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Berlin/ Genua: Die große wahre Geschichte von Genua und dem "Black Block"

Berlin, Anfang August 2001

Die große wahre Geschichte von Genua und dem "Black Block"

1.Teil

Kurze Vorbemerkung: Ich halte nichts von dem Begriff
"Globalisierungsgegner". Er wird unserem Anliegen nicht gerecht. Ich spreche
im folgenden von der Globalen Außerparlamentarischen Opposition (GAPO).

Schreiben wir die Geschichte vom Gipfel in Genua. Wie wird sie aussehen?
Etwa so?
200.000 Menschen versammelten sich, um friedlich zu demonstrieren.
Gleichzeitig tauchten ca.400 Vermummte auf, ein organisierter "Black Block".
Dieser Block bestand aus Zivilpolizisten, aus Faschisten, und zu einem
kleinen Teil auch aus verwirrten vornehmlich deutschen Krawallmachern. Der
Block zog zwei Tage lang unbehelligt marodierend durch Genua, griff
friedliche DemonstrantInnen an, richtete einen Sachschaden von fünfzig
Millionen Euro an, indem er systematisch kleine Läden und Privatwagen
zerstörte. Wo er auftauchte, wich die Polizei zurück und griff stattdessen
friedliche DemonstrantInnen brutal an. Nach getaner Arbeit zog der "Black
Block" sich in eine Carabinieri-Kaserne zurück oder verwüstete sozusagen zum
Abwärmen noch ein Gebäude, das die Stadt Genua für Übernachtungen zur
Verfügung gestellt hatte. Zuletzt war das geheime strategische Ziel dieser
Aktion erreicht: Niemand sprach mehr in der Öffentlichkeit von den
politischen Zielen der DemonstrantInnen oder von der GAPO, alle empörten
sich nur noch über die Gewaltexzesse militanter Linker.

An diesem Bild wurde in den Tagen seit Genua von vielen eifrig gestrickt.
Von AugenzeugInnen und Betroffenen ebenso wie von politischen
RepräsentantInnen der "gemäßigten" Linken oder von liberalen Medien.

Hier wächst zusammen, was nicht zusammengehört: Einzelfälle, Wünsche oder
Befürchtungen, politische Grundüberzeugungen und Einschätzungen,
Verschwörungstheorien und Gerüchte, alles vereint von dem einen Bedürfnis:
eine kurze, einfache Erklärung zu finden für die komplizierte,
widersprüchliche Wirklichkeit.

Meine Geschichte von Genua sieht anders aus. In dieser Geschichte gibt es
jedes der Einzelerlebnisse, die erzählt werden, doch das Mosaik, das daraus
zuletzt entsteht, ist nicht das Bild von Strategien und Verschwörungen.

Dreh- und Angelpunkt ist die Frage, wer die Militanten waren, was sie taten,
und wie sich die Polizei dazu verhielt.

Das Vorfeld des Gipfels: Es war seit langem klar, daß Genua der bisherige
Höhepunkt der GAPO-Mobilisierung werden würde. Die Bewegung ist seit Seattle
sprunghaft angewachsen. Sie ist besonders in Italien stark. Die gesamte
italienische außerparlamentarische Linke ist in den letzten Jahren stärker
und mobilisierungsfähiger geworden. Das italienische Demonstrationsrecht ist
vergleichsweise liberal, die Gesellschaft ist offen für Strassenproteste.
Norditalien ist für fast alle Menschen aus dem EU-Raum leicht erreichbar. Es
ist Sommer und Urlaubszeit.
Es war also schon lange klar, daß sehr viele Menschen nach Genua kommen
würden.
Die Mobilisierung wurde verstärkt durch die Medien, die auf das Spektakel
gieren und seit Seattle 1999 jeden Gipfel entsprechend vorbereiten. Die
Ereignisse in Göteborg haben der Mobilisierung zuletzt noch einmal einen
starken Schub gegeben. In gewisser, vermutlich nicht so beabsichtigter Weise
war Göteborg sogar eine Generalprobe für Genua. Sie zeigte unter anderem,
daß die Massenmedien gerne bereit sind, selbst Schüsse auf DemonstrantInnen
(nun ja, immerhin: militante DemonstrantInnen) unter ferner liefen
abzubuchen und den selbsternannten Hütern von Sitte und Anstand, Recht und
Ordnung willig in den Arsch zu kriechen, wenn sie zur Hatz blasen.

Der Charakter der "Entscheidungsschlacht" wurde Genua schon im voraus
angeheftet, worunter sich aber durchaus verschiedenes vorgestellt wurde. Es
konnte bedeuten, daß durch den politischen Druck der GAPO die G8-Gipfel an
sich unmöglich gemacht würden. Oder daß die Struktur der Gipfel sich ändern
müßte. Oder daß der GAPO-Bewegung ein entscheidender Nackenschlag versetzt
würde. Oder daß die Eskalation unkontrollierbar werden würde. Mir schien das
letztere schon im Vorfeld wahrscheinlich, und ich war nicht der Einzige, der
mit einer Zuspitzung bis hin zu Toten rechnete. Dieses Risiko war ich
bereit, auch selbst einzugehen.

