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Zurück in die Zukunft? - Genetische Diagnostik und das Risiko der Eugenik

Nach Abschluss des Humangenomprojekts werden immer mehr und genauere Kenntnisse über Struktur und Funktion des menschlichen Erbmaterials und zunehmend differenziertere genetische Testmöglichkeiten verfügbar sein. Dabei ist abzusehen, dass die Anwendung des neuen Wissens die individuelle Erfahrung von Schwangerschaft und Geburt ebenso verändern wird wie gesellschaftliche Institutionen - etwa das Gesundheitssystem, das Rechts- und das Versicherungswesen - und auch den kollektiven Umgang mit Behinderung, Krankheit und Tod. Trotz der weit reichenden technischen Möglichkeiten von Genomanalyse und genetischer Diagnostik befindet sich die öffentliche Auseinandersetzung um soziale Folgen und ethische Implikationen noch am Anfang. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Angst vor einer Neuauflage eugenischer Projekte. In den publizistischen Debatten wird, wie innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften, häufig die Auffassung vertreten, dass die eigentliche Bedeutung des Humangenomprojekts weniger in möglichen neuen biologischen Erkenntnissen oder medizinischen Therapien liegt, sondern in einem genetischen Determinismus, der schon in der Vergangenheit als Erklärungsmodell für jede Form von sozialer und individueller Variabilität diente. Dabei wird das gesellschaftspolitische Potenzial der Genomanalyse in einer "Genetifizierung" der Gesellschaft bzw. der Ersetzung sozialer durch gentechnologische Lösungen gesehen. Ein zentraler Stellenwert kommt dabei der Kritik des genetischen "Reduktionismus" zu, der biologische, psychologische und soziale Differenzen zwischen Individuen auf die Unterschiede in ihrer DNA zurückführt. Gewarnt wird vor einen "Genfatalismus", der die Selbstbestimmung durch das Schicksal der Gene ersetzt und individuelle Entscheidungen als Resultat genetischer Bestimmungsfaktoren betrachtet.

So berechtigt diese Kritik sein mag, sie reicht nicht weit genug. Ihr entgeht ein entscheidendes Moment, das die gegenwärtigen humangenetischen Praktiken von ihren Vorgängerinnen unterscheidet. Die gesellschaftliche Bedeutung genetischer Information liegt heute weniger in der Kontinuität eines genetischen Determinismus, sondern vor allem in der Konstruktion genetischer Risiken. Denn die Analysemethoden und Verfahren der genetischen Diagnostik zielen gerade nicht auf die Produktion eindeutiger Kausalketten oder die Reduktion aller möglichen Sachverhalte auf das Genom, sondern auf die Steuerung von Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten und Erwartungen - nicht am Modell der Determination, sondern am Modus der Disposition orientiert. Es ist erst diese "relative Offenheit" eines Risikodispositivs,die im humangenetischen Diskurses den Appell an Autonomie und Eigenverantwortung ermöglicht: Statt kollektives Schicksal zu sein, werden die Gene heute immer mehr unter der Perspektive individueller Potenziale betrachtet, sie sind immer weniger Bestandteil einer biologischen Vererbung als Element von sozialen Strategien, die auf Optimierung des persönlichen Humankapitals und der subjektiven "Lebensqualität" zielen. Die Bedeutung von Risikodispositiven zeigt sich in den beiden Anwendungsbereichen der genetischen Diagnostik. Ihr Haupteinsatzgebiet liegt momentan in vorgeburtlichen Untersuchungsmethoden, in der Pränataldiagnostik. Dabei fällt auf, dass mit der Ausweitung desdiagnostischen Angebots auch die Mitwirkungspflicht der Schwangeren an pränataldiagnostischen Verfahren wächst: "Risikopaaren" wird eine genetische Beratung nahe gelegt, und jede Schwangerschaft wird tendenziell zu einer "Risikoschwangerschaft" bzw. "Schwangerschaft auf Probe", wobei die Entscheidung für das Austragen des Embryos zunehmend vom Nachweis genetischer Schadensfreiheit abhängt.

Daneben wird künftig die postnatale Diagnostik, also genetische Tests an bereits geborenen Menschen, eine immer größere Rolle spielen. Die Entschlüsselung des Genoms und die Isolierung von Genen, die mit Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer in Verbindung gebracht werden, wird es ermöglichen, prädiktive genetische Informationen für viele Menschen bereitzustellen. Schon jetzt hat der begrenzte Einsatz gendiagnostischer Instrumente zur Produktion einer neuen Kategorie beigetragen: "Kranke ohne Symptom" (Dorothy Nelkin), bei denen Risiken für Krankheiten diagnostiziert wurden, an denen sie vielleicht eines Tages, vielleicht aber auch nie erkranken werden. In verschiedenen Ländern sind diese "Risikopersonen"bereits mit realen Formen genetischer Diskriminierung konfrontiert, von Problemen bei der Berufswahl bis hin zur Verweigerung des Versicherungsschutzes.

