch nicht erkannt worden sind oder subversiv und
fortschrittlich und daher bislang ausgeschlossen worden sind. Oft liegt eine
Kombination aus beidem vor. Ich will ein Beispiel herausgreifen, das mir
symptomatisch erscheint: Cultural Studies. Es scheint, daß alle in der letzten
Zeit interessanten Diskurse und Debatten, die sich keinem Fach zuordnen
ließen, auf diese Wunderdisziplin projiziert werden.
Im deutschsprachigen Raum schießen entsprechende Institute und
Forschungvorhaben aus dem Boden, der eigentümliche Begriff
Kulturwissenschaften wird genutzt, um an der Attraktivität der Cult-Studs ein
wenig zu partizipieren und trotzdem im deutschen Genehmigungsdschungel ein
Bein auf den Grund zu bekommen. Das Kulturwissenschaftliche Institut an der
Ex-DDR-Humboldt-Universität ist so heterogen wie es irgend geht mit Friedrich
Kittler, Thomas Macho, Klaus Bredekamp, Christina von Braun und Gernot Böhme
besetzt: also ein Medienmaterialist, der sich eher an der technischen Hardware
als der kulturellen Semantik orientiert, sowie Vertreter der wohlbekannten
Disziplinen Literaturwissenschaft, Soziologie, Psychoanalyse etc. In Stuttgart
haben wieder Literaturwissenschaftler, Soziologen und Kunstgeschichtler
gemeinsam mit der Akademie Schloß Solitude soeben ein kulturwissenschaftliches
Institut gegründet. Das erste Forschungsvorhaben hat den ultraoriginellen
Titel "Ursprünge der Moderne", die erste Professur, Besoldungsstufe C4, also
Luxus und lebenslang, wurde ausgerechnet für Technikphilosophie
ausgeschrieben.
Dem steht eine mehr als 30jährige Geschichte der Cultural Studies in den
angloamerikanischen Ländern gegenüber. Die Definition von Cultural Studies war
aus einem politischen wie wissenschaftsgeschichtlichen Anliegen entstanden:
die Untersuchung von Massenkultur -- anders als in der von der Frankfurter
Schule geprägten deutschsprachigen Szene -- nicht allein dem
kulturpessimistischen Reflex zu überlassen, sondern, von der reichen
Geschichte britischer Arbeiter und später Pop-Kultur ausgehend, darin ein
emanzipatives Moment zu sehen.