In den Tagen vor dem Gipfel wurde der politische Druck auf die GAPO
verstärkt. Es wurden die altbekannten Horror-Szenarios ausgepackt, die sich
gegenseitig aufschaukelten. Wir in Berlin kennen das vom IWF-Kongreß 1988,
als die Sicherheitsbehörden schon Monate vorher ankündigten, "mit der
autonomen Szene aufzuräumen", was viele AktivistInnen so einschüchterte, daß
sie während der Gipfel-Tage verkleidet in Hotels untertauchten. Oder: Im
Jahr 2000 verkündete der Berliner Innensenator kurz vor dem 1.Mai voller
Sorge, es sei bei der Mai-Demonstration mit Toten zu rechnen.
Die bekanntermaßen gedächtnislosen Massenmedien lieben solche Hetze und
verbreiten sie gerne. Das Ziel ist klar: Menschen sollen von der Teilnahme
abgeschreckt werden, brutale Repression soll im voraus gerechtfertigt
werden. Wenn dann alles anders kommt als vorher behauptet, wird es als
Erfolg der Sicherheitsstrategie verbucht. Same procedure as every year...
Die verschärften Grenzkontrollen und Ausreiseverbote bestätigten
Befürchtungen gegenüber den EU-Sicherheitsstrategen. Genua selbst wurde in
den Tagen vor dem Gipfel in einen gefährlichen Ort verwandelt, es gab
Kontrollen und Festnahmen und bereits erste Fälle von Polizeigewalt mit
faschistoidem Hintergrund. Hinzu kamen einzelne Fälle von Terror, die
Erinnerungen an die italienische "Strategie der Spannung" der 70er Jahre
weckten, also an Anschläge faschistischer und/oder polizeilicher
Provokateure.
Die GAPO spielte das Spiel der Aufheizung teilweise mit. Die extreme
Polizei-Brutalität in Seattle und nun in Göteborg hatte ihren Teil dazu
beigetragen, Schlimmes zu erwarten. Im Spannungsfeld zwischen Göteborg und
Genua wurden "normale" Vorkehrungen für Großereignisse, wie etwa die
Bereitstellung von Leichensäcken, in der Linken zu Schreckensmeldungen
aufgeblasen. Zumindest in Deutschland wurde allgemein damit gerechnet, daß
hunderte oder gar tausende von Menschen an den Grenzen zurückgewiesen, in
Italien in Vorbeugehaft genommen oder sonstwie aufgehalten werden würden.

Wider Erwarten waren die Grenzen durchlässig, und die Reise nach Genua
dauerte zwar lange, aber es kamen die meisten an, konnten sich versorgen und
Übernachtungsplätze finden. Genua war im Ausnahme-, aber nicht im
Belagerungszustand. In den Tagen vor dem Wochenende waren die Angereisten
vielfach damit beschäftigt, sich zu sortieren; wer nicht an die großen
Organisationen angeschlossen war, versuchte, Übernachtung, Versorgung und
Ausrüstung zu organisieren und Bekannte bzw. politisch Gleichgesinnte zu
finden. Bereits in diesen Tagen wurde klar, daß die Dominanz des GSF und
seine eindeutige Position gegen Militanz und Militante zu Konflikten führen
würde. Es gab diverse Plena und Versammlungen kleinerer Gruppen und
Versuche, sich irgendwie außerhalb der dominanten Kräfte zu organisieren,
die aber nicht viel mehr als allgemeine Absprachen über Sammelorte brachten.
Der Donnerstag verlief so, wie es geplant war: unter anderem mit der
friedlichen Großdemonstration für und von MigrantInnen, mit Festen und viel
guter Stimmung. Es war auch für alle Militante klar, daß dieser Tag
friedlich verlaufen sollte. Keine polizeilichen oder faschistischen
Provokateure nutzten die hervorragende Gelegenheit: Dabei wäre mit Randale
schon am ersten Tag das Konzept der GAPO sofort gesprengt worden, die Lage
wäre verwirrt und zugespitzt gewesen, polizeiliches Eingreifen an den
Sammelplätzen, Angriffe auf die GAPO-AKtivistInnen, während sie noch
anreisten bzw. sich noch nicht in der Stadt formiert hatten, wären
legitimiert worden.