Offenbar liegt die gesellschaftliche Bedeutung von Genomanalyse und Gendiagnostik vor allem in der Herstellung eines "reflexiven" Verhältnisses von individuellem Risikoprofil und sozialen Anforderungen. Die Rede von Eigenverantwortung und Selbstbestimmung in den Biowissenschaften ist dann keine ideologische Täuschung, sondern verweist auf ein Risikodispositiv, in dem die Individuen mehr sind als Gefangene ihres Erbmaterials. Gäbe es tatsächlich eine unmittelbare Beziehung zwischen Geno- und Phänotyp im Sinne eines genetischen Determinismus, wäre der Appell an individuelle Autonomie und Verantwortung - etwa für Kriminalität oder Arbeitslosigkeit - wesentlich schwerer aufrechtzuerhalten. Die Konstruktion von Risikopersonen, Risikopaaren oder Risikoschwangerschaften erleichtert hingegen die Moralisierung abweichenden Verhaltens und die Zuweisung von Schuld und Verantwortung, ermöglicht die Entwicklung von Präventionsformen auch in nicht-medizinischen Bereichen und erhebt die prädiktive Gendiagnostik zum Modell einer sozialen Medizin. Statt individuelle Verantwortung und Freiheit abzuschaffen, produziert die genetische Aufklärung durch die Mittel der Gendiagnostik eine präzise Vorstellung von "Mündigkeit", die an medizinische Informiertheit und an die Kenntnis des eigenen Codes gekoppelt ist. Zu fragen ist also, inwieweit sich in den Diskursen der Bioethik und in den Praktiken der genetischen Beratung eine "genetische Verantwortung" (Carlos Novas/Nikolas Rose) materialisiert, die sich darüber bestimmt, dass ein Risikomanagement betrieben und ein adäquater Lebensstil gepflegt wird. Dem Recht auf Gesundheit stünde - wie der Medizinethiker Hans-Martin Sass fordert - ein "Ethos der Pflicht" im Umgang mit genetischen Informationen gegenüber, wobei die potenziellen Kranken im Rahmen einer "selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Patienten- oder Bürgerethik" auf die Risikominimierung verpflichtet werden. Aus der Konzentration auf genetische "Risiken" und "Dispositionen" folgt allerdings nicht, dass dem Problem der Eugenik keine Bedeutung mehr zukommt. Der Wissenschaftshistoriker Daniel Kevles versteht darunter die "Gesamtheit der Ideen und Aktivitäten, die darauf abzielen, die Qualität der menschlichen Rasse durch die Manipulation des biologischen Erbguts zu verbessern". Auf welche gegenwärtigen Ängste und erwartbaren Entwicklungen in der Zukunft bezieht sich die Charakterisierung der aktuellen humangenetischen Praktiken als "eugenisch"? Welche Parallelen und Differenzen lassen sich gegenüber der nationalsozialistischen Rassenhygiene oder den US-amerikanischen Sterilisationsprogrammen des frühen 20. Jahrhunderts ausmachen?

Beim Versuch einer Antwort muss man zwei komplementäre theoretische "Fallen" vermeiden. Zunächst einmal scheint es problematisch, von einer mehr oder weniger linearen Kontinuität der eugenischen Praktiken vom Nationalsozialismus bis heute auszugehen, um von der Fortsetzung eugenischer Traditionen auf einem neuen technologischem Niveau oder einem Rückfall in alte Biologismen zu sprechen. Was diese Kontinuitätsthese angeht, so ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die "Natur" heute- anders als in der Eugenik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr auf der Seite des Unveränderlichen anzusiedeln ist. Es ist daher kaum haltbar, anzunehmen, die Debatte zwischen Vererbung und Umwelt sei zu Gunsten der Erbanlage entschieden. Eher hat sich im Zeichen der Gentechnologie die Debatte insgesamt verschoben - und mit ihr die beiden Pole, die sie einmal konstituierten. Die Biologie operiert heute als Informationswissenschaft, wobei die DNA als ein Code betrachtet wird, der gelesen und umgeschrieben werden kann. Durch die gentechnologischen Innovationen hat sich die Biologie selbst und die Relation zwischen Biologie und Gesellschaft verändert. Es reicht daher offenbar nicht aus, die "Biologisierung der Gesellschaft" zu konstatieren und/oder sie zu kritisieren; vielmehr zeigen die Ergebnisse wissenschaftshistorischer und -soziologischer Studien, dass die Dichotomie zwischen Natur auf der einen und Gesellschaft/Kultur auf der anderen Seite immer schwieriger aufrechtzuerhalten ist.