WIE SICH ALTES IN NEUEM VERSTECKT

In unserem Workshop haben wir darüber nachgedacht, was es bedeutet, wenn ein
neues Fach entsteht -- wie für den deutschsprachigen Raum "Cultural Studies"
--, vor allem im Sinne von: Welche gesellschaftliche Symptomatik läßt sich
dadurch untersuchen? Als Vergleichsobjekt diente uns das Entstehen und die
Institutionalisierung der deutschsprachigen Soziologie und die Intervention
des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Wäre nicht ein ideales Institut
ein Institut für Cultural Studies, das im Gegensatz zu den denkbaren
universitäten Gründungen auch den Produktionsbereich, den eine Kunstakademie
ja zu bieten hat, miteinbezieht? Also den Gedanken des öffentlichen
Intellektuellen auf den öffentlichen Künstler bezieht. Der erwähnte Begriff
des "Cultural Producer" tauchte in der Diskussion auf, ein Begriff, der in
US-amerikanischen Selbstbeschreibungen immer häufiger den "Artist" ersetzt.
Dieser Cultural Producer verhält sich dann zum Cultural Studies betreibenden
Wissenschaftler wie der Künstler zum Kunstgeschichtler, bzw. er oder sie will
genau diese Unterscheidung aus der Welt schaffen, allerdings nicht im Medium
der schon bestehenden Fächer, sondern im Medium der Cultural Studies. Und an
dieser Stelle ist sie dann wieder da: die gute alte Ganzheitlichkeit, mit
ihren Schwächen und Stärken. Sie überwindet Vereinzelung, Atomisierung,
Spezialistentum und Fixierung, aber ihre Flexibilisierung, Zwangskollektivität
kann auf eine neue Art Terror ausüben und nur veränderten Marktsituationen
gehorchen. Ich glaube, daß in dieser Konstellation zusätzlich zwei Probleme
auf sowohl eine rein universitäre wie auch auf eine um "Produktion" erweiterte
akademieartige Cult-Studs-Ausbildung warten. Zum einen ist es die Tendenz, den
Kulturbegriff strategisch umzudefinieren, die wie so viele Strategeme im Kampf
um kulturelle Hegemonie langsam von der Linken zur Rechten gewandert ist.
Kultur und speziell ihr Plural, die Rede von Kulturen, übernehmen immer
häufiger die Semantik etwa von "Ethnie", in manchen Fällen auch "Rasse". Die
Definition von Minderheiten-Kulturen als besonders und different, die Cultural
Studies auch schon betrieben haben, erweist sich tragischerweise oder
blöderweise auch als Argumentreservoir für einen rechtsextremen
Ethnopluralismus, der seinen Rassismus und Segregationismus nun nicht mehr
biologistisch, sondern kulturalistisch definiert. In dem semantischen Feld von
Identität -- Ethnizität -- National- und Regionalkultur -- Multikultur ist ein
reaktionäres Entern der Cult-Studs möglich. Und gerade deswegen muß eine
Definition hier bei vielen Lieblingsthemen und -begriffen genauer werden,
besonders auch in der Methodenfrage.
Das andere in der Ganzheitlichkeit des Cultural Producers versteckte Problem
ist die medientechnologische Umgebung dieser neuen
Interdisziplinaritätsforderung: Die Ersetzbarkeit einerseits der
handwerklichen Seite künstlerischer Berufe sowie die Kombinierbarkeit und
Vernetzbarkeit aller möglichen Archive und Speicherungen jeweils durch
Computer läßt die Erfindung eines universell ausgebildeten "Cultural
Producers" plötzlich als eine Art präventiven und vorauseilenden Gehorsam
gegenüber den Anforderungen zukünftiger Dienstleistungs- und Kulturindustrien
erscheinen, weniger als eine progressive bildungspolitische Initiative gegen
den Ausschluß großer Weltteile aus Wissenschaft, Studium und Kunst.

DAS IDEALE INSTITUT: ANGENEHM BEHEIZT

Dieses letzte Problem ist aber natürlich eines aller idealen oder verbesserten
Institute, die ja wie alle Partikularrevolten oder -erhebungen damit leben
müssen, in Welten eingebunden zu sein, die genau das Problem hervorgebracht
haben, das sie beheben wollen. Hier wäre also die logische Grenze idealer
Institute eh erreicht. Unter den gegebenen Verhältnissen können also nur
einzelne oder kleine Gruppen versuchen, Stück für Stück mit den Verhältnissen
bessere Bedingungen auszuhandeln. Sie dafür besser auszubilden kann ein
Argument für Praxisnähe, Welthaltigkeit und erweiterten Horizont sein und
damit für einige Aspekte der Cultural-Producer-Ausbildung ebenso wie für
Cultural Studies. Mein Interesse an diesen wissenschaftlichen und
pädagogischen Projekten stützt sich aber nicht in erster Linie auf das
sogenannte spätere Leben, das sich ja sowieso meinem Zugriff entzieht und auch
entziehen sollte, sondern darauf, die Zeit in Instituten so angenehm und
produktiv wie möglich zuzubringen. Also sie für die Gegenwart mitsamt ihrer
Schutzfunktion -- bei Beuys ist es immer die Heizbarkeit, die er als den
großen Vorteil der Akademie darstellt -- so zu nutzen, daß sie angenehme,
interessante Orte werden, an denen man sich gerne so lange wie möglich
aufhalten möchte.