Am Freitag befanden sich viele hundert, vielleicht auch schon tausende
Militane in Genua. Sie kamen aus allen möglichen Ländern, vor allem
natürlich aus Italien, viele aber auch aus Deutschland, Großbritannien,
Frankreich, Spanien. Sie verfügten weder über eine organisierte Struktur
noch über ein gemeinsame Konzept. Hergeführt hatte sie allein das politische
Grundverständnis: der Gipfel muß angegriffen werden, und zwar nicht nur
verbal, sondern praktisch, indem die Rote Zone attackiert wird - und die
Polizei, da sie diese Zone verteidigt. Dabei war (fast) allen sicherlich
klar, daß es unmöglich sein würde, einem Bush, Berlusconi oder Schröder
nahezukommen. Selbstverständlich würde die Polizei scharf schießen, wenn
tatsächlich ein Durchbruch in die Rote Zone gelingen würde. Wer das,
spätestens nach Göteborg, nicht glaubte, war naiver als die Polizei erlaubt.
Auch der praktische, militante Angriff würde also ein symbolischer sein,
aber mit der klaren Aussage: wir begnügen uns nicht mit kritischer Rede und
dem Schwenken von Fahnen. Für uns Militante gibt es keine Brücke, über die
wir an den Katzentisch der Mächtigen gehen würden. Wir wollen nicht als NGO
anerkannt werden. Wir wollen keine Vorschläge zur Verbesserung der WTO oder
des IWF machen. Wir halten das gesamte Weltwirtschaftssystem für einen
Haufen Scheiße. Alternativen? Uns geht es wie allen: wir haben kein
funktionierendes Modell anzubieten. Uns kann niemand erzählen, daß ein
anderes Weltbank-Präsidium, eine internationale Kapitalbesteuerung, eine
rot-grüne "Entwicklungspolitik" oder ein noch etwas weitergehendes
Kyoto-Protokoll das Elend der Menschen beheben kann. Wir denken, daß etwas
neues praktisch erprobt werden muß, denn alle großen Pläne sind gescheitert.
Und die, die da hinter Zaun und Polizeikette friedlich an ihren
Konferenztischen sitzen, werden das mit aller Gewalt zu verhindern suchen.
Deshalb muß die Gewalt an diese Tische zurückgetragen werden.
Innerhalb der Militanten gibt es allerdings sehr unterschiedliche politische
Identitäten und Vorstellungen. Es gibt Menschen (wie z.B. mich), die es
richtig finden, daß Militanz als Verstärker für politische Themen in der
Öffentlichkeit wirkt, auch wenn sich als VertreterInnen dieser Themen
meistens gemäßigte Linke profilieren, denen ich ansonsten in vielem nicht
zustimmen kann. Anderen Militante ist das ganz egal, weil sie sich selbst
stark genug finden und all das reformistische Gerede für unwichtig halten,
oder sogar für schädlich und feindlich. Wieder andere machen sich darüber
gar keine Gedanken, weil es ihnen vor allem um ihre eigene Wut, ihren ganz
persönlichen Kampf gegen das HERRschende Gesellschaftssystem geht.
Schließlich tummeln sich am diffusen Rand dieser Szene auch einige, die
gegen "Politik" allgemein sind, ob rechts, links, staatlich,
oppositionell...

Wie gesagt: die Militanten hatten keine funktionierende Struktur, keinen
Plan, außer "Hin zur Roten Zone". Es gab einzelne Gruppen, die sich mit
anderen absprachen, eher spontan als von langer Hand vorbereitet, und es gab
viele gänzlich unorganisierte lose Grüppchen und Einzelpersonen. Es gab
wenig vorbereitete Ausrüstung und kaum Sammelpunkte. Gerade viele von weiter
weg Angereiste hatten anfangs weder Material dabei (weil sie nicht damit
gerechnet hatten, es bis Genua durchzubekommen) noch ein gemeinsames Camp
(weil sie mit Polizeiangriffen rechneten) und verbrachten die kurze
Vorbereitungszeit vor Ort vor allem damit, diesen Mangel zu beheben. Die
Versuche, in Absprache mit Organisationen zu einem der Sammelorte zu
mobilisieren, waren nicht sehr erfolgreich. Alle teils wohlgesonnenen, teils
diffamierenden Berichte über die großen Pläne und perfekten Strategien der
Militanten sind - leider - nicht wahr. Nicht einmal in der Frage, ob der
entscheidende Angriff auf die Rote Zone am Freitag oder am Samstag anstehen
würde, gab es Einigkeit.
Das zeigte sich am Freitag in aller Deutlichkeit. Eines der wenigen
übergeordneten klaren Konzepte der GAPO für den Freitag war der Beginn der
direkten Aktionen, nämlich 14 Uhr. Südöstlich der Roten Zone begannen aber
bereits um 13 Uhr die ersten Auseinandersetzungen, und nicht die Polizei hat
sie angefangen, sondern Militante, die eine Bank entglasten. Wie
unorganisiert und unvorbereitet die Militanten waren, zeigte sich auch
daran, daß in dieser Anfangsphase die Polizei sie rasch zurückschlug und
zersprengte. In der Folgezeit verteilten sich Militante chaotisch in Gruppen
nach Norden und Süden, während die Polizei relativ passiv blieb und vor
allem ihre "Vorwärtsverteidigung" der Roten Zone durchführte: durch massiven
Gas-Einsatz und einzelne Ausfälle hielt sie ihren Bereich, kontrollierte
aber kaum das Geschehen weiter außerhalb. Für viele Militante entschied sich
die Schlacht schon in dieser ersten Stunde. Die Kräfteverhältnisse waren so
ungleich, daß der "Sturm" auf die Rote Zone mehr dem Versuch ähnelte, durch
militantes Posaunen ringsherum die Mauern von Jericho zum Einsturz zu
bringen, sprich: durch einzelne Angriffe auf die Polizei und das Zerstören
von Banken u.ä. den Eindruck der "militanten Straßenkämpfe" politisch
wirksam werden zu lassen, aber keinen wirklichen militanten Angriff auf die
Rote Zone durchzuführen. Es gab keinen "Black Block", sondern ein wildes
Durcheinander verschiedenster Menschen, schwarz und bunt gekleidet, vermummt
oder unvermummt: überzeugte Militante; spontan vor Wut Explodierende;
Gewaltfreie in Notwehr; Stadtbewohner als Gelegenheitsautonome; betrunkene
Nihilisten... entsprechend zielgerichtet (oder auch nicht) waren die
Aktionen. Wer Steine aufgrund politischer Strategien wirft, wird
normalerweise genauer zielen als die, die aus momentaner Wut über
Polizeigewalt oder aus einem diffusen Gemisch von Spannung, Abenteuer und
Gelegenheit heraus gewalttätig werden. Steine werden allzu oft blindlings
geworfen, treffen andere DemonstrantInnen, Fensterscheiben, Autos. Es sollte
übrigens nicht vergessen werden, daß auch die Polizei eine Menge Schäden
anrichtet bei ihren Einsätzen! Doch auch Militante haben schon mal
danebengeworfen...

