nadir start
 
initiativ periodika archiv adressbuch kampagnen aktuell

"Der verhält sich aber komisch" - Das Kompetenznetzwerk Schizophrenie und die Suche nach möglichen Risikopersonen

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert seit 1999 mit jeweils bis zu 5 Mio. DM pro Jahr zwölf Großforschungsprojekte, die sich mit speziellen Krankheiten mit einer hohen Morbidität oder Mortalität beschäftigen. Diese sogenannten "Kompetenz-Netze in der Medizin" verbinden die wesentlichen Einrichtungen der Spitzenforschung (horizontale Vernetzung) mit qualifizierten Einrichtungen der Routineversorgung (vertikale Vernetzung). Auf diese Weise sollen neue Kooperationsstrukturen geschaffen werden, die den Wissenstransfer zwischen Grundlagenforschung, angewandter Forschung und medizinischer Versorgung beschleunigen. Das Ziel der Kompetenz-Netze besteht im Aufbau überregionaler medizinischer Netze zur "Initiierung und Evaluation von aus Forschungs- und Versorgungskompetenz zusammengesetzten Projektverbünden zur Bearbeitung von Fragestellungen aus der Versorgungspraxis an repräsentativen Patientenkollektiven" (vgl. www.kompetenznetz-schizophrenie.de; www.kompetenznetze-medizin.de). Im folgenden möchte ich genauer auf die Ziele und das Forschungsdesign des Kompetenznetzes Schizophrenie eingehen (andere Netzwerke konzentrieren sich auf Rheuma, Hepatitis, Depression, Parkinson, etc.) und die sich darin materialisierende Präventionslogik analysieren, in der dem Rekurs auf genetische Risiken eine entscheidende Rolle zukommt.


Das Kompetenznetz Schizophrenie besteht aus sogenannten "Netzwerkpartnern": universitären und außeruniversitären Forschungsinstitute sowie Versorgungseinrichtungen im Bereich schizophrener Psychosen. Am Netzwerk beteiligt sind 16 psychiatrische Universitätskliniken, 5 Kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken, 14 Landes, Bezirks-, und Fachkrankenhäuser sowie 6 nervenärztliche und allgemeinärztliche Praxenverbünde. Weitere Kooperationspartner sind u.a. Fachgesellschaften, Patienten- und Angehörigenorganisationen sowie die Forschungsabteilungen der pharmazeutischen Industrie, die auch Fördermittel zur Verfügung stellen (S. 24). Nach der Selbstdarstellung konzentrieren sich die Forschungsschwerpunkte dieses Kompetenznetzes "auf Früherkennung und Prävention vor der Erstmanifestation sowie auf Therapie und Rehabilitation insbesondere bei affektiven, kognitiven und sozialen Defiziten eines chronisch-rezidivierenden Erkrankungsverlaufs. [...] Ziel ist die effizientere Diagnostik, Prävention, Therapie und Rehabilitation, die Verbesserung der Lebensqualität einschließlich einer Optimierung der kooperativen Nutzung vorhandener Ressourcen." (1)


Die Forschungsstruktur gliedert sich in zwei grundlegende Projektverbünde, die sich am Verlauf der Krankheit orientieren. Projektverbund I beschäftigt sich mit der Phase der Frühsymptome, während die Phase während und nach der erstmaligen akuten Krankheitsmanifestation den Gegenstand des Projektverbundes II bildet. Die beiden Forschungsverbünde werden ergänzt durch einen speziellen Projektverbund Molekulargenetik und ein weiteres Bündel von Projekten, die sich mit Fragen der Gesundheitsökonomie (2), Aus-Fort- und Weiterbildung, der Öffentlichkeitsarbeit, der Qualitätssicherung etc. beschäftigen (S. 9).


Während also der Projektverbund II vor allem rehabilitative Zielsetzungen verfolgt, arbeitet der Projektverbund I an der Optimierung von Früherkennung und Frühintervention. Nach Einschätzung der Netzwerk-Organisatoren kommen die bestehenden medikamentösen und psychologischen Therapiemöglichkeiten in der Regel zu spät zum Einsatz, nämlich erst Jahre nach dem ersten Auftreten der Krankheitssymptome. Im Zeitraum der unbehandelten Psychose könnten jedoch bereits bleibende kognitive und emotionale Beeinträchtigungen entstehen. Diese Ausgangslage erfordere es, dass "Methoden der Früherkennung von Personen mit einem erhöhten Risiko zur Entwicklung einer Schizophrenie optimiert und Frühinterventionsstrategien bei Risikogruppen, die mit den heute bereits vorhandenen Methoden identifizierbar sind, evaluiert werden."


