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Tübingen: IMI-Erklärung

Die erste Welle des Vergeltungskriegs

Stellungnahme und Kurzanalyse von der Informationsstelle Militarisierung

(IMI) e.V.

Pressemitteilung und Rundmail der IMI-Mailingliste (08.10.2001)

1. Die Angriffe und die Bundeswehr

Am 07.10.2001 ab 18.30 Uhr haben Truppen der USA und Großbritanniens
Afghanistan angegriffen. US-Truppen (Luftwaffe, Marine, Kommandotruppen
und (Elite-)Truppen des Heeres) in der Größenordnung von 30.000
Soldat/inn/en waren seit dem 11. September rund um Afghanistan
aufmarschiert. Die völkerrechtswidrigen Angriffe wurden von US-Truppen
und britischen Truppen durchgeführt.

Ein bei den Angriffen auf Afghanistan beteiligter Pilot eines
amerikanischen B-52-Bombers meinte in einer Telefonkonferenz mit dem
US-Kriegsministerium: "Alles lief wie eine gut geölte Maschine, fast
genauso wie im Training", "wie geschmiert". "Unser Training hat sich
ausgezahlt. Es erschien alles sehr vertraut."

Die Bundeswehr nimmt an den eigentlichen Angriffsaktionen noch nicht
teil, wie Bundeskanzler Gerhard Schröder - fast bedauernd - mitteilte.
Am Angriffskrieg gegen Afghanistan ist sie dennoch schon jetzt
beteiligt, da logistische Hilfe für die Angriffe von deutschen,
französischen, kanadischen und australischen Einheiten kam. Schröder
kündigte eine Teilnahme der Bundeswehr an den Angriffen an, sobald dies
von der US-Regierung gewünscht sei.

2. Solidarität nicht mit der US-Regierung sondern mit den Betroffenen
der Anschläge

Schröder wiederholte seine Formel von der "uneingeschränkten
Solidarität" mit der US-Regierung. (Was ist eigentlich eine
eingeschränkte Solidarität?)

Friedbert Pflüger attestiert in einem Gastkommentar in der FAZ allen,
die sich nicht für die Kriegspolitik der US-Regierung als Reaktion auf
die brutalen Anschläge in New York und Washington einsetzen eine
"Verwirrung des Geistes": "Radikaler Pazifismus, Weltfremdheit,
Werterelativismus, Antiamerikanismus, Appeasement, Angst, auch
Hartherzigkeit - die Verwirrung des Geistes greift um sich. (...) An der

grundsätzlichen Haltung darf kein Zweifel bestehen. Wir dürfen
angesichts des Massenmordens vom 11. September nicht neutral sein."

Noch einmal: Wir sind solidarisch mit den Opfern und Betroffenen der
brutalen Anschläge in New York und Washington (die im Übrigen sehr
international zusammengesetzt waren). Wir sind aber nicht solidarisch
mit einer US-Regierung, die begonnen hat, einen Rache- und
Vergeltungskrieg zu führen. Ebenso wenig solidarisch sind wir mit der
deutschen Bundesregierung, die den Vergeltungskrieg mitführen will.

Terror wird durch Krieg nicht bekämpft, im Gegenteil, neuer Terror wird
verursacht. Der Krieg der USA mit Hilfe der NATO ist eine kurzsichtige
und arrogante Manifestation der (militärischen) Stärke. Keinem der Opfer

vom 11. September ist geholfen durch neue Tote.

3. Die offiziellen Ziele der Angriffe

Bombardiert wurden Städte in allen Regionen Afghanistans: Kabul,
Kandahar (Süden), Dschalalabad (Osten), Farah (Westen), Masar-i-Scharif
und Kundus (Norden an der Grenze zu Tatschikistan). "Osama Bin Laden
selbst ist nicht Ziel der ersten Angriffswelle gewesen", so US-Präsident

George W. Bush.

George W. Bush sprach davon es seien "sorgfältige gezielte Aktionen"
"gegen das Netzwerk der Terroristen um Osama bin Laden und militärische
Einrichtungen des Taliban-Regimes". Es heißt, Ziel der Angriffe seien,
so US-Kriegsminister Donald Rumsfeld: "Flugabwehrsysteme, Flugzeuge und
Stützpunkte von Terroristen". Zudem solle das "militärische
Kräfteverhältnis" "zu Gunsten der oppositionellen Nordallianz verändert
werden".