Diese Entwicklung und die damit einhergehende Ausbreitung der Randale auf
weitere Stadtteile war Ergebnis der praktischen Situation und kein
überlegtes Konzept! Aber damit wurden natürlich anderswo Menschen und
Konzepte in Mitleidenschaft gezogen. Es ist anzunehmen, daß die Demo der
Tute Bianche so oder so von der Polizei gewaltsam aufgehalten worden wäre,
aber dadurch, daß dieses Zusammentreffen in einer Gegend stattfand, in der
es vorher schon geknallt hatte und die dortigen Akteure mit den Tute Bianche
zusammentrafen und sich teils vermischten, wurde die Situation sehr viel
unübersichtlicher und unkontrollierbarer. Das galt genauso für die Polizei
(und ihre Führung), die oft planlos agierte, vorstieß, sich wieder
zurückzog; die Militanten verfolgte, aber dabei niederknüppelte, was gerade
im Weg stand, und sei es ein friedliches Straßenfest; die ihr Gas in solchen
Massen verschoß, daß die eingesetzten Polizisten selbst fast kotzten.
Vielleicht hatte die Polizei ihre eigenen Horrorgeschichten mehr geglaubt
als sonst jemand und sich mit ihrer anfangs defensiven Haltung auf ein
Ausmaß von Angriffen eingestellt, das so überhaupt nicht stattfand und nicht
stattfinden konnten, weil die Voraussetzung - ein entsprechend vorbereiteter
militärischer Gegner - fehlte. Das könnte helfen, zu erklären, warum die
Polizei widersprüchlich agierte, indem sie am einen Ort zurückwich oder gar
nicht erst anrückte, an anderen Stellen dafür schon an diesem Tag äußerst
brutal zuschlug. Nicht zu vergessen ist dabei auch, daß es verschiedene
Einheiten waren, deren Motivation, Ausbildungsstand und Führungsstruktur
oder auch die Durchseuchung mit Faschisten sich unterschied. Dazu kommt die
Schwierigkeit, ein Heer von solcher Größe sinnvoll zu manövrieren - ein
Problem, daß auch die Berliner Polizei trotz all ihrer Erfahrung nicht
meisterte am 1.Mai 2001, als sich tausende von Anti-Riot-Polizisten in
Kreuzberg gegenseitig blockierten.
Die Schüsse auf Carlo Giuliani waren der folgerichtige Höhepunkt dieser
chaotischen Eskalation und brachen ihr die Spitze, zumal die Tute Bianche in
dieser Situation sich für den Rückzug entschieden. Die Alternative wäre
gewesen, weitere Tote in Kauf zu nehmen, denn auf beiden Seiten war viel
Haß, Angst und Verwirrung vorhanden, und daraus werden schnell weitere
Eskalationen. Es gab Gerüchte über weitere Tote und schießende Polizei, und
es gab andererseits bereits gewaltsame Aktionen, die auch Militante in
keiner Weise rechtfertigen konnten.

In Genua waren vermutlich noch ein paar andere "Militante": etwa
Under-Cover-Agenten, wie es sie in jeder radikalen Bewegung gibt (auch bei
ganz gewaltfreien); Hooligans oder Faschisten, die die Aussicht auf Randale
im Schutz breiter Massen zum Abenteuer reizte; ideologische Provokateure,
die durch terroristische Aktionen die Militanten diskreditieren wollten;
aber wieviele waren es? und welchen Einfluß hatten sie auf den Verlauf der
folgenden Tage? Ich möchte vermuten, es waren nur sehr wenige, und sie
hatten nicht viel Einfluß. Die bisher veröffentlichten Fotos zeigen
gewöhnliche, nicht einmal besonders gut verkleidete Zivilpolizisten, wie sie
als Schlägertrupps leider nur zu üblich sind. Die kursierenden "Berichte"
über Zahl und Bedeutung der Provokateure sind, ich gehe jede Wette ein,
maßlos übertrieben und setzen sich zusammen aus Halbwissen, Gerüchten und
sehr subjektiven Interpretationen.