In diesem Zusammenhang läßt sich auch am besten von den Projekten reden, die
schließlich während dieses Workshops entstanden sind. Nach fünf Jahren in
Institutionen wie der Merz-Akademie Stuttgart oder der Städelschule Frankfurt,
dem Art Center Pasadena und diversen Kurzauftritten habe ich ein persönliches
Interesse entwickelt, ganz im Sinne auch einer Kritik des Alltagslebens und
der Überwindung nicht nur problematischer, sondern auch langweiliger
Strukturen, die Reformierbarkeit oder Ausnutzung der herkömmlichen
Institutsstrukturen zu untersuchen. Meine erste persönliche Frage: Wo bitte
gibt es ein warmes Plätzchen, wo man über Pop-Musik, Kunst und angrenzende
Phänomene lange und tiefgehende Untersuchungen anstellen kann, Texte
schreiben, Daten sammeln und dafür auch noch bezahlt wird? mußte ich mir ja
zunächst mit einer Vorläufigkeit beantworten: nämlich zur Zeit am ehesten in
den Akademien für bildende Kunst und Gestaltung. Nun, wie kann man die
verbessern -- und jetzt nicht nur aus Egoismus, sondern in eben genau jenem
kollektiven Prozeß, von dem auch die Akademie-Reformer von Düsseldorf 1969
schon gesprochen haben.
Damit stehe ich nicht alleine, zur Zeit gibt es einen wahren Boom von
Institutsgründungs- und -kritikideen. Dieser umfaßt nicht nur die sogenannten
Kontextkünstler, die ja als Umfeldverantwortliche naheliegenderweise den
institutionellen Rahmen ihrer Arbeit zum zentralen Gegenstand machen müssen,
sondern auch international renommierte Autorenkünstler, Leute wie zum Beispiel
Mike Kelley, dessen letzte zwei Arbeitszyklen seine Rolle als Student und
Dozent in Kunst- und anderen Akademien thematisieren. Diese aufbruchartigen
Aktivitätsbündelungen wollten wir und ich aber gerade nicht als Konkurrenz im
Kampf um Originalität betrachten, sondern als eigentlich willkommenes
Aufweichen der Begrifflichkeiten und eine gewisse Selbstverständlichkeit der
Diskutierbarkeit.

ZU KONKRETEN PROJEKTEN

Die Stuttgarter Projekte werde ich jetzt nicht im Detail einzeln auflisten. Es
gibt aber zwei grundsätzliche Herangehensweisen. Was die Merz-Akademie positiv
von anderen Gestaltungs-Fachhochschulen unterscheidet, ist, daß sie inhaltlich
arbeitet. Ausgehend etwa davon, daß Women's Studies oder Frauenforschung zwar
als Fach nicht existiert, entsprechende Vorlesungen, Seminare und andere
Veranstaltungen durchaus angeboten werden, akademisch und außerakademisch,
entstand das Projekt eines Vorlesungsverzeichnisses für Frauenforschung,
dessen Zentrale bei uns in der Akademie liegen würde und von dort aus durch
verschiedene kommunikative Aktivitäten das Studium eines solchen Faches an
unterschiedlichen Institutionen koordinieren würde. Leider stellte sich aber
heraus, daß im Raum Stuttgart ganze fünf Veranstaltungen mit
frauenspezifischen Themen laufen. Das Projekt, das ursprünglich nur etwas
managen und organisieren wollte, wird jetzt zur Forderung und entsprechend
seine Strategie ändern.
Ein anderer Versuch bezog sich aufs Zeitmanagement, also auf
semesterübergreifendes Arbeiten, was nach Fachhochschulvorgaben sehr schwierig
ist. Die an der Merz-Akademie über sogenannte Schwerpunkte nur geringfügig
thematisch überhöhte Dozentenwahl soll durch Bildung semesterübergreifender
Sub-Schwerpunkte mit inhaltlichen Festlegungen wie "Women's Studies" oder
durch eine Entpersonalisierung der Dozentenwahl verbessert werden, was nicht
völlig unrealistisch ist.
Die Wiener Gruppe, die sich zur Zeit PCP nennt, nimmt drei Anliegen in
Angriff, die aber als miteinander verbunden gedacht sind: Zwei Anliegen gehen
von dem Problem aus, daß es nicht zuwenig Informationen gibt, sondern nur eine
chaotische Erscheinungsweise und atomisierte Individuen, die sie nur für sich
auswerten. Zum einen soll das immens angewachsene kulturelle Angebot -- dessen
jederzeit möglicher Kollaps wird mitbedacht -- auf eine Auswertbarkeit als
Studium von Cultural Studies durchsucht werden. Wenn man nur die schon
vorhandenen Diskussionen, Seminare, Vorlesungen und Symposien inhaltlich
sortiert, bewertet und ankündigt, ergäbe sich von allein ein Kreis von
Studierenden, allerdings ohne fixes Institut: Im Moment ist der Ort ein Fach
auf einem Metallregal in der Lehrkanzel für Kunst- und Wissenstransfer.