Wir sehen (wieder) nicht, was bombardiert wurde, welchen Schaden die
Bomben angerichtet haben. Wir glauben - insbesondere nach den
Erfahrungen früherer Kriege (Golfkrieg, Jugoslawienkrieg) und der
Ankündigung der US-Regierung "wir werden lügen" zuerst einmal nichts,
was uns die Kriegsparteien sagen. Die Medien sind aufgefordert nicht
parteiisch auf der Seite "des Westens" über den Krieg zu berichten. Das
erste Opfer jedes Kriegs ist die Wahrheit.

4. Die Verbündeten der Kriegsallianz

Vom Angriffskrieg der USA und Großbritanniens waren "engste Verbündete"
vorab informiert worden: Präsident George W. Bush telefonierte vor dem
Kriegsbeginn u.a. mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, dem
NATO-Generalsekretär George Robertson, mit dem außenpolitischen
EU-Beauftragten Javier Solana, mit Bundeskanzler Gerhard Schröder, dem
französischen Präsidenten Jacques Chirac, dem jordanischen König
Abdullah II. und dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon.
Auch die neuen Freunde der USA, die afghanische Nordallianz, die jetzt
direkt von den USA militärisch aufgerüstet wird, war vorab informiert
worden.

Besonders erschreckend die Stellungnahme des neuen engen Verbündeten der

USA, der russischen Regierung zu den Angriffen in Afghanistan: "Die
Terroristen in Afghanistan, Tschetschenien, im Nahen Osten, auf dem
Balkan oder wo auch immer müssen wissen, dass sie ihr gerechtes Urteil
erhalten werden." Hier werden unterschiedlichste politische
Zusammenhänge zusammengeschmissen und zu einem "Anti-Terror-Brei"
verwürgt.

5. Zivilisten und die Angriffe und die Nöte mancher "Mitkrieger"

Die Nordallianz teilte denn auch mit, die US-Angriffe wären "treffgenau"

gewesen und es habe keine Meldungen über getötete Zivilisten gegeben.

Die pakistanische und die chinesische Regierung äußerten - aus jeweils
anderen Motiven - der Militäreinsatz solle sich nur gegen "bestimmte
Ziele" richten, "um keine unschuldigen Zivilisten zu verletzen", so die
chinesische Regierung. Das Regime des pakistanischen Militärputschisten
General Pervez Musharraf, ebenfalls neuer Freund des Westens, "hoffe" -
wohl insbesondere aus innenpolitischen Gründen "die amerikanische
Offensive werde kurz sein und die Zivilisten schonen". Fast wortgleich
äußerte sich Rezzo Schlauch, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90 / Die
Grünen: "Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Zivilbevölkerung so
weit wie möglich geschont wird". All diese Aussagen sind
naiv-gefährliches Wunschdenken.

Erfahrungsgemäß (vgl. Golfkrieg und NATO-Angriffskrieg gegen
Jugoslawien) sind jedoch zumeist Zivilisten Opfer (sogenannte
"Kollateralschäden") angeblich "punktgenauer Militärschläge". Um 04.00
Uhr MESZ wurde bestätigt, es hat tote Zivilisten gegeben.

6. Der lange - nichtöffentliche - Krieg und der Mythos 'saubere
Kommandounternehmen'

Die US-Regierung wies darauf hin, daß diese Angriffe erst der Beginn
"eines langen Krieges gegen Terrorismus" seien.

Unsere Einschätzung ist, daß wir derzeit nur den Beginn eines langen
Krieges erleben, der aber nicht immer so sichtbar sein wird, wie der
jetzige Beginn. Der kommende Krieg wird so tun, als ob er keiner sei.

Nach den jetzigen Bombardierungen, die vermutlich mehrere Tage andauern
werden, wird es wohl zu nichtöffentlichen Kommandounternehmen kommen.
Teilnehmen daran werden auf jeden Fall die in der Nähe des
Kriegsgebietes befindlichen Spezialeinheiten Delta Forces aus den USA
und SAS aus Großbritannien und womöglich französische Eliteeinheiten und

vielleicht des Kommando Spezialkräfte (KSK) aus Deutschland.