Die Verschwörungstheorie von den vermummten Provokateuren ist steinalt und
taucht in trauriger Regelmäßigkeit auf, wenn bei politischen Großereignissen
das ganze Spektrum der Linken aufeinandertrifft. Es gibt im wesentlichen
drei Gruppen der Linken, die diese Theorie vertreten: Ersten Kommunisten, in
deren Augen alles Provokation ist, was ihren Strategien nicht entspricht -
sie sind nicht gegen politische Gewalt an sich, sondern halten den Zeitpunkt
für verkehrt. Zweitens liberale Linke, vor allem RepräsentantInnen von
Organisationen und Bewegungen, die für sich noch Gestaltungsmöglichkeiten im
Rahmen des HERRschenden Systems sehen und oft auch persönliche Karrieren,
und die in ihrer Egozentrik glauben, politische Gewalt sei stets eine
gesteuerte Intrige gegen ihre Ambitionen. Drittens Gewaltfreie, die vom
hohen moralischen Roß der wahren Lehre herab meinen, behaupten zu dürfen,
linke Politik müsse stets gewaltfrei sei und deswegen könne logischerweise
niemand zur Linken gehören, der oder die anderes praktiziert. Ach übrigens:
schon Martin Luther, der große Reformist (Reformator), hetzte ca.1525 gegen
die "mordischen und raubischen Rotten der Bauern", nachdem ihm der Aufstand
ebendieser Bauern zu erheblichem politischen Einfluß mitverholfen hatte.
Zur Verschwörungstheorie gehört auch, die eigene Beobachtung oder Vermutung
für wichtiger zu halten als sie ist. Manche begegnen wirklich einem
vermummten Provokateur (sei es nun ein Polizist, der planvoll handelt, oder
ein betrunkener Punk, dem alles egal ist), können sich aber nicht damit
abfinden, eine kleine Einzelgeschichte erlebt zu haben, sondern basteln sich
daraus ein Szenario, wo Provokateure "führend", "inszenierend" etc. tätig
sind.

Zurück nach Genua. Die Nacht von Freitag auf Samstag war von Anspannung und
Erschöpfung geprägt. Viele waren schockiert und mitgenommen: von der
Brutalität der Polizei, von Ausmaß und Heftigkeit der Kämpfe, von den
massiven Gaseinsätzen, von Auseinandersetzungen mit Gewaltfreien (die auch
mal zuschlugen), von den Horrormeldungen über Tote und Verletzte. Dazu kam
die Ungewissheit über das Kommende: würde die Polizei die Camps angreifen,
würde die Demonstration am Samstag verboten werden, würden die Kämpfe noch
mehr eskalieren, würde es weitere Tote geben? Kaum jemand hatte noch Kraft
und Muße, eine Analyse des Tages vorzunehmen und für den Samstag zu planen,
schon gar nicht in Absprache mit anderen Gruppen.
Die Militanten wollten an der Großdemonstration teilnehmen, möglichst als
eigener Block, und sich nicht von liberalen Gruppen ausgrenzen lassen, aber
sie wollten auch am Samstag weiter die Rote Zone angreifen und die Polizei,
die sich am Freitag nicht gerade Freunde gemacht hatte. Es war klar, daß die
Gräben zwischen den Linken über das richtige Verhalten nach der Eskalation
vom Freitag breiter geworden waren: es gab weniger Unentschlossene, mehr
Militante und mehr Gewaltfreie. Es sei daran erinnert, daß 195.000
nicht-militante DemonstrantInnen nicht gleich 195.000 Gewaltfreie sind - es
sind viele dabei, die sich noch nicht entschieden haben oder Militanz gut
finden, aber persönlich nicht praktizieren, und viele halten sich für
friedlich, bis sie das erste Mal von der Polizei zusammengeschlagen
wurden... Am Samstag waren tausende voller Wut, vor allem wegen der Schüsse
auf Carlo Giuliani, aber auch wegen des allgemeinen Terrors vom Freitag.

Die Polizei hatte ihre Taktik gegenüber dem Freitag geändert. Es ist
anzunehmen, daß es politischen Druck gab. Die Berichte über ungestört sich
austobende Militante, über Plünderungen und Brandlegungen, waren zwar
insgesamt übertrieben, konnten aber die Polizeiführung nicht ruhig schlafen
lassen. Für die Polizei sah es so aus: am Freitag hatten ein paar tausend
Militante sich viel herausgenommen, und zehntausende DemonstrantInnen hatten
ihnen meistens Rückendeckung geboten. Die Polizei hatte schon von Anfang an
eine Art vorauseilenden Generalpardon von oben für jede Art von Terror
bekommen, nun machte sie Ernst damit, indem alle zum Feind erklärt wurden,
die auch nur im Umkreis von Auseinandersetzungen waren. Das darf aber nicht
darüber hinwegtäuschen, daß zehntausende (nämlich vor allem der Nordteil der
Demonstration) weitgehend verschont blieben und außer herübergewehten
Gasschwaden kaum etwas mit- oder abbekamen von den Auseinandersetzungen.
Der südliche Teil der Demo wurde dafür aufgemischt. Auch hier gilt, wie so
oft bei solchen Konflikten, daß die Frage "wer hat angefangen" hinterher
heftig diskutiert und nicht eindeutig entschieden wird, wobei die Antwort
vor allem für diejenigen von Bedeutung ist, die politische Gewalt nur als
unmittelbare Notwehr gegen Polizei-Angriffe verstehen und legitimieren
können. Tatsache ist aber, daß es in jedem Fall geknallt hätte. Ob nun ein
Stein oder eine Tränengasgranate zuerst flog, spielt keine Rolle. Die
Militanten hatten es nicht einmal geschafft, einen eigenen Block zu bilden,
sie schlidderten fast ansatzlos in die Fortsetzung der chaotischen Kämpfe
des Vortages hinein. Ein paar Gruppen griffen die Carabinieri an, andere
waren defensiv und bauten Barrikaden, und die Polizei holte nun zum großen
Gegenschlag aus: die Rache für den Freitag begann, und diese Rache hatten
nicht nur die Militanten zu erdulden, sondern auch viele, die keinen Anteil
an den Kämpfen des Freitags gehabt hatten. Auf der anderen Seite hatten die
Ordner und Funktionäre der gemäßigten Gruppen alle Mühe, ihre junge Basis
vom Steineschmeißen abzuhalten, und oft blieben sie dabei erfolglos.