Eine strategische Rolle kommt in diesem Zusammenhang sogenannten "Vorfeldeinrichtungen" zu. So sollen beispielsweise in Schulen, Erziehungsberatungsstellen oder Hausarztpraxen (3) über Screening-Bögen "mögliche Risikopersonen" ausfindig gemacht werden und diese "zur weiteren Abklärung an im Aufbau befindliche Früherkennungszentren überwiesen" werden. Weiter ist geplant ist, dass in diesen Früherkennungszentren "über ein Früherkennungsinventar zur Prodromalsymptomatik (z.B. sozialer Rückzug, Depressivität, Konzentrationsstörungen) und ein Interview zu weiteren Risikoindikatoren (z.B. familiäre Belastung, Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, schizotype Persönlichkeitsstörung) solche Personen identifiziert und im Verlauf beobachtet [werden], die bereits psychoseferne oder psychosenahe Prodrome aufweisen." Wie diese Suche nach möglichen Risikopersonen konkret aussehen könnte, erläutert Wolfgang Gaebel, einer der Initiatoren des Kompetenznetzes Schizophrenie und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie: "Ein Lehrer sagt über einen Schüler: Der verhält sich aber komisch'. Der Schüler muss dann einen Fragebogen ausfüllen. Hat er einen auffälligen Score, wird er an das Früherkennungszentrum überwiesen. Dort wird dann mittels EEG, bildgebenden Verfahren, Klärung der genetischen Belastung und neurophysiologischen Untersuchungen ein Risikoprofil erstellt" (zit. nach Kröger 2001, S. 4 f.).


Aufbauend auf diesen Früherkennungsschritten und gestaffelt nach der Schwere des jeweils diagnostizierten Risikos sind unterschiedliche Interventionsstrategien projektiert. Der Schwerpunkt der Intervention soll - so das vorgeschlagene Szenario - bei schweren Fällen bei pharmakologischen, bei geringerem Risiko bei psychologischen Behandlungsformen liegen. Letztere umfasse "die Anleitung zur Selbstregistrierung von Risikosteigerung sowie problem- und symptombezogene psychologische Interventionen z.B. bei Depression und Anhedonie, bei schulischen Problemen und kognitiven Einschränkungen, bei sozialen Defiziten und sozialen Ängsten".


Die zentrale Bedeutung des speziellen Projektverbundes Molekular- und Pharmokogenetik (4) ergibt sich aus der Ausgangsannahme, die den Forschungsaktivitäten des Netzwerks zugrunde liegt: "Schizophrene Psychosen sind zu mindestens 50% genetisch bedingt, wobei nicht ein einzelnes kausales, sondern wahrscheinlich mehrere - derzeit nur teilweise bekannte - Gene in Interaktion mit Umweltfaktoren eine Rolle spielen".(5) Von der genauen Identifizierung und Lokalisierung dieser sog. "Suszeptibilitätsgene" (S. 20) sowie ihrer Interaktionsmechanismen mit der Umwelt verspricht sich die Netzwerkorganisation die "Identifikation genetischer Determinanten für die Prädiktion des Risikos, später an Schizophrenie zu erkranken (bei Risikopersonen)". Gleichzeitig sollen auf diese Weise auch die Aussichten eines Therapieerfolgs bzw. die Möglichkeit der Therapieresistenz präziser eingeschätzt und den Nebenwirkungen von Medikamenten besser Rechnung getragen werden. Zur Untersuchung dieser "Bedingungskonstellationen" (S. 9) von Genen und Umweltfaktoren werden "Ressourcenzentren für DNA und Zelllinien" aufgebaut und für molekulargenetische und pharmakogenetische Forschungsprojekte innerhalb (und außerhalb) des Netzwerks, Zelllinien von Patienten angelegt werden, die an den Therapie- und Verlaufsstudien des Kompetenznetzwerks teilnehmen.(6)