Diese Kommandounternehmen sind eine hochgefährliche Angelegenheit.
Theorien von "schönen" James-Bond-Aktionen - wie sich das manche
vorstellen - sind das eine, die Praxis das andere:

Der Noch-Kommandeur der Kommando Spezialkräfte Reinhard Günzel hat
kürzlich in einem Interview gegenüber Spiegel-online verbotenerweise
ausgeplaudert, er hielte eine Ergreifung Bin Ladens "ohne erhebliche
eigene Verluste in Kauf zu nehmen, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt

für so gut wie unmöglich". "Dies sei unter Spezialkräften Amerikas,
Israels, Frankreichs und Großbritanniens weitgehend übereinstimmende
Auffassung." Er befürchte bei einem KSK-Einsatz in Afghanistan ein
Blutbad. Jede/r Zivilist/in, der sie entdeckt, muß von den
Kommandosoldaten als "Feind" behandelt werden, schließlich darf nicht
herauskommen, wo sie agieren.

Saubere Kommandounternehmen sind ein Mythos, sie sind nur eine weniger
öffentliche Form der Kriegsführung. Blutig sind sie allemal. (Näheres
dazu in Pflüger, Tobias: "Der Mythos 'saubere Kommandounternehmen' - Das

Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr", in: Zivilcourage extra 2001
(Zeitschrift der DFG-VK), auch im Internet unter
 http://www.dfg-vk.de/zc/2001-06/12.pdf oder
 http://www.imi-ev.de/download/12.pdf)

7. "Low intensity conflict"

Die US-Regierung begleitet ihren Kriegseinsatz mit Hilfsgütern für die
Bevölkerung. Die Angriffe seien nämlich nicht gegen die Bevölkerung
gerichtet. Das ist militärischer Unsinn, aber die Weltöffentlichkeit
glaubt es wohl. Donald Rumsfeld teilte mit, daß sofort nach den Attacken

Hilfsgüter für die Bevölkerung abgeworfen wurden.

Daneben wird die klassische Strategie der "low intensity conflicts"
betrieben. Es ist von "umfangreichen Aufklärungskampagnen" die Rede.
Kriegspropaganda nannte man das früher. Flugblättern und
batterie-unabhängige aufziehbare Radios wurden abgeworfen. Damit soll
die Bevölkerung Nachrichten des US-Militärs in der Landessprache
empfangen könne, die von einem speziellen Flugzeug aus ausgestrahlt
werden. Ralf Bendrath hat auf die Relation hingewiesen: Zwei
US-Flugzeuge werfen Lebensmittel und Medikamente ab, 40 andere Bomben
und Marschflugkörper.

Die US-Regierung sagt, sie wolle das Taliban-Regime stürzen. In der
südwestafghanischen Stadt Sarandsch sind nach Angaben der amtlichen
iranischen Nachrichtenagentur IRNA nach Beginn der US-Angriffe Kämpfe
zwischen Einwohnern und den Taliban ausgebrochen. "Etwa 150 Afghanen
versuchten die Taliban aus der Stadt zu treiben, meldete IRNA unter
Berufung auf afghanische Kreise."

Ein Sturz der Taliban-Regierung ist nicht so einfach möglich. Es darf
nicht vergessen werden: Die USA haben schon einmal signalisiert, sie
wollten ein Regime stürzen und wiegelten Menschen zu Aufständen auf, was

zu vielen Toten führte. Am Ende des Golfkriegs 1991 gegen den Irak lies
der Vater des jetzigen Präsidenten, Colin Powell war ebenfalls als
damaliger General beteiligt, Saddam Hussein dann doch lieber im Amt.

8. Flüchtlinge als erste Opfer der Angriffe

Das Problem in Afghanistan ist ein anderes: Nach Ankündigung der
Angriffe durch die USA und Großbritannien haben die Flüchtlingszahlen
enorm zugenommen: Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerk Unicef sind
derzeit schätzungsweise 900.000 Menschen aus ihren Dörfern geflohen.
"Rund 1,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren bräuchten sofortige Hilfe,
um den kommenden Winter zu überleben, mahnte der
Unicef-Sonderbeauftragte Nigel Fisher." "Etwa 7,5 Millionen Menschen
seien durch die anhaltende Dürre und den Bürgerkrieg gefährdet, warnte
das UN-Welternährungsprogramm (WFP) am Donnerstag."