Der Tag verlief ähnlich chaotisch wie der Freitag. Die Rote Zone war für die
Militanten noch unerreichbarer geworden als zuvor, was aber letztlich
unwichtig war: denn was hätte denn geschehen sollen, wenn tatsächlich ein
paar versprengte Häufchen dort durchgebrochen wären? Sie wären massakriert
worden. Das politische Ziel der Militanten war bereits mit dem Freitag
erreicht worden. Es war bewiesen worden, daß ein Gipfeltreffen der Mächtigen
nur militärisch durchgesetzt und geschützt werden konnte, daß die
GAPO-Bewegung eine starke militante Option hatte. Eine oppositionelle
Bewegung hat nur dann eine Chance, politisches Gewicht zu bekommen, wenn die
HERRschenden diese Option befürchten müssen. 500.000
FriedensdemonstrantInnen beeindrucken keinen Machtpolitiker oder
Großbankier, solange gewiß ist, daß sie friedlich bleiben werden. Erst die
Möglichkeit, daß sie sich ja auch radikalisieren könnten, macht die Bewegung
gefährlich und damit stark.

Der Preis dafür, und das zeigte sich schon im Vorfeld, besonders aber am
Samstag, ist die Spaltung innerhalb der Bewegung. Die gemäßigten Kräfte und
die radikalen liegen zu weit auseinander, um ihre jeweiligen Aktionsformen
einfach so nebeneinander auf der Straße durchführen zu können. Militante
sind naiv, wenn sie behaupten, es genüge ja, sich gegenseitig zu
akzeptieren. Unsere Militanz wirkt sich auf andere ganz konkret aus. Es
stimmt zwar, daß die Polizei auch ohne Straßenkämpfe zu Übergriffen neigt,
aber es stimmt auch, daß die Gewalt der Polizei - auch gegen Unbeteiligte -
im Zuge von Straßenkämpfen erheblich zunimmt, daß sie brutale Rache nimmt,
oft an Schaulustigen und Unerfahrenen (denn die Militanten wissen am besten,
wann es Zeit ist, sich zurückzuziehen).

Am Samstag Abend schien es, als ob ein politisches Unentschieden anstünde.
Die Militanz hatte der GAPO die Aufmerksamkeit verschafft, die sie brauchte.
Anstatt daß die ihre politischen Inhalte in der Öffentlichkeit von der
"Gewaltberichterstattung" überlagert worden wäre - wie die liberalen Linken
es stets behaupten - war das Gegenteil der Fall. Die Militanz hatte die
Berichterstattung über das Fest der HERRen der G8 verdrängt, und viele
Medien beeilten sich, die "eigentlichen" Anliegen der GAPO-Bewegung zu
erläutern, die von den "Gewalttätern" gerade diskreditiert würden.
Andererseits waren die Gräben innerhalb der GAPO, schon in Göteborg
deutlich, nun noch offener aufgebrochen, hatte es Schlägereien untereinander
gegeben, waren tausende verletzt und zerschunden und ein Mensch tot. Der
Preis für den augenblicklichen politischen Erfolg war hoch und würde erst in
der Zukunft erkennbar werden. Der politische Druck von oben und von den
Medien, der auf die gemäßigten Kräfte zum Zwecke der Spaltung ausgeübt wurde
und noch werden würde, war enorm. Und viele schienen nur zu gerne bereit,
ihm nachzugeben oder gar vorauseilend zu gehorchen.
Dann kam der nächtliche Überfall auf die Diaz-Schule und das Medienzentrum
IMC.

