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Berlin: Zum "ATTAC"-Kongreß

Gezähmte Dompteure?
Wider den verkürzten Antikapitalismus der Globalisierungsgegner

Während die einen die Anti-Globalisierungsdemos als »Terror« (Focus) diffamieren, begrüßen die anderen genauso unreflektiert die »neue Welle« der »Protestgenerationen von heute« (Gretchen Dutschke). Die Witwe der 68er-Ikone jubelt: »Heute protestieren die Menschen gegen die kapitalistische Globalisierung. So abstrakt das klingen mag; die Menschen verstehen es«. Im gleichen Atemzug offenbart Dutschke mit ihren personalisierenden Phrasen vom globalen »Klassenkampf« gegen den »selbsternannten Oligarchen« Bush und seine »Globalisierungspläne«, daß sie seit 30 Jahren vom Kapitalverhältnis nichts verstanden hat. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn sie damit alleine stünde. Nur zu oft jedoch schließt sich der Kreis vom Antiamerikanismus der 68er-Linken zum verkürzten Antikapitalismus der 'Globalisierungsgegner'. Die Erfolgsgeschichte linker Irrtümer schreibt sich in einem weiteren Kapitel fort.
Versatzstücke der traditionell antiimperialistischen Ideologie der Neuen Linken mit ihren nationalistischen Untertönen haben aktuell vor allem im Mainstream des linken Anti-Neoliberalismus- und Globalisierungsdiskurses ihren festen Platz. Hier wie dort wird der Kapitalismus weitgehend mit einer Wirtschaftsform identifiziert, die im Interesse der privaten Aneignung des als Mehrwert produzierten Reichtums durch »herrschende Klassen« die Interessen der Ausgebeuteten mißachtet. Mit dieser Interpretation ist unweigerlich eine Reihe von Vorstellungen verbunden, denen das Herunterbrechen hochkomplexer Zusammenhänge auf einfache dichotome Gegensätze zugrundeliegt.
Der abstrakte kapitalistische Vergesellschaftungs-zusammenhang, welcher tendenziell alles und jeden durchdringt und so zu Formen totaler Vergesellschaftung führt, wird dabei unzulässig verdinglicht und personalisiert. Der Gesamtzusammenhang kapitalistischer Warenvergesellschaftung zerfällt dabei in Einzelbereiche wie Markt und Staat oder Wirtschaft und Politik. Durch Etikettierungen wie »neoliberal« werden bestimmte Erscheinungsformen des global gewordenen Kapitalismus für das Ganze genommen und die Globalisierung allein zu einem willentlich betriebenen politischen Projekt der Herrschenden erklärt. 'Neoliberale Globalisierung' wird dabei oft synonym mit dem älteren Begriff des (spekulativen) Finanzkapitals verwendet, der so eine ungute Renaissance erfahren hat.
Eine adäquate linke Kritik an den Phänomenen der Globalisierung hat demgegenüber »Globalisierungsprozesse ausgehend von einem Gesellschaftsverständnis zu diskutieren, das sowohl Markt und Staat als auch produktives und zirkulatives Kapital als notwendige Bestandteile kapitalistischer Warenproduktion begreift und kritisiert. Ein solches umfassenderes Kapitalismusverständnis wird zwar auch von aktivistisch ausgerichteten Linken wie z. B. Ulrich Brand vom BUKO-Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaft propagiert. Er bezweifelt aber, daß »mehr Arbeit am Begriff den Ausweg weise.« Sieht man sich jedoch die politischen Statements der Globalisierungsgegner an, scheint genau dies nötig zu sein.