Dieses Forschungsdesign impliziert zwei wichtige Veränderungen hinsichtlich der anvisierten Präventionsstrategien. Erstens kontrastiert das Präventionskonzept, das in dem Antrag des Netzwerks Schizophrenie skizziert ist, deutlich mit "klassischen Ansätzen" wie sie etwa von Foucault in Überwachen und Strafen geschildert werden. Foucaults These ist bekanntlich, dass die Veränderung der Strafsysteme im 19. Jahrhundert darin bestand, dass die Richter nicht mehr über das Verbrechen, sondern über die Person des Verbrecher und seine "Seele" zu Gericht saßen. Wichtig war nicht die Feststellung der Wahrheit des Verbrechens und die Zuordnung des Täters, sondern die Antwort auf die Frage: "Wer ist dieser Mensch, der das Verbrechen begangen hat, in Wirklichkeit? Es ging um das Problem: Wie kann man den Kausalprozeß, der zur Tat geführt hat, einordnen? Wo ist sein Ursprung im Täter selbst? Instinkt, Unbewußtes, Milieu, Erbanlage?'" (1977, S. 29). Ein "wissenschaftlich-juristischer Komplex" (ebd.) wurde mobilisiert, um den Urheber der Tat in dem Subjekt, aber gleichsam hinter dem Subjekt ausfindig zu machen.


Legt man dieses Präventionskonzept zugrunde, gibt es im Antrag des Kompetenznetzwerks Schizophrenie keine Schizophrenen mehr. Das heißt, es gibt sie noch, aber sie haben ihre Natur geändert. Die hier kurz skizzierte Präventionslogik zielt nicht darauf, die wahre Natur der Kranken oder den Wesenskern der Subjekte zu isolieren und zu identifizieren. Dies ist ein Unterfangen, das offenbar nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig ist. Die Wahrheit ist: Es gibt keine innere Wahrheit des Subjekts hinter den Erscheinungen mehr. Es existieren jedoch Indikatoren und Faktoren, "Suszeptibilitätsgene" und Risikopersonen, ja sogar - um die Virtualisierung auf die Spitze zu treiben -: "mögliche Risikopersonen". Die klassischen Präventionsstrategien bauten auf dem Wissen um die "Wahrheit" des Subjekts auf: Dem Verbrechersubjekt ging sein Schatten voraus, mochte dieser Schatten in einer schlechten Kindheit oder in schlechten Genen bestanden haben. In dem oben skizzierten Präventionsparadigma gibt es nur noch Schatten - ohne ein Subjekt dahinter. Das Subjekt ist ein Schatten seiner selbst: ein Faktorenbündel und ein Risikokomplex in einem Schattenreich (vgl. dazu Castel 1983).


Das operative Vorgehen des Kompetenznetzwerks erinnert weniger an polizeiliche Aufgaben der konkreten Gefahrenabwehr und Täterfeststellung als an die verdeckte Praxis von Geheimdiensten: Die Genomanalyse funktioniert hier als ein technisch-informationelles Wissen, das es ermöglicht, "dunkle" Codes zu dechiffrieren und "unbekannte" Genorte zu lokalisieren. Im Rahmen dieser Forschung ist prinzipiell jeder verdächtig, Träger von "riskanten" Genen zu sein. Wir sind alle asymptomale Kranke oder - um noch einmal das Geheimdienstvokabular zu bemühen -: "Schläfer". Scheinbar gesund verbergen wir eine Vielzahl von Risiken, ja mehr noch: Wir sind diese Risiken. Schizophrenie oder Depression liegen weder in unserer Natur oder in unseren Genen noch sind sie in der Erziehung oder dem sozialen Umfeld begründet, sondern sie manifestieren sich je nach Kontext und Konstellation - eine Manifestation, die nicht mehr auf ein dahinter und zugrundeliegendes Wesen verweist. Wir werden nicht von einem unklaren Innen-Leben gesteuert, das man aufdecken, therapieren oder resozialisieren könnte, sondern wir sind reine Äußerlichkeit. Überspitzt formuliert: Wir haben keine Symptome, die Symptome haben uns.