Die Situation in Genua schwankte Samstag Abend für viele zwischen "es ist
überstanden" und "was wohl jetzt noch nachkommt". Es war abzusehen, daß die
Polizei weitere Angriffe auf Camps und Unterkünfte starten würde. Viele
Militante wechselten das Quartier, aufgrund von Gerüchten über bevorstehende
Razzien oder einfach aus Unsicherheit; es mußte immerhin davon ausgegangen
werden, daß die Polizei im Laufe der Tage mitbekommen hatte, wo die
Militanten zu suchen waren, und es hatte ja auch schon entsprechende
Angriffe gegeben (etwa auf das Camp von griechischen Anarchisten, soweit ich
weiß).
Manche, die an Auseinandersetzungen beteiligt waren, suchten den Schutz von
Einrichtungen, die aufgrund ihrer Nähe etwa zum GSF als sicherer galten.
Dazu gehörten auch die Diaz-Schule und das IMC. Die Polizei ist nicht
allwissend, sie kriegt manches mit und manches nicht. Und sie hat ihre
eigenen Verschwörungstheorien und wittert gerne geheime Bündnisse zwischen
Militanten und Gemäßigten. Sie hatte sich bereits vor der nächtlichen
Attacke stark auf die Deutschen als angebliche Haupt-Randalierer
eingeschossen, und sie hat vermutlich mitbekommen, daß viele Deutsche in die
Diaz-Schule überwechselten oder bereits dort waren. Es scheint daher sehr
wohl möglich, daß sie anfangs wirklich der Meinung war, hier ein Zentrum der
Militanten ausgemacht zu haben. Die unglaubliche Brutalität des Angriffs ist
anders kaum zu erklären (schlugen sie den friedlichen Sack und meinten den
ausschlagenden Esel?). Es ist durchaus lebensnah (aber nicht so prickelnd
verschwörerisch), zu vermuten, daß die Sondereinheiten ganz konkret Rache
für die Vortage nehmen und die deutschen Militanten zusammenschlagen
wollten, daß sie in ihrem (faschistoiden?) Haß und der über die Tage
gewachsenen Anspannung unkontrollierbar wurden und die Deckung von oben
dabei hatten: keine Sorge, das bügeln wir schon aus, die Medien haben wir im
Griff, wer hört schon auf ein paar Schreihälse aus dem "Black Block"? Und
dann trafen sie (überwiegend?) die ganz "falschen"... Die Möglichkeit, daß
bewußt nicht auf die Militanten, sondern auf bekanntermaßen Friedfertige
losgedroschen wurde, besteht nichtsdestotrotz. Dahinter müßte dann eine
politische Strategie vermutet werden, die zum Ziel hat, die gemäßigte Linke
durch Terror einzuschüchtern und zur Isolation der Militanten zu zwingen,
nach dem Motto: trennt euch vom schwarzen Block, sonst schlagen wir euch
tot. Ich halte aber die erste, banalere Erklärung für die wahrscheinlichere.
Es sind meistens die banaleren Geschichten, die wahr sind.

2.Teil

Der Überfall auf die Schule und das IMC ging auch deswegen politisch nach
hinten los für die Täter, weil es einige "unpassende" ZeugInnen und
Betroffene gab. Geprügelte JournalistInnen lassen in fast allen Medien die
staatstreuen Zügel lockerer werden, eine Senatorin als Zeugin ist auch
ungünstig. Die Erschießung von Carlo Giuliani war noch mit einem
Schulterzucken durchgegangen, die Polizeigewalt vom Samstag auch noch, der
Überfall auf die Schule war dann der Tropfen zu viel, der etliche Medien
kippen ließ und das politische Patt vorerst zugunsten der GAPO drehte. Ich
schreibe "vorerst", weil ich mir durchaus nicht sicher bin, ob nicht
langfristig die einschüchternde Wirkung des Terrors stärker sein wird als
die mobilisierte Wut und Trotzreaktion. Werden nicht viele vor der nächsten
anstehenden Großaktion sich fragen, ob sie sich das nach Genua noch einmal
zumuten? Werden die gemäßigten Gruppen nicht letztlich wieder in ihre
vertraute Spaltungsposition zurückkehren und, ausgesprochen oder nicht, die
Militanten für den Terror der Polizei verantwortlich machen?

Die ersten Signale, etwa aus Richtung des GSF, klangen leider ganz danach.
In jüngster Zeit gab es aber auch ermutigende Zeichen, etwa aus Richtung von
ATTAC Deutschland. Eine Diskussion über die Möglichkeit gemeinsamer
Aktionsformen ist nötig, und eine Einigung ist nicht zu erwarten. Aber
vielleicht ist es wenigstens möglich, sich darüber zu verständigen, was in
Genua geschehen ist und was als Gerücht, Einbildung, Erfindung oder
Spekulation zurückgewiesen werden muß. Von einer solchen Basis aus kann dann
versucht werden, zu diskutieren, wie weitere Aktionen in Zukunft aussehen
könnten.

Ich möchte zusammenfassend mein Fazit aus den Tagen in Genua ziehen.
- Die Eskalation der Straßenkämpfe in Genua war spätestens nach Göteborg
absehbar.- Es hat keinen "Black Block" gegeben.
- Militante sollten den Begriff des "Black Block" nicht akzeptieren, denn er
kann - gerade in Italien - Assoziationen an unheimliche Gewalttäter und
(faschistischen) Terror hervorrufen.
- Die Militanten waren schlecht bis gar nicht organisiert.
- Die Straßenkämpfe wurden von Militanten begonnen und maßgeblich geführt,
nicht von Provokateuren.
- An den Straßenkämpfen beteiligten sich tausende, viele davon waren weder
schwarz gekleidet noch vermummt, waren weder Militante noch Provokateure.
- Die Polizei ging brutal gegen alle vor, ob militant oder friedlich.
- Die Polizei hatte am Freitag ein teils defensives Konzept, weshalb viele
militante Aktionen zeitweise unbehelligt blieben.
- Am Samstag schaltete die Polizei auf Offensive um und griff alle an, die
ihr vor die Knüppel kamen - wiederum Militante ebenso wie Friedliche.
- Es gab vermummte Zivilpolizisten, vor allem als Schläger- und Greiftrupps.
- Es beteiligten sich auch einige getarnte Polizisten und Faschisten an den
Krawallen; wenn sie dabei eine politische Strategie verfolgten, dann
höchstwahrscheinlich die, durch asozialen Terror die Militanten in Mißkredit
zu bringen.
- Es gab daneben aber auch Fehler von Militanten und unverantwortliche
Aktionen.
- Der Überfall auf die Diaz-Schule war von oben gedeckt, wenn auch nicht von
langer Hand geplant; er sollte vermutlich die deutschen Militanten treffen.
- die massive Brutalität der Polizei verfolgte das Ziel, die gemäßigten
Teile der Bewegung einzuschüchtern und von den radikaleren Teilen zu
spalten. Ob dieses Konzept erfolgreich war, wird sich erst in der Zukunft
erweisen.
- Genua war ein politischer Erfolg für die gesamte GAPO-Bewegung, der teuer
erkauft wurde und keine Gewißheit für den weiteren Verlauf bringt; ein
Rückschritt ist ebenso wahrscheinlich wie eine verstärkte Mobilisierung.
- Genua wird sich in dieser Form nicht so bald wiederholen. Das Jahr 2001
war möglicherweise das letzte Jahr, in dem die Weltstrategen Ort und Form
ihrer Gipfel kaum unter Rücksichtnahme auf mögliche Proteste planten.
Gipfeltreffen in den Rocky Mountains, in Saudi-Arabien oder auf
Flugzeugträgern werden anders verlaufen.

