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Erfurt: Solidarität mit den KritikerInnen der Martin-Walser-Veranstaltung


SIE LIEGT AUCH ALS PDF-FILE VOR UNTER
 http://www.infoladen.net/sabotnik/filez/Walser_Flugi.pdf!


Soligruppe 13.9.

Hier folgt der Text:

Erklärung zur Solidarität mit den KritikerInnen der
Martin-Walser-Veranstaltung vom 13.9.2001 in Erfurt

SIE LIEGT AUCH ALS PDF-FILE VOR UNTER
 http://www.infoladen.net/sabotnik/filez/Walser_Flugi.pdf!


Am 13. September 2001 fand in der Michaeliskirche in Erfurt eine
Lesung mit Martin Walser unter dem Titel "Der Lebenslauf der Liebe"
statt. VeranstalterInnen waren die Universität Erfurt und der
Mitteldeutsche Rundfunk (MDR).

In seiner Dankesrede für die Verleihung des "Friedenspreises des
deutschen Buchhandels" 1998 forderte Martin Walser einen Schlußstrich
unter die deutsche und im besonderen die nationalsozialistische
Vergangenheit. Dabei bemühte er antisemitische Stereotype, um die
angebliche "Instrumentalisierung" von Auschwitz für "gegenwärtige
Zwecke" zu beweisen.

Die bei der Rede in der Paulskirche anwesende politische Elite der BRD
spendete stehende Ovationen, nur Ignatz und Ida Bubis sowie Friedrich
Schorlemmer blieben sitzen. In den folgenden Tagen und Wochen kam es zu
einer breiten öffentlichen Debatte um die Walser-Rede. Ignatz Bubis
bezeichnete Walser mit Bezug auf den antisemitischen Gehalt der Rede als
einen "geistigen Brandstifter". Dafür wurde er von Walser und dessen
FürsprecherInnen scharf kritisiert. Da sich das linksliberale und
linksintellektuelle Spektrum, das noch während des Historikerstreits die
den Holocaust relativierenden Anwürfe Ernst Noltes zurückgewiesen hatte,
größtenteils nicht äußerte, bestimmten vor allem konservative
walserfreundliche Erwiderungen die Diskussion. In einem "klärenden"
Gespräch mit Walser auf Einladung des FAZ-Herausgebers Frank Schirmacher
und aufgrund des enormen öffentlichen Druckes nahm Ignatz Bubis den
Vorwurf der geistigen Brandstiftung daher wieder zurück. Im Juli 1999,
wenige Wochen vor seinem Tod, stellte der Vorsitzende des Zentralrats
der Juden in Deutschland mit Blick auf die Walser-Debatte schließlich
resignierend fest, daß er "nichts oder fast nichts bewirkt" habe. Denn:
"Im öffentlichen Bewußtsein ist die Verantwortung für Auschwitz nicht
verankert. [...] Ein Großteil der Bevölkerung denkt wie Martin Walser" .

In seiner Rede beklagt Martin Walser, daß die deutsche Vergangenheit und
insbesondere der Holocaust, ihm und "uns" - gemeint sind alle
"Deutschen" - überall präsentiert werde. Die industrielle Vernichtung
von 6 Millionen Menschen als deutsches Projekt wird in der Rede nur noch
als "Schande" nicht als Schuld bezeichnet und statt von deutschen Tätern
ist die Rede von den (unrechtmäßig!) "Beschuldigten". Er konstatiert,
daß er "von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern [...]
bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut" habe. Damit wende er sich gegen
die "Dauerpräsentation unserer Schande" "in den Medien". Martin Walser
sieht sich also hier von anonymen, die Medien beherrschenden, Mächten
bedroht, die ihm immer wieder die deutsche Vergangenheit vorhalten, ihm
damit weh tun wollen und die Geschichte so zu "gegenwärtigen Zwecken"
instrumentalisieren. Einen Zweck benennt Walser mit dem in Berlin zu
errichtenden Holocaust-Mahnmal, das für ihn jedoch ein
"fußballfeldgroßer Alptraum" ist, der "unsere Schande" monumentalisiert.
Ein weiterer nicht genannter Zweck ist die seinerzeit breit diskutierte
und bis heute nicht vollständig erfolgte Entschädigung von
NS-ZwangsarbeiterInnen. Ebenso stört Walser die Berichterstattung über
"Würstchenbuden vor brennenden Asylantenheimen" - er konnte und wollte
es sich nicht vorstellen, denn in sein Bild vom "ganz normale[n] Volk",
von der "ganz normale[n] Gesellschaft" passen rassistische Angriffe
nicht und erst recht nicht eine applaudierende Bevölkerung. Weil nicht
sein kann, was nicht sein darf.