Statt einer Bombardierung des armen Landes sind konkrete Hilfen für die
Flüchtlinge und die normale Bevölkerung notwendig.

Dominic Johnson kommentiert in der taz die in Aussicht gestellten
Hilfsgelder: "Peinlich dabei ist nur, dass die Geber vor dem 11.
September die Afghanistan-Appelle der Hilfsorganisationen genauso
ignorierten wie heute die aus Afrika. Zudem decken die neuen Gelder zum
Teil Folgekosten des drohenden Krieges - die UN hat kalkuliert, dass als

Ergebnis eines Militärschlages die Zahl der Notleidenden in Afghanistan
von 5,5 auf 7,5 Millionen Menschen steigen könnte." "Aber Soldaten und
Hilfspakete zu verschicken und eine innerafghanische Warlord-Fraktion
gegen die andere aufzurüsten ersetzt nicht die Notwendigkeit, jenseits
von Exilanten und Interessengruppen die afghanische Bevölkerung selbst
zur Zukunft ihres Landes anzuhören. In dieser Richtung kommt von der
globalen Anti-Terror-Koalition bisher wenig. Bei ihren Zielen kommen
Begriffe wie Demokratie nicht vor. Das wenigstens eint die Afghanen mit
den Bewohnern afrikanischer Kriegsgebiete, die viel von der auswärtigen
Mischung aus Aufdringlichkeit und Ignoranz bereits hinter sich haben,
die den Völkern Zentralasiens wohl noch bevorsteht."

Nicht "Brot und Bomben" sondern "Brot statt Bomben" sind notwendig!
Diese benannte "Mischung aus Aufdringlichkeit und Ignoranz" der
westlichen Politik gegenüber weniger reichen Regionen muß endlich in
Frage gestellt werden.

9. Jetzt gegen den Krieg aktiv werden

Die Kriegskoalition steht, weltweit und in Deutschland. Der "Krieg gegen

den Terror" wird skrupellos genutzt um so manche andere politische Frage

en passant mit zu verschärfen. Das innenpolitische Klima hat sich
spürbar verschärft, die Rasterfahndung z.B. an Universitäten ist hier
nur ein Beispiel.

Der Journalist René Heilig hat die geplanten Aktionen der Regierenden
gegen den Terrorismus sehr richtig mit "Anti-Terror läuft Amok"
beschrieben. Diesem Amoklauf gilt es nun auf allen politischen Ebenen
entgegenzutreten.

Jetzt gilt es besonnen auf die sich verschärfende innen - und
außenpolitische Situation zu reagieren und wo immer möglich gegen den
"ersten Krieg des 21. Jahrhundert" und seine innenpolitischen Folgen
mobil zu machen. Viele Menschen wollen keine Rache und keinen Krieg, sie

wollen Gerechtigkeit. Klare eindeutige Antikriegspositionen gegen
jegliche Militäraktionen sind gefordert.

Es wird verschärfte auch gegen Kriegsgegner/innen verletzende Debatten
über den Krieg und die politischen Folgen geben. Es werden
"Einfallstore" mit dem Ziel einer Verstummung des Antikriegsprotestes
aufgemacht werden.

Trotzdem und gerade deshalb ist es notwendig die gesamte Klaviatur
politischer Möglichkeiten gegen den laufenden Krieg zu spielen:
Antikriegsaktionen wie Mahnwachen, Demonstrationen, Kundgebungen,
Blockaden von Militärstützpunkten, Informationsarbeit, Aufklärung,
Aufrufe zur Kriegsdienstverweigerung und Desertion sind notwendig.

Heute ist der Tag X: In vielen Städten gibt es Demonstrationen und
Kundgebungen gegen den Krieg um 17.00 oder 18.00 Uhr

Ganz wichtig ist es, daß die bundesweiten Großdemonstrationen am 13.
Oktober in Berlin und Stuttgart ein deutliches Zeichen gegen den Krieg
werden. (Nähere Informationen u.a. unter  http://www.imi-online.de)

gez. Tobias Pflüger (mit Ideen von weiteren IMI-Vertreter/innen)

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09.10.2001
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