Damit komme ich zum zweiten Punkt. Der verstärkte Rückgriff auf Risikokalküle in der biomedizinischen Forschung impliziert eine Veränderung im Konzept der genetischen Norm. Statt von einem menschlichen "Standardgenom" wird im Kompetenznetz Schizophrenie von individuell variablen genetischen Profilen ausgegangen, die für jeweils unterschiedliche Wirkungen von Medikamenten oder die Entwicklung des Krankheitsverlaufs verantwortlich sind. Allgemein ist in der biomedizinischen Forschung eine Bewegung zu beobachten, die von der Annahme der genetischen Homogenität der Bevölkerung zur Heterogenität, von Einheitlichkeit zu Variabilität führt. Damit verändert sich auch die Bedeutung von "normal" und "pathologisch". Eine bestimmte genetische Abweichung kann etwa Krankheitsrisiken herabsetzen oder Empfindlichkeiten verringern, sie ist nicht per se pathologisch.


Mit dieser "flexiblen" Repräsentation von Normalität (vgl. Martin 1994, Link 1996,) verschieben sich die Formen der möglicher Intervention. Das Interesse für Unterschiede und Variationen dürfte einerseits dazu führen, dass eine rigide, disziplinäre Norm zunehmend verblasst, die jede Abweichung problematisierte oder pathologisierte. Andererseits wird uns vermutlich in Kürze noch nachdrücklicher wissenschaftlich bewiesen werden, dass Ungleichheiten die natürlichste Sache der Welt seien. Zwar könnte es durch Forschungserfolge im Bereich der Pharmokogenomik und ähnlicher Richtungen der Genomforschung, die auf eine personalisierte oder maßgeschneiderte Medizin abzielen, zu einer Verringerung von Allergien oder einer höheren Verträglichkeit von Medikamenten kommen. Erwartbar ist jedoch auch eine Akzentverschiebung, welche bei der Suche nach den Ursachen für unerwünschte Neben- oder Wechselwirkungen nicht mehr bei Medikamenten oder sozialen Problemen ansetzt, sondern bei den genetisch definierten "Empfindlichkeiten" der Individuen: Hatte man bisher das schädigende oder unwirksame Medikament verantwortlich gemacht, so in Zukunft vielleicht die "unpassende" genetische Ausstattung der Kranken.

Literatur:

Castel, Robert. 1983: Von der Gefährlichkeit zum Risiko. In: Max Wambach (Hg.), Der Mensch als Risiko. Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Dumit, Joseph 1997: A digital image of the category of the person. PET scanning and objective self-fashioning. In: Downcy, Gary Lee/Dumit, Joseph (Hg.), Cyborgs and citadels: anthropological interventions in emerging sciences and technologies. Santa Fe, New Mexico: School of American Research Press, S. 83-102.


Feyerabend, Erika 2001: Im Netz der molekularen Vernunft. In: Bioskop Nr. 15, S. 8-10.


Foucault, Michel 1976: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Harris, Rodney/Harris, Hilary J. 1995: Primary care for patients at genetic risk, in: British Medical Journal, Vol. 311, S. 579-580.


Jordan, Bertrand 2001: Depressionsforschung: Höhen und Tiefen. In: Gen-ethischer Informationsdienst Nr. 147, S. 6-9.


Kröger, Fabian 2001: Der Geist: Nur ein biologisches System? In: Gen-ethischer Informationsdienst Nr. 147, S. 3-5.


Link, Jürgen 1996: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag.


Martin, Emily 1994: Flexible Bodies. Tracking Immunity in American Culture - From the Days of Polio to the Age of AIDS. Boston: Beacon Press.


1
Alle Zitate sind - falls nicht anders vermerkt - der Selbstdarstellung des Netzwerks "Schizophrenie" entnommen (www.kompetenznetz-schizophrenie.de). Außerdem wurde eine vom Netzwerk erstellte Broschüre mit dem Titel Ein Netz für den Menschen herangezogen, die unter der angegebenen Internetadresse zum Herunterladen bereitsteht. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diesen Text.

2
Dem Kompetenznetzwerk zufolge handelt es sich bei der Schizophrenie um die teuerste psychische Erkrankung. Sie "belastet das Gesundheits- und Sozialsystem der Bundesrepublik mit jährlich rund sieben Milliarden Mark" (S. 7). Kosten-Nutzen-Analysen spielen innerhalb des Kompetenznetzes insgesamt eine herausragende Rolle: "Der wirtschaftliche Aspekt soll in nahezu allen Projekten berücksichtigt werden. Um festzustellen, welche Kosten in welcher Höhe für welche Behandlungsformen anfallen, wird ein generell einsetzbarer Leitfaden und Leistungskatalog erstellt" (S. 22).