Entfesselte Kontrolle

Wohin die undialektische Entgegensetzung der »Teilbereiche« Politik und Ökonomie führt, verdeutlicht die in Frankreich entstandene Bündnisbewegung ATTAC. In ihrer Argumentation erscheint der durch die kapitalistische Produktionsweise erzeugte Reichtum als weitgehend neutral, also gesellschaftlich prinzipiell zur Disposition stehend. Die immer wieder reproduzierten krassen gesellschaftlichen Ungleichheiten und Verelendungsprozesse werden dabei vor allem als Verteilungsproblem in Folge neoliberaler Politiken verstanden, dem mittels politischer Willensakte beizukommen ist. Auf dieser Grundlage läßt sich trefflich gegen die »entfesselten globalen Märkte« agitieren, die wieder »demokratischer Kontrolle unterworfen werden« müßten. Die sich hier ausdrückende naive Vorstellung von den Möglichkeiten »politischer Einflußnahme« unter besonderer Berücksichtigung der »Zivilgesellschaft« hängt mit dem Schwund eines kritischen Staatsbegriffes als weiterem Defizit linker Kritik an neoliberaler Globalisierung zusammen.
Im linken Globalisierungsdiskurs wird oft der Nationalstaat als potentieller Wohlfahrts- und Sozialstaat zum positiv besetzten Gegenstück des besagten »entfesselten« Marktes erhoben, statt beide als notwendig aufeinander angewiesene Kategorien warenkapitalistischer Vergesellschaftung zu betrachten. Das gilt auch und gerade für den Prozeß der Globalisierung, der ohne staatliche Vermittlung genausowenig denkbar ist wie eine ausschließlich marktförmige Reproduktion des Kapitalismus überhaupt. Der Staat steht weder als neutraler Akteur über dem marktwirtschaftlichen Geschehen und kann dieses nach Maßgabe der in ihm hegemonialen politischen Kräfte willkürlich beeinflussen, noch ist er den von den Kapitalverwertungsbedingungen auf dem Weltmarkt ausgehenden Transformationsprozessen naturgewalthaft ausgeliefert. Die mit der Globalisierung zu beobachtende Deregulierung und Transformation des keynesianischen Sozialstaates in den nationalen Wettbewerbsstaat ist daher sowohl Ergebnis planmäßiger politischer Staatsintervention als auch durch tatsächliche Kapitalverwertungskrisen aufgenötigt. Sie begünstigen ihrerseits die Durchsetzung neoliberaler Gesellschaftsbilder und entsprechender staatspolitischer Maßnahmen.
Die Orientierung auf eine Wiederherstellung des Sozialstaates zieht sich im Namen des Kampfes gegen die neoliberale Globalisierung durch bis zu linken Theoretikern wie z.B. Pierre Bourdieu, die als Stichwortgeber der Antiglobalisierungsbewegung fungieren. Bei allen richtigen Gedanken, die sich gegen die Ideologen der »Neuen Mitte« wie Ulrich Beck und Anthony Giddens richten, bedient auch Bourdieu immer wieder das dichotome Bild der »Verwalter der großen Institutionen (...), die heute über das Feld des Finanzkapitals herrschen,« und die »Zerstörung des Sozialstaates, der linken Hand des Staates« betrieben. Für Bourdieu »funktioniert dieses Feld wie eine Höllenmaschine ohne Subjekt, das sein Gesetz den Staaten und den Unternehmen aufzwingt«. Das Feld des Finanzkapitals und des Neoliberalismus wird so den Staaten und sogar den Unternehmen gegenübergestellt, anstatt sie als Gesamtzusammenhang zu begreifen, in der die subjektlose Herrschaft der kapitalistischen Wertvergesellschaftung waltet.

Wunsch nach Geborgenheit


Besonders problematisch werden solche Analysen, wenn Bourdieu ein »Europa, das sich um die Macht und die Machthabenden herausbildet und das so wenig europäisch ist«, ablehnt und behauptet, daß dieses Europa »nur kritisierbar ist, indem man Gefahr läuft, mit den Widerständen eines reaktionären Nationalismus (...) verwechselt zu werden.«] Sicherlich liegt Bourdieu der Pakt mit dem globalisierungsfeindlichen Antikapitalismus von rechts, wie in Frankreich etwa von der Front National vertreten wird, völlig fern. Aber es muß dennoch die Frage gestellt werden, inwieweit er es in Kauf nimmt, unfreiwillig an der Ideologie von den guten europäischen Traditionen mitzuwirken, die sich vor allem gegen die 'Amerikanisierung' der politischen Kultur richtet und damit traditionelle antiamerikanische Ressentiments bedient. Die Hoffnungen, mit einer sozialstaatlich reformierten EU gegen den share-holder-value-Kapitalismus US-amerikanischer Prägung vorzugehen, sind jedenfalls nicht nur im NGO-Spektrum um ATTAC weit verbreitet.
ATTAC-Deutschland setzt dem »zeitgenössischen Manchesterkapitalismus« der »Global Players« eine Gemeinschaftsideologie entgegen, bei der volksgemeinschaftliche Töne anklingen. In Deutschland übersetzt sich derlei Globalisierungskritik schnell in die spezifisch deutsche Ideologie des korporatistischen »rheinischen Kapitalismus«. So setzt ATTAC-Deutschland dem »zeitgenössischen Manchesterkapitalismus« der »Global Players« eine Gemeinschaftsideologie entgegen, bei der volksgemeinschaftliche Töne anklingen. Christoph Bautz beschwört in einer ATTAC-Broschüre das Bild von schwarze Koffer tragenden Kapitalanlegern, die sich auf der Suche nach Steueroasen »trotz satter Gewinne und Vermögenszuwächse vor ihrer sozialen Verantwortung drücken.« Jörg Huffschmidt von der »Memorandum-Gruppe Alternative Wirtschaftspolitik« sekundiert, die »Liberalisierung des Kapitalverkehrs« als Ursache der Armuts- und Reichtumsschere sei ein gemeinschaftsschädliches Übel: »Der soziale Zusammenhalt wird destabilisiert, gesellschaftliche Stabilität muß durch disziplinierende und polizeiliche Maßnahmen hergestellt werden.« Dagegen setzt der alternative Nationalökonom eine Vorstellung von »den Bedürfnissen der Menschen - Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit«, die mit dem Wunsch nach Geborgenheit im nationalen Kollektiv durchaus kompatibel sind.
Bedroht wird diese Gemeinschaft immer von außen: Hinter dem Politikfetisch und seinen nationalen Anwandlungen steht das Feindbild »globales Finanzkapital« mitsamt seinem »Raubtierkapitalismus«. »Die internationalen Finanzmärkte sind zu einer Macht geworden, die zunehmend die Politik bestimmen«, lautet der erste Satz der deutschen ATTAC-Gründungserklärung. Positiv entgegengesetzt werden den globalisierten Finanzmärkten die nationalen Ökonomien: »Durch Finanzcrashs werden jahrelange Bemühungen ganzer Volkswirtschaften über Nacht zunichte gemacht.« Interne Ausbeutungs- und staatliche Herrschaftsverhältnisse werden durch solche Argumentationen entweder zum Verschwinden gebracht oder - schlimmer noch - als Ausweg gepriesen. Denn mit der Rede von »produktiven Investitionen« und »politischer Re-Regulierung« werden Kapitalismus und Staat ungebrochen affirmiert.