Zum anderen sollen der gemeinsame Besuch und die gemeinsame Diskussion,
Vorauswahl und überraschende Verabredungen für den Umgang mit dem Wiener
Überangebot an Projekträumen, Mini-Instituten und Veranstaltungen aller Art,
im Off- wie im Mainstream-Bereich, bezogen auf eine inhaltliche und
methodische Definition von Cultural Studies, die noch aussteht, organisiert
werden. Ein dritter Bereich ist der Versuch, einen Ausweg aus dem
Meisterklassen-System der Angewandten und nicht nur dieser Akademie zu
organisieren. Ein Weg, der gefunden wurde und um dessen experimentelle
Durchführung, Betreuung, Auswertung es jetzt gehen würde, wäre das sogenannte
Studium irregulare, das in etwa so funktioniert wie früher ein Visum für die
UdSSR.

KUNST UND LEBEN

Für mich bleibt vor allem die Frage interessant, ob es in einem Institut der
sogenannten Kunst auf Dauer unterhaltsam und produktiv kommunikativ zugehen
kann. Gefragt ist nicht Effizienz im bildungspolitischen Sinne, sondern ob es
wieder möglich ist, die Akademien als sichere Brückenköpfe neben manchen
Kneipen oder Galerien auszubauen, die auch in finsteren Zeiten funktionieren
könnten. Wir sind zum Beispiel davon ausgegangen, daß kultureller Konsum ohne
Diskussion -- oder weniger anspruchsvoll: Gedibber -- keinen Spaß macht, nicht
von Interesse ist. Dennoch braucht es eine Sphäre persönlicher Radikalität und
Phasen der Einzelhaftigkeit, die nicht dazu verurteilen dürfen, zum
lebenslangen Schicksal zu werden.
In einer Broschüre der Angewandten fand ich über das Studium der Malerei den
Satz: "Ausschlaggebend für die Lehre ist ausschließlich die
Persönlichkeitsstruktur des Professors". Mir gefiel daran vor allem die
Struktur. Die "Persönlichkeit" hätte ja gereicht, aber der radikal-genialen
Subjektivität sollte noch so etwas Objektives wie Struktur hinzugesellt
werden. Das ist halt die Struktur unseres Meisters, anders kann er nicht. Und
tatsächlich war das zu Recht heute vielgeschmähte Meister-System ja auch
einmal eine Errungenschaft gegen inhaltliche Übergriffe staatlicher
Bürokratien. Für das ideale Institut könnte man vorschlagen, den Satz
modifiziert zu übernehmen: Ausschlaggebend für die Lehre ist ausschließlich
die Persönlichkeitsstruktur des Kollektivs, zu dem auch diverse Lehrende
gehören. Dem man sich aber ebensoleicht anschließen kann, wie man ihm
entrinnen kann. Das ist natürlich am besten gelöst, wenn man alle räumlichen
und zeitlichen Beschränkungen überwindet. Dem kann man entgegenhalten, daß man
damit das Leben selbst beschrieben hat. Darauf würde ich erwidern, daß man
heute nicht nur wie immer den Instituten dabei helfen muß, daß sie dieses
nicht aus den Augen verlieren, sondern auch, von den Schutzräumen der
Institute aus, dem Leben helfen muß, diesen zu entkommen.

Diedrich Diederichsen ist freier Autor und unterrichtet an der Merz-Akademie
in Stuttgart.


Originalseite:  http://www.t0.or.at/~zursache/kunst_hs/37.html


1) "Interfunktion" Nr .2, herausgegeben von Friedrich W. Heubach.
2) Das Einfordern sprachlicher Fähigkeiten von Künstlern, die
herzliche Einigkeit, mit der sich ein gewisses Szene-Etablishment
über tumbe, wortkarge Künstler amüsiert, bringt nicht nur
wünschens- und begehrenswerte Steigerungen von Selbstreflexivität
und Komplexität hervor, sondern ist auch durchaus geeignet, einen
standes- und klassenmäßigen Dünkel zu perpetuieren, der auf einer
bestimmten Kompetenz, "theoretisch" zu reden, basiert. In den
90ern ist der Anteil nicht der Mittelschicht entstammender
Kunststudenten und -studentinnen wieder ziemlich zurückgegangen.


 

06.06.2002
Diedrich Diederichsen   [Aktuelles zum Thema: Soziale Kämpfe]  Zurück zur Übersicht

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