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Argentinien: Explosive Mischung


aus der Jungle-World vom 09. Januar 2002, Ausgabe 03/2002


gespiegelt von:
 http://www.jungle-world.com/_2002/03/07a.htm

Explosive Mischung

Die Massenrevolte in Argentinien war spontan und brauchte keine Führung einer politischen Avantgarde. von andrés pérez gonzález, santiago de chile
Die argentinische Bevölkerung gewinnt wieder Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Sie ist verzweifelt und hat sozusagen Wut akkumuliert. Schnell aufeinanderfolgende Demonstrationen auf den Straßen - einmal konnten die Revoltierenden sogar bis ins Innere des Kongressgebäudes vordringen - haben in den letzten zwei Wochen den Eindruck hinterlassen, dass die staatlichen Institutionen instabiler nicht sein könnten.

Aber die »soziale Explosion« ist mit den klassischen Vorstellungen von Macht nicht zu begreifen. »Die liberale Predigt und die institutionalisierte Art und Weise, die Politik zu verstehen, laufen ins Leere. Der bürgerliche Liberalismus dreht sich im Kreis und ist verwirrt inmitten des dicken Rauchs der brennenden Reifen und der Brände auf den Straßen«, erklärt Néstor Kohan, Dozent an der Volkshochschule Madres de la Plaza de Mayo.

Und tatsächlich waren in den letzten Wochen die Straßen von Buenos Aires wie von Córdoba oder von anderen Städten der Provinz gefüllt von unterschiedlichsten Menschen, vom Mittelschichtbürger über Arbeitslose bis zu verschiedenen linken Gruppen. Auch der trotzkistische Partido de Trabajadores por el Socialismo (PST) möchte Teil dessen sein, was man heute als »die revolutionären Tage vom 19. und 20. Dezember« bezeichnet, als der damalige Präsident Fernando de la Rúa sich im Hubschrauber aus der Casa Rosada, dem Sitz der Exekutive, absetzte.

Trotz der Anwesenheit vieler marxistischer Organisationen mit den unterschiedlichsten Bezeichnungen waren die Demonstrationen überwiegend führungslos, spontan und anarchisch. Überraschenderweise hat sich die argentinische Bevölkerung selbst mobilisiert. Sie erhielt keinen Befehl und übte genau die Gewalt aus, die sie für notwendig hielt, um gegen die politische Klasse und die mächtigen traditionellen Parteien zu protestieren, gegen die Unión Civica Radical (UCR) und den Partido Justicialista (PJ). Indymedia Argentina zufolge ertönten während der Proteste Rufe wie: »Que se vayan todos, que no quede ni un solo« (etwa: »Dass alle verschwinden, dass kein einziger mehr bleibt!«) und »Ohne Peronisten, ohne Radikale werden wir besser leben!«.

»Es war die explosive Mischung aus vier Jahren Rezession, der neuen Armut, der gewöhnlichen Verbrecher, des politischen Aktivismus und der überschäumenden polizeilichen Repression«, bemerkten Daniel Santoro und Guido Braslawasky am 23. Dezember in Clarín, der argentinischen Tageszeitung mit der höchsten Auflage.

Schon vor den jüngsten Ereignissen stellte Alfredo Moffat, ein Sozialpsychologe an der Volkshochschule Madres de la Plaza de Mayo, fest: »Wenn eine verzweifelte Bevölkerung merkt, dass sie keinen Ausweg hat, wird sie für die Macht sehr gefährlich. Wenn sie nichts zu verlieren hat, kann man sie nicht kontrollieren. Wenn es Arbeitslosigkeit und Hunger gibt, verlieren die Ausgeschlossenen die Angst vor dem Tod, und es ist ihnen egal, ob man mit einer Waffe auf sie zielt oder nicht.«

Auch James Petras, ein Lateinamerikanist aus den USA, argumentiert in diesem Sinne: »Die Bewegungen beschäftigungsloser Arbeiter und ihre direkten Aktionen mit Straßenblockaden waren die Generalprobe für den 'Argentinazo'«, wie die jüngste Massenrevolte auch genannt wird. Bereits Mitte August hatten etwa 150 000 Demonstranten die Straßen erobert, um mit einem weiteren Generalstreik gegen die Wirtschaftspolitik zu protestieren, die der damalige neoliberale Wirtschaftsminister Domingo Cavallo betrieb (Jungle World, 34/01).