Dubiose Bündnispartner


Doch nicht nur reformistische Bündnisse wie Attac machen aufgrund ihrer Verengung des antikapitalistischen Blicks auf Verteilungsprobleme das Übel des Kapitalismus in der Zirkulationssphäre fest, also im Welthandel und in den auf den internationalen Börsen und Finanzmärkten flottierenden Geldvermögen. Auch in dem von ca. 200 Organisationen auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre verabschiedeten »Aufruf zur Mobilisierung« wird vor allem gegen »die Vorherrschaft der Finanzmächte, die Zerstörung unserer Kulturen« durch die »neoliberale Globalisierung« gewettert, die »den Gemeinschaften und Nationen Ressourcen und Reichtum« entzögen. An den Auslandsschulden wird das finanzkapitalistische Böse dingfest gemacht: »Illegitim, ungerecht und betrügerisch fungieren sie lediglich als Instrument der Unterwerfung und berauben die Völker ihrer fundamentalen Rechte einzig und allein deswegen, um den internationalen Wucher noch mehr auszuweiten.«
Spätestens mit solcher Agitation gegen den »Wucher« offenbart die Unterscheidung zwischen einem werteschaffenden produktiven Investitionskapital auf der einen Seite (welches die Mehrwertproduktion der Arbeitskraft ausbeutet und in Klassenauseinandersetzungen auf nationalstaatlicher Ebene als regulierbar angesehen wird) und einem unproduktiven, sich parasitär von Zinserträgen nährenden Finanzkapital auf der anderen Seite den ihr zu Grunde liegenden strukturellen Antisemitismus. Es gibt eine klare Verbindungslinie von der traditionslinken, positiven Wertschätzung produktiver Arbeit zur antisemitischen Unterscheidung zwischen »schaffendem« und »raffendem« Kapital. Natürlich sind Traditionslinke und ähnlich denkende Globalisierungsgegner nicht per se Antisemiten - ein unbestreitbares Problem ist aber, daß ein auf die Unterscheidung zwischen Produktiv- und Finanzkapital fixierter Antikapitalismus nicht nur die kapitalistische Vergesellschaftung falsch begreift, sondern von der Struktur der Argumentation her immer eine offene Flanke zum Antisemitismus hat.
Unter bekennenden Antisemiten hat man die Zeichen der Zeit längst erkannt. Ohne größere Schwierigkeiten findet man Anschluß an den linken Globalisierungsdiskurs. Die neonazistische Kameradschaft Gera agitierte mit Argumentationsfiguren »heraus zum 1. Mai«, die ohne weiteres einem linken Positionspapier gegen Globalisierung entnommen sein könnten: »Wirtschaft [...] verkommt zur ungenierten Geldvermehrung immer weniger Superreicher. Durch unkontrollierte multinationale Konzerne werden Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet. Riesige Geldbeträge werden Tag für Tag um die Welt geschoben für Luftgeschäfte, die keinen Bezug zur realen Arbeitswelt haben.«
Vor diesem Hintergrund erweist sich die immer wieder beschworene Vielfalt der Anti-Globalisierungsbewegung oft genug als Einfallstor für allerlei dubiose Bündnispartner. Hauptsache, man ist vernetzt. Das Lob der Vernetzung als »Verknüpfung mit Synergiepotential« schwallt einem selbst aus linksradikalen Publikationen entgegen. Wer will sich da noch mit der Frage aufhalten, was mit der dem »New Economy«-Neusprech entnommenen Phrase vom »Synergiepotential« so alles transportiert wird. Der Mythos Finanzkapital ist zu einem gemeinsamen Nenner der Globalisierungsgegner geworden, der mühelos den evangelischen Kirchentag mit antizionistischen Antiimps eint. Auf der Kirchentagsaktion gegen die »Macht des Geldes« führten geldscheinverbrennende Diakonissen den Geldfetisch in seiner ursprünglichen, christlich-religiösen und historisch antisemitisch konnotierten Form vor. Passend dazu führt die Hälfte der Links auf der dazugehörigen Internet-Seite des Kirchentags direkt zur gegen den »Zinswucher« eifernden Initiative für natürliche Wirtschaftsordnung (INWO). Diese Anhänger der »Freiwirtschaftslehre« des Sylvio Gesell sind ihrerseits mit NGOs wie Erlaßjahr-Kampagne oder ATTAC-D verlinkt. Angesichts solcher Vernetzungseffekte wundert es nicht, wenn wie kürzlich in Berlin auf einer Veranstaltung der Gruppe FelS über »die 'Antiglobalisierungsbewegung' und die Diskussion über 'internationale Finanzmärkte'« auch Islamisten als Mitdiskutanten auftauchen. Sie verteilten Flugblätter, in denen sie »dem Wucher, sprich Kapitalismus, den Krieg« erklären und verkünden: »Antikapitalisten aller Länder, werdet Muslime!«

