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Türkei: Ich hoffe du wirst mich verstehen........

Sinan, mein lieber Sohn, ich liebe dich sehr.

So wie ich alle Menschen auf dieser Welt liebe. Aber Sinans Liebe bedeutet etwas anderes für mich. Denn die Liebe deines Kindes ist etwas anderes, mein Sohn. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Und darum bin ich doch im Todesfasten! Weil ich dich so sehr liebe, möchte ich, dass du lernst. Zur Schule gehen fällt dir jetzt sehr schwer. Weil du noch sehr jung bist, kannst du es nicht verstehen. Du fragst: "Warum will meine Mutter, dass ich zur Schule gehe?" Du möchtest mich bei dir haben, liebster Sohn. Und will ich nicht das gleiche? Muttersein bedeutet nicht nur, für dich zu sorgen und bei dir zu sein. Du ärgerst dich jetzt über mich, mein Kleiner, fragst dich, warum ich nicht bei dir bin, und sagst dir, es ist wegen dem Todesfasten. Wir waren immer mit den revolutionären Brüdern und Schwestern verbunden. Denk an deinen Onkel Fikret, wie du mit ihm gespielt hast, wie sehr du ihn geliebt hast. Du hast gesagt: "Wenn ich gross bin, werde ich wie du." Er ist jetzt gefallen. Obwohl du sehr klein warst, als du ihn kanntest, hast du ihn nicht vergessen. So wie du liebe ich auch ich alle unsere Gefallenen. Aber bei denen, die wir kannten, ist es noch ein bisschen anders. Soviele unserer Liebsten sind gefallen und in Gefangenschaft geraten. Deinen Onkel Latif, deine grossen Brüder Eyüp und Yücel hast du sehr geliebt. Sie sind jetzt gefangen, und die Menschen, die sie lieben, sollen in Zellen geworfen werden. Mein lieber Sohn, damit sie nicht in die Zellen kommen, haben wir drinnen und draussen das Todesfasten begonnen. Du bist jetzt weit entfernt von mir, aber du bist nicht allein... Deine geliebten Brüder und Schwestern kämpfen für dich. Ich vertraue dich meinen Genossen und Genossinnen an...
Deine Mutter ist eine starke Mutter. Ich habe versucht, dir alles zu geben, was du wolltest. Ich kann dir nicht sagen, werde ein Revolutionär. Aber mein Herz wünscht sich, dass du ein Revolutionär wie all unsere Gefallenen wirst. Und wenn kein Revolutionär, dann ein guter Mensch...

Ich habe mich aus eigenem Willen an dieser Aktion beteiligt. Ich weiss nicht, wie ich dir meine Freude beschreiben soll. Dieses Gefühl kennen nur diejenigen, die selbst im Todesfasten sind. Ich gehe lachend dem Tod entgehen, mein Sohn. Der Tod findet sowieso eines Tages statt. Dann wärst du mutterlos. Aber es gibt eine Würde im Leben. Auch im Sterben muss diese Würde bewahrt bleiben. Erinnerst du dich noch an das Jahr '96, mein Sohn? An deine Brüder Ilginc, Berdan, Yemo? Auch sie sind für dich gefallen, damit tausende von Kindern wie du ein besseres Leben haben. Damals warst du sieben Jahre alt. Weil du sie so sehr geliebt hast, hast du 15 Tage lang nichts gegessen. Du hast die Liebe der Revolutionäre seit langem im Herzen. So wie du mir geschrieben hast: "Mama, ich weiss nicht, warum du dort bist, aber ich bin stolz auf dich." Wenn ich falle, wirst und sollst du wieder Stolz empfinden. Die eigentliche Aufgabe einer Mutter werde ich damit erfüllen.

Ich liebe dich sehr und küsse dich voller Sehnsucht, mein liebster Sohn. Ich hoffe, dass du mich verstehen wirst.


Leb wohl,
deine Mutter Gülsüman Dönmez

Nachtrag------------------------------------

Gülsüman Dönmez ist am 147. Tag ihres Hungerstreiks gestorben.

redaktion 1
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24.08.2001
Gülsüman Dönmez   [Aktuelles zum Thema: Int. Solidarität]  [Schwerpunkt: Kampf gegen die F-Typ Gefängnisse in der Türkei]  Zurück zur Übersicht

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