Der neue Typ der Insurrektion, der jüngst geprobt wurde, hat bei Politikern, Politologen und Journalisten ein großes Fragezeichen hinterlassen. In einem Interview mit Clarín, das am 23. Dezember erschien, erklärte der Bürgermeister von La Matanza, wo verschiedene Supermärkte geplündert worden waren, dass bei verschiedenen Gelegenheiten »Drogenhändler und 'Schlingel', die für sie arbeiten«, intervenierten.

Antiautoritäre sehen in diesen Interventionen einen weiteren Versuch der politischen Klasse, die Macht auf der Straße zu diskreditieren. In derselben Ausgabe beschreibt Clarín ausführlich, dass »die Bürger, die spontan auf die Straße gegangen waren, um zu protestieren, allmählich von Militanten aus linken Parteien, gewerkschaftlichen Aktivisten - in der UCR spricht man von Gruppen, die dem Lastwagenfahrer Hugo Montayo und dem Gastronomen Luis Barrionuevo nahe stehen - und 'Carapintadas' (ultrarechten Militaristen) ersetzt wurden«.

Zweifellos ist es diesen Gruppen nicht gelungen, die Bewegung zu lenken, die ihnen schon aus den Händen geglitten war. Die argentinischen Geheimdienste versuchten jedenfalls, eine künstliche Erklärung für die Ereignisse zu schaffen. Sie verwiesen auf »Aktivisten des Partido Obrero (Arbeiterpartei), der Izquierda Unida (Vereinigte Linke, bestehend aus Kommunisten und legalistischen Linken) und der Mas (Trotzkisten), die neben anderen als Teil der 2 000 Demonstranten am Donnerstag (20. Dezember) rund um den Plaza de Mayo (im Zentrum von Buenos Aires) mit der Bundespolizei zusammenstießen«.

Ein situationistisch inspiriertes Kollektiv sieht das anders: »Der Typ der Kämpfe und die ideologische Zusammensetzung der sozialen Subjekte, die diese in unserer Geschichte neue Massenrebellion auslösten, waren offenkundig unterschiedlich und nuanciert.«

Die Gruppe präzisiert, dass sich in diesen Tagen unterschiedliche Strömungen trafen. Die bislang unpolitisierte städtische Bevölkerung, die mit Kochtopf und Pfanne in der Hand sang; nationalistische Extremisten mit starken Sympathien für die peronistische Rechte (PJ) oder auch für Militärs mit »patriotischer« Rhetorik wie Seineldin ('Carapintada'-Führer); und Teile der revolutionären Linken, denen es gelang, den engen Rahmen zu überwinden, in dem sie sich sonst bewegen.Auf den Straßen und auf den Barrikaden konnten sie echten Einfluss auf die Massen erlangen.

Die darauffolgenden politischen Schritte werden je nach politischer Sichtweise eingeschätzt. Am 22. Dezember kündigte die argentinische KP an, dass nun »die Stunde der Linken« gekommen sei; »deshalb ist die Einheit von ihnen allen notwendig, um gemeinsam mit einer wirklichen politischen Alternative, die nationale Befreiung, soziale Gerechtigkeit und das Glück unseres Volkes erringt, der Verfassung Leben einzuhauchen«.

Die linksbürgerlich Zeitung Página 12 griff am 2. Januar einen weitergehenden Vorschlag von Vilma Ripoll, einer Abgeordneten der Izquierda Unida aus Buenos Aires, auf: »Eine provisorische Regierung der Linken, um zu Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung aufzurufen, denn die Bevölkerung fordert, dass sich alles ändern soll.« Die Amtseinsetzung von Duhalde hingegen sei lediglich »eine neue Falle«, meinte sie.

»Wir dürfen nicht aus dem Blick verlieren«, schlussfolgert Néstor Kohan, »dass es zum ersten Mal in der argentinischen Geschichte einer kämpfenden Bevölkerung gelang, eine Regierung zu stürzen.« Und nicht den Militärs wie sonst.

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09.01.2002
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