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Berlin: Bericht vom 27.09.2001

RZ-Verfahren vor dem Aus?
Beweismaterial konnte bisher nicht gesichtet werden

Zu der vorgesehenen Vernehmung der Zeugin Janet O. kam es am heutigen
Verhandlungstag nicht. Auch kam die Vorsitzende Richterin nicht dazu, den offenbar
bereits gefassten Beschluss zu verlesen, den die Verteidigung bereits vor 14 Tagen
gestellt hatte und der die Aussetzung der Verhandlung forderte. Die Anträge auf die
Aufhebung der Haftbefehle der Angeklagten dagegen wurden bereits am 25.
September abschlägig von ihr beschieden und der Verteidigung per Fax zugesandt.

Vielmehr ergänzten die Rechtsanwältinnen Studzinsky und Würdinger ihren Antrag
mit einer umfangreichen und schlüssigen Erklärung um weitere Anträge. Zum einen
müsste allen VerteidigerInnen eine ausreichende Anzahl von Kopien der 955
Kassetten umfassenden Telefonüberwachung (TÜ) zur Verfügung stehen, zum
anderen aber auch deren Übereinstimmung mit den Originalen überprüft werden.
Weiterhin verlangten sie die Fertigung von Wortprotokollen der überwachten
Gespräche und die Ergänzung des Materials um die offensichtlich fehlenden
Tondokumente. Das Gericht hatte in der letzten Woche bereits eingeräumt, dass eine
Fortführung der Vernehmung des Kronzeugen vor Sichtung dieser Beweismittel nicht
sachdienlich ist und wollte zwischenzeitlich den Prozess mit der Ladung von Zeugen
und Sachverständigen zum Komplex Hollenberg füllen.

Erweiterter Antrag der Verteidigung

Die Verteidigerinnen führten dagegen aus, dass in diesem ganzen Verfahren der
Kronzeuge das einzige Beweismittel ist, dessen weitere Befragung also von zentraler
Bedeutung sei. Bereits das Abhören eines Teils der Bänder der ersten Lieferung
(allein hier 825 Kassetten) und die Prüfung von 23 Aktenordnern mit Wortprotokollen
hätten bereits Widersprüche zwischen den Angaben Tarek Mouslis vor Gericht und
seinen Aussagen in den abgehörten Telefongespräche ergeben. Vorhalte dieser
Widersprüche im größeren Umfang seien also gegenüber Zeugen und
Sachverständigen zu erwarten, was allerdings erst nach gründlicher Auswertung der
Kassetten und der 23 mitgelieferten Ordner des BKA möglich sei.
Weiterhin trugen die Rechtsanwältinnen vor, schon das teilweise Abhören der bereits
vorliegenden TÜ-Bänder hätte große Lücken offenbart, von einer Vollständigkeit
könne keine Rede sein. Als Nachweis verlasen sie Zitate aus aufgezeichneten
Telefonaten zwischen dem Bundesanwalt Monka bzw. einem Beamten des
Bundeskriminalamtes (BKA) namens "Thorsten" einerseits und der geladenen, aber
heute nicht gehörten Zeugin und damaligen Lebensgefährtin Mouslis, Janet O.,
andererseits.
Zum einen ging es in diesen Telefonaten um ihre Bitte nach einer
Dauerbesuchsgenehmigung in der Justizvollzugsanstalt Köln für den Kronzeugen,
zum anderen um den Auftrag an Janet O., gegenüber dem damaligen Verteidiger
von Mousli "jetzt nicht länger zu lügen".

Arbeitsaufwand von mehreren hundert Stunden

Die Beweisrelevanz dieser bisher zurückgehaltenen Unterlagen für diesen Prozess,
die von der Staatsanwaltschaft wiederholt bestritten wurde, wäre damit ausreichend
dokumentiert. Einer weiteren wörtlichen Wiedergabe eines Telefongespräches
zwischen dem Kronzeugen und einer "Agentur" könne zudem entnommen werden,
so die Anwältinnen weiter, dass ein dabei verabredetes und unmittelbar auch
folgendes Telefonat mit dieser Agentur in der TÜ vollständig fehlt. Dies mache die
erneut deutlich, dass die lückenlose Überprüfung des Beweismaterials unerlässlich
sei.