Ideologiekritik contra Praxis?

Eine radikale Gesellschaftskritik sollte aber nicht nur die Entwicklung kapitalistischer Herrschaft ohne falsche Rücksichten thematisieren, sondern auch die falschen Kategorien ihrer Gegenbewegungen.
Es soll hier keineswegs der Eindruck erweckt werden, daß demnächst das Bündnis linker Globalisierungsgegner mit Neonazis und Islamisten droht. Schließlich gehört es zum guten linken Ton, sich von reaktionären Globalisierungsgegnern abzugrenzen, indem Antirassismus und die grundsätzliche Ablehnung jeder Form von Herrschaft und Unterdrückung propagiert werden. Internationale Aktionen zusammen mit Migrantengruppen gegen Grenzregimes und Diskriminierung von Flüchtlingen gehören tatsächlich zu den Stärken der Anti-Globalisierungsbewegung. Es ist auch richtig, IWF- und G8-Gipfel oder andere Treffen der Funktionseliten des Kapitals zu nutzen, um deren Verantwortung für Politiken, die mörderische Konsequenzen für ganze Bevölkerungen haben, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu kritisieren. Aber den unheimlichen Verwandschaften falscher antikapitalistischer Weltbilder ist nur mit einer Ideologiekritik beizukommen, die gerade im Fall der Globalisierung auf kategoriale Kapitalismus-, also Wertkritik nicht verzichten sollte.
Wenn Gerhard Hanloser in einem Debattenbeitrag (jungle world Nr. 28/01) der »simplen Kapitalismuskritik« der i-Globalisierungsbewegung ohne solche kategoriale Kritik an ihren Bewußtseinsformen beikommen möchte und hofft, eine an Marx orientierte radikale Kapitalismuskritik möge dennoch »in die Bewegung dringen«, nimmt sich dies wie das Warten auf ein neues Pfingstwunder aus. Ähnlich bekundete BUKO-Mitarbeiter Markus Wissen auf der FelS-Veranstaltung, die ATTAC-Ideologie zwar kritisieren zu wollen, aber »nicht ideologiekritisch, sondern in praktischer Absicht«. Vor lauter Hoffnung auf die bessere und radikalere Bewegung kappt sich so notwendige Kritik immer wieder selbst die Spitze, weil sonst die Anschlußfähigkeit verloren gehen könnte. Eine radikale Gesellschaftskritik sollte aber nicht nur die Entwicklung kapitalistischer Herrschaft ohne falsche Rücksichten thematisieren, sondern auch die falschen Kategorien ihrer Gegenbewegungen. Mit der unterstellten Praxisfeindlichkeit hat dies nichts zu tun.

Udo Wolter



 

22.10.2001
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