Daß Walsers Ansichten deutsche Normalität sind, zeigte sich in den
unzähligen lobenden Kommentaren in den Tagen nach seiner Rede ebenso wie
in weiteren Diskussionen der letzten drei Jahre um die deutsche
Vergangenheit. Dank wurde ihm dafür gezollt, endlich das ausgesprochen
zu haben, was andere schon lange dachten. Spiegel-Herausgeber Rudolf
Augstein nutzte antisemitische Bilder, um Walser öffentlich zu
verteidigen und bezeichnete die rechtlichen VertreterInnen von
NS-ZwangsarbeiterInnen in den USA als "Haifische im Anwaltsgewandt".

Aus diesen Gründen riefen verschiedene antifaschistische Gruppen dazu,
die Lesung am 13. September in Erfurt stören. Nach der Eröffnungsrede
des Universitätspräsidenten Wolfgang Bergsdorf wurde auf dem Podium ein
Transparent entrollt auf dem "Deutschland denken heißt Auschwitz denken"
zu lesen war. An das Publikum wurden Flugblätter verteilt, in denen die
Kritik an Martin Walser formuliert war. Unter lautstarkem Protest wurde
ein Redebeitrag verlesen, der Martin Walsers Antisemitismus und
Geschichtsrevisionismus benannte. Daher wurde gefordert, daß anstelle
der Lesung eine Diskussion über Antisemitismus stattfindet.

Die Anwesenden waren allerdings hieran nicht interessiert, sondern
reagierten mit Beschimpfungen wie "Scheiß-Zecken" oder "Rotzlöffel"
(Walser zum Redner). Selbst vor Handgreiflichkeiten wurde nicht Halt
gemacht und nach kurzer Zeit und unter tosendem Applaus wurden die
Protestierenden von der vorsorglich bereitgehaltenen Polizei aus der
Michaeliskirche geräumt. Ein Leser der "Thüringer Allgemeinen" (TA)
schätze ein, daß die Teilnehmenden dieser Veranstaltung "über
Wesentliches hätten diskutieren können", aber "dazwischen kam ein
Publikum, daß dazu nicht bereit war und die Jugendlichen niederbrüllte".
(TA vom 17.09.01)

Sieben Personen wurden bis zum Ende der Veranstaltung in Gewahrsam
genommen. Ende Oktober erhielten sie Vorladungen zur Vernehmung bei der
Polizei - wegen Hausfriedensbruch. Die Strafanzeige wurde vom
Universität-Präsidenten gestellt. Nachdem also die Kritik an der
Einladung Walsers schon in der Michaeliskirche unterbunden wurde, soll
sie obendrein nachträglich abgeurteilt werden und damit symbolisch
delegitimiert werden.

Durch den Umgang mit dem Protest gegen die Walser-Veranstaltung zeigt
die Universität Erfurt, daß sie zu einer kritischen Auseinandersetzung
mit der deutschen Geschichte nicht bereit ist und KritikerInnen am
liebsten mundtot machen würde. Dies geschieht in einem
gesellschaftlichen Klima, in dem Rassismus und Antisemitismus zum Alltag
gehören. Bei der Veranstaltung am 13.9. wurden die antisemitischen
Positionen, die Herr Walser in seiner Friedenspreisrede vertrat, nicht
etwa unter den Teppich gekehrt. In seiner Begrüßungsrede reihte der
Präsident der Universität Erfurt, Herr Bergsdorf, die Friedenspreisrede
in die Reihe von Walsers ‚großartigen Werken' seiner Schaffensperiode
mit ein und nannte die Vorwürfe von Ignatz Bubis eine "unhaltbare
Anschuldigung". Dabei ist Wolfgang Bergsdorf genau dem
rechts-konservativen Spektrum zuzurechnen, das die Friedenspreisrede
Walsers als "Befreiung" (von der "Last" der Vergangenheit) aufnahm. So
war er z.B. Mitarbeiter und Autor im "Deutschlandmagazin", dem Organ der
"Deutschlandinitiative". Dieser darf laut eines Gerichtsbeschlusses der
"Kontakt zu Alt- und Neonazis" nachgesagt werden.