Heute von "Vererbung" oder "Genom" zu sprechen, signalisiert nicht mehr: schicksalhaft und gesellschaftlicher Kontrolle entzogen, sondern verweist im Gegenteil auf ein privilegiertes Interventionsfeld. Genetische Faktoren stellen ebenso wie Umweltfaktoren Risiken dar - wenn auch in unterschiedlicher Weise. Denn die genetischen Faktoren scheinen insofern privilegiert, als sie vermeintlich leichter zu kalkulieren und einzuschätzen sind, das heißt aber weder, dass alles genetisch noch dass das Genetische unveränderbar sei. Dies dient nicht der Feststellung eines unabweislichen genetischen Schicksals, sondern ermöglicht Interventionen zur Risikovermeidung oder -minimierung, von der Einnahme von Arzneimitteln über den Lebensstil bis hin zu - bisher nur in seltenen Ausnahmefällen -den Einsatz von Gentherapien.

Wenn also die Kontinuitätsthese auf eine Reihe von Einwänden trifft, wie verhält es sich mit der Diskontinuitätsthese, der Annahme einer Zäsur zwischen alter Eugenik und moderner Humangenetik? Die Vertreter dieser These verweisen zum einen darauf, dass die genetischen Untersuchungen den Nachweis erbrachten, dass Mutationen und genetische Anomalien innerhalb der Bevölkerung extrem verbreitet sind, so dass das Projekt einer "Reinigung" oder "Verbesserung" des Genpools keinen Sinn mache. Eine zweite Argumentationsfigur beruft sich auf die Veränderung von "Motivationsstrukturen". Danach soll von Eugenik dann nicht mehr die Rede sein, wenn an die Stelle einer kollektiven Sorge um den Genpool oder das Projekt einer evolutionären Verbesserung der Menschheit individuelle Reproduktionsentscheidungen treten, die selbstbestimmten Optionen und dem Prinzip der Freiwilligkeit folgen.

Mit der zunehmenden Erosion der Grenzziehung zwischen Natur und Gesellschaft und den biotechnologischen Möglichkeiten einer Diagnose und Kontrolle der genetischen Zusammensetzung von Individuen, hat sich Problem der Eugenik jedoch nicht "erledigt", sondern ist im Gegenteil unausweichlich geworden. Wie etwa der Soziologe Armin Nassehi zeigt, ist es gerade die Tatsache, dass Fortpflanzung zum Gegenstand von individuellen Planungen geworden ist, die diese Gesellschaft zu einer eugenischen macht: "Die genetische Manipulierbarkeit des Menschen bringt die Reiche der Freiheit und der Notwendigkeit durcheinander. Die Freiheit, Natur zu manipulieren und Kopien zu erstellen oder Menschen nach genetischen Konstruktionsplänen zu entwerfen, bringt zugleich die Notwendigkeit hervor, selbst unsere nicht-manipulierte Existenz einer Entscheidung zuzurechnen".

Ob wir wollen oder nicht: Selbst die scheinbar "nicht-eugenische" Entscheidung gegen genetische Diagnostik und selektive Abtreibung wird zu einer eugenischen, da auch ihr eine (normative) Entscheidung zugrunde liegt: die Entscheidung, dass es besser sei, nicht zu entscheiden. Die Auswahl einer "natürlichen" genetischen Ausstattung für ein Individuum ist nur eine Option und ein "Selektionskriterium" unter anderen. Wenn in den Gentests mit Risiken und Dispositionen und nicht mit einem strengen Determinismus gearbeitet wird, so markiert dies ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zur alten eugenischen Praxis. Diese Differenz ist jedoch möglicherweise gerade die Bedingung für die Universalisierung der Eugenik. Die Konzentration der medizinisch-sozialen Praktiken auf die Analyse von genetischen Risiken könnte die Voraussetzung für eine Umcodierung eugenischer Praktiken schaffen, die nicht mehr nur auf identifizierbare Individuen und Kollektive zielen, sondern auf alle und jeden einzelnen. Diese Eugenik wäre nicht mehr auf die Autorität des Staates angewiesen, sondern könnte auf die Autonomie der Individuen rekurrieren. An die Stelle staatlich verordneter eugenischer Programme, die vor allem auf repressive Mittel zurückgriffen und deren Gegenstand die "Volksgesundheit" war, träte ein Risikodispositiv, das im Namen von Selbstbestimmung, Eigenvorsorge, Verantwortung und Wahlfreiheit auf eine produktive Optimierung des individuellen Humankapitals zielt. Daher reicht es heute möglicherweise nicht mehr aus, allgemein auf das Risiko der Eugenik hinzuweisen, sondern diese als eine spezifische Eugenik, als eine Eugenik des Risikos zu dechiffrieren.

(Dieser Text erschien zuerst in: Sigrid Graumann (Hg.), Die Genkontroverse. Grundpositionen, Freiburg im Breisgau: Herder 2001, S. 37-44.)

 

22.05.2002
Thomas Lemke   [Aktuelles zum Thema: Kritik d. Gentechnik]  Zurück zur Übersicht

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