3
Zur Rolle von Hausärzten als "gatekeeper" für PatientInnen mit genetischen Risiken s. bereits Harris/Harris 1995: "For example, a family with a boy with Duchenne muscular dystrophy will need, at different times, paediatric and orthopaedic advice, respite care, and social services. Female relatives who are at risk of bearing an infant with the disease may need to be identified an offered genetic counselling; molecular diagnosis to see whether they are carriers of the gene; and, a little later, prenatal diagnosis involving obstetric and medical genetics services. General practitioners, are however, the first point of contact and largely responsible for coordinating these agencies and for the continuing care that these patients need" (S. 579).

4
Die Pharmakogenetik bzw. -genomik verbindet die klassische Pharmaforschung mit der Genomforschung. Diese Forschungsrichtung soll "maßgeschneiderte" Medikamente liefern, die auf die individuelle genetische Ausstattung zugeschnitten sind, so dass Neben- und Wechselwirkungen besser kontrolliert werden können. Gesucht wird auch nach Antworten auf die Frage, warum ein Medikament bei manchen Menschen wirkt und bei anderen nicht.

5
Das Interesse an der Untersuchung des Zusammenspiels zwischen biologischen und psychologischen Faktoren ist nicht auf die Genomforschung beschränkt, sondern auch auf dem Gebiet der Neurowissenschaften zu beobachten. Dies zeigen beispielsweise die Ergebnisse der Feldstudien des Anthropologen Joe Dumit, die er am Brain Imaging Center der Universität von Kalifornien in Irvine durchführte. In einem Interview erklärt ein dort beschäftigter Psychiater: "For me, I see the whole biological aspect as not being contradictory or mutually exclusive form the psychodynamic aspect. I really see it as complementary and synergistic with the dynamic aspect. There are some people that see it as either/or. I see it more as a both/and type of proposition." (zit. nach Dumit 1997, S. 96). Dumit ist der Auffassung, dass der "sowohl/als auch-Ansatz" in der Neurobiologie auf ein verstärktes Interesse stößt: "The both/and approach to psychiatry [] involves realizing that the brain can be altered by the social environment and by genetic developments and drugs. [] the brain remains the bearer of mental illness, but has now become an intersection for social and biological influences (Dumit 1997, S. 97; Hervorheb. im Orig.).

6
Diese herausragende Bedeutung der Molekular- und Pharmakogenetik ist keine Eigenheit des Netzwerks Schizophrenie. Auch im Kompetenznetz Depression spielt diese Forschungsorientierung eine entscheidende Rolle. Auch hier wurde ein eigenes Teilprojekt für die Untersuchung genetischer Determinanten der Depression eingerichtet: "Die Forscher suchen zum einen nach genetischen Anlagen, die für ein erhöhtes Erkrankungsrisiko hinsichtlich affektiver Erkrankungen verantwortlich sind. Zum anderen wollen sie genetische Faktoren aufspüren, die den medikamentösen Behandlungsverlauf beeinflussen. Dazu müssen die Wissenschaftler die für die molekulargenetische und pharmakogenetische Untersuchungen erforderliche große Anzahl an Patienten und deren Familien untersuchen und die Daten mit einheitlichen Instrumenten erheben. Das Kompetenznetz schafft die Voraussetzungen dafür" (www.kompetenznetz-depression.de; vgl. auch Barondes 1998; eine kritische Diskussion der Suche nach den genetischen Ursache für manische Depression bietet Jordan 2001).
Im Juli 2001 fand in Berlin der "7. Weltkongress für Biologische Psychiatrie" mit rund 6.000 TeilnehmerInnen aus mehr als 80 Staaten statt. Auf der Konferenz war offenbar der Glaube ungebrochen, dass psychische Störungen vor allem genetischen bzw. biologischen Ursprungs sind.. Die Organisatoren des Kongresses zeigten sich überzeugt, dass sogar Alkoholabhängigkeit "zu etwa 50-60% genetisch determiniert" sei - auch wenn noch unklar sei, "welche Gene oder Genkombinationen im einzelnen an der Entstehung der Suchtkrankheiten beteiligt sind" (zit. nach Feyerabend 2001, S. 8).

(Dieser Text wird erscheinen in: Soziale Psychatrie)

 

22.05.2002
Thomas Lemke   [Aktuelles zum Thema: Kritik d. Gentechnik]  Zurück zur Übersicht

Zurück zur Übersicht