Auch wenn es "nur" um eine Romanlesung ging - Martin Walsers
literarisches Werk ist von seinen politischen Ansichten nicht zu
trennen. Schließlich formulierte er schon 1979 die Drohung: "Wenn wir
Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Aufgaben
zuwenden".

Der Umgang der Universität und ihres Präsidenten mit dem Protest zeugt
von einer fehlenden Kritikfähigkeit. Das repressive Mittel der Anzeige
soll gegen Widerspruch immun machen, indem es die KritikerInnen zu
StraftäterInnen macht. Diskussion war und ist unerwünscht. Die Reaktion
bewegt sich in bekannten autoritären Mustern. Auch auf ein Mitglied des
Sudierendenrates, das sich kritisch zu der Veranstaltung mit Walser
äußerte, wird nun innerhalb der Universität Druck ausgeübt.

Was allerdings bleibt übrig, als die Diskussion um Antisemitismus
offensiv einzufordern: wenn sich eine Universität scheinbar nicht mehr
als Ort der fortschrittlichen Gesellschaftskritik und Debatte begreift?
Wenn sie in einer Stadt, in der erst im letzten Jahr der jüdische
Friedhof geschändet und ein Brandanschlag auf die Synagoge verübt wurde,
dies nicht zum Anlaß nimmt, Antisemitismus und dessen politische
Ursachen zu thematisieren? Wenn sie statt dessen einen Schriftsteller
einlädt, der für ein Ende der Auseinandersetzung mit der deutschen
Vergangenheit eintritt?

In dieser Situation ist Eingreifen nicht nur richtig, sondern wichtig
und notwendig!

Wir fordern daher:

Die Rücknahme der Strafanzeige der Universität, um ein Signal für den
politischen Meinungsstreit und ein deutliches Zeichen dafür zu setzten,
daß Antisemitismus und die Relativierung der deutschen Geschichte und
ihrer Verbrechen nicht unwidersprochen bleiben dürfen.

Eine öffentliche kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus,
insbesondere dem sekundären Antisemitismus und der Zunahme
antisemitischer Einstellungen in der deutschen Gesellschaft in
Seminarangeboten und offenen Veranstaltungen der Universität.

"Solidaritätsgruppe 13.9."


Ich unterstütze die Forderungen der "Solidaritätsgruppe 13.9.".

______________________ _____________________ _____________________
Name, Vorname Beruf/Organisation Unterschrift

Um den Protest und die Forderungen der "Soligruppe 13.9." und der
Betroffenen zu unterstützen, senden Sie/sende bitte diese Erklärung als
Fax an die Leitung der Universität Erfurt. Außerdem bitten wir um
Spenden für Anwaltskosten und eventuell anstehende Prozeßkosten.

Präsident Dr. habil. Wolfgang Bergsdorf: Fax: ++49-361/7 37 50 09
(Email:  praesident@uni-erfurt.de)
Vizepräsident: Prof. Dr. Wolfgang Schluchter: Fax: ++49-361/7 37 19 53
(Email:  wolfgang.schluchter@uni-erfurt.de)
Vizepräsidentin: Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl: Fax: ++49-361/7 37 44 19
(Email:  ursula.lehmkuhl@uni-erfurt.de)
Kanzler: Martin Henkel-Ernst: Fax: 0361/737-5019 (Email:
 Martin.Henkel-Ernst@uni-erfurt.de)

[Kontakt: "Solidaritätsgruppe 13.9.", c/o Rote Hilfe Erfurt, PF 100603,
99006 Erfurt, E-mail:  erfurt@rote-hilfe.de]
[Spendenkonto: Inhab.: LAG Antifa/Antira, K-Nr. 237 124 37 91, BLZ: 820
101 11, BfG Erfurt, Stichwort: "Walser"]

 

07.11.2001
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