Letztlich wiesen sie erneut auf den erheblichen Arbeitsumfang allein für die
Erarbeitung der Beweismittel hin. Zudem erinnerten sie daran, dass sich erst dann
die Möglichkeit ergibt, das Beweismaterial auch entsprechend zu würdigen. Auch
dem Strafsenat und der Bundesanwaltschaft würde schließlich der gleiche Aufwand
bevorstehen, denn offenbar seien auch ihnen die Inhalte der Kassetten und Akten
weitgehend unbekannt. Eine Bearbeitung dieser Beweise - allein das Abhören der
Tonbänder wird von ihnen auf über 700 Arbeitsstunden geschätzt - und eine parallele
Weiterführung der Verhandlung sei also von keinem der Prozessbeteiligten zu
leisten.
In der folgenden Erörterung schlossen sich die VerteidigerInnen Lunnebach, Dr.
König und Kaleck diesen Ergänzungsanträgen an. Sie alle wiesen darauf hin, dass
die Einschätzung der Bundesanwaltschaft, diese Unterlagen wären für den Prozess
nicht relevant, spätestens durch die ausführliche Antragsbegründung und die
Prüfung der Kassetten in Stichproben widerlegt sei.

Entscheidung erst in der nächsten Woche

Bundesanwalt Homann räumte bei seiner Entgegnung zumindest ein, dass es wohl
unumgänglich sei, der Verteidigung eine ausreichende Anzahl von Kopien der
Kassetten und BKA-Akten zur Verfügung zu stellen; eine vollständige Protokollierung
der Kassetten schloss er jedoch wegen zu geringer Kapazitäten der
Bundesanwaltschaft aus. Auch eine Aussetzung des Verfahrens wurde von ihm
weiterhin nicht für nötig erachtet. Dahingegen wollte er die Wahrung des
Persönlichkeitsschutzes, die er durch das Verlesen von wörtlichen Zitaten aus der
TÜ verletzt sah, garantiert wissen.
Auch heute konnte sich das Gericht, trotz zweimaliger Verhandlungsunterbrechung
und wiederholter Aufforderungen durch die Verteidigung, nicht zu einem Beschluss
durchringen. Nicht nur die Geduld der diesmal rund ein Dutzend ZuhörerInnen wird
weiterhin stark strapaziert, mehr noch sind für die Inhaftierten fortwährende
Prozessverzögerungen und Verfahrensfehler kaum erträglich.

Abschließend setzte sich das Gericht auf Bitten von Rechtsanwalt Nicolas Becker mit
der Frage auseinander, ob Rechtsanwalt Birkhoff, der bereits der Rechtsbeistand des
Kronzeugen Mousli ist, auch der Rechtsbeistand für die noch zu hörende Zeugin
Janet O. sein solle. Das nämlich hatte die Vorsitzende Richterin auf Antrag von O.
entschieden. Die Rechtsanwälte Becker, Johannes "Jonny" Eisenberg und Dr. Stefan
König gaben aber zu bedenken, dass Birkhoff damit in eine schwierige Lage geraten
könne, denn es handele sich gegebenenfalls um widerstreitende Interessen, denen
er als Rechtsbeistand gerecht werden müsse. Würden sich etwa beide ZeugInnen
gegenseitig belasten, so könne das durchaus dazu führen, dass diese Form der
Mehrfachverteidigung Birkhoff in große Schwierigkeiten bringen könne.

Die Vorsitzende Richterin Hennig beschloss, das Verfahren bis zum 4. Oktober zu
unterbrechen und will erst dann eine Entscheidung über den Antrag der Verteidigung
treffen.


 

29.09.2001
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