Zentral steht für mich eine Erkenntnis: Genua hat eine Grenze der
Mobilisierung und politischen Aktionsfähigkeit aufgezeigt. So viele
Menschen, aus so unterschiedlicher (politischer) Heimat, mit verschiedenstem
Organisierungsgrad und verschiedensten Aktionsformen, werden zu einem
unkontrollierbaren Pulverfaß. Alles, Gutes wie Schlechtes, wird immens
vestärkt und intensiver erlebt. Niemand kann mehr den gesamten Verlauf der
Ereignisse überblicken, geschweige denn kontrollieren: kein GSF-Funktionär,
kein Tute Bianche, kein Militanter, kein Provokateur, kein Polizeiführer.
Militante Straßenkämpfe einer wachsenden Bewegung sind schon früher - auch
in Italien - an eine Grenze gestoßen, die zu überschreiten den Weg in die
militärische Auseinandersetzung bedeutet. Die Folge ist, unter den heutigen
Bedingungen ebenso wie etwa 1977 in Italien (bewaffnete Demos der
Autonomia-Bewegung), daß die Eskalation zurückgenommen werden muß oder die
Bewegung zerschlagen wird. Denn die Machtfrage stellt und beantwortet
derzeit in Europa der Staatsapparat und nicht die revolutionäre Bewegung.
Die Eskalation von Seiten der Polizei, die bereits in Seattle begann,
verfolgt genau dieses Ziel: uns einen immer härteren Kampf aufzuzwingen, dem
wir auch strukturell nicht gewachsen sind. Denn, wie erwähnt, es gibt nicht
nur keinen organisierten "Black Block" (was sogar die italienische Justiz
inzwischen zuzugeben scheint), es gibt überhaupt keine Struktur der
Militanten, die einer ernsthaften staatlichen Repression auch nur
ansatzweise standhalten könnte.
Daher müsste für alle Militanten eine Einschätzung der Kräfteverhältnisse
stets am Anfang ihrer Aktionen stehen, und der mögliche Verzicht auf
Eskalation müsste bewußter Teil der Strategien sein. Das ist aber nur sehr
selten der Fall, denn - wie oben schon angedeutet - "die" Militanten sind
ein strategienloses Sammelsurium, in dem völlig unterschiedliche
Motivationen zusammenkommen. Wer jung und wütend ist, sich sehr stark und
wichtig fühlt, halb noch gegen die Eltern, halb schon gegen das
Gesellschaftssystem rebelliert, wird sich kaum mit strategischen
Überlegungen aufhalten. Das Ergebnis ist, bedauerlicherweise, daß nicht etwa
die militante Bewegung bewußt Strategie und Taktik entwickelt, sondern daß
zur militanten Bewegung immer genau die Menschen gehören, die die momentane
Praxis gut finden. Wer seine Meinung ändert, verläßt meist die Bewegung,
anstatt sie zu verändern.
Daher ist es fast unmöglich, mit anderen Kräften der GAPO-Bewegung
verbindliche Absprachen über ein zukünftiges Nebeneinander der Aktionsformen
zu treffen. Niemand kann den militanten Flügel wirklich repräsentieren.
Wir als Militante können nicht auf das Umfeld der vielen tausend verzichten,
die unsere Aktionsformen zumindest tolerieren; die GAPO-Bewegung allgemein
kann nicht auf ihre militante, umstürzlerische Option verzichten, will sie
nicht in der sozialdemokratischen Umarmung ersticken. Künftige
Mobilisierungen der GAPO kommen nicht darumherum, sich sowohl auf mögliche
(nicht: zwangsläufige!) militante Aktionen wie auch auf brutale Polizei
einzustellen.
Es ist klar, daß es unter diesen Voraussetzungen schwer ist, gemeinsame
Aktionen durchzuführen mit denen, die an Reformkonzepte noch glauben und auf
Einfluß, gar Beteiligung an der Regierung (oder gar der Macht?) hoffen. Für
sie sind wir eine zukünftige Bedrohung, und sie für uns. Dieses Mißtrauen
zieht sich mehr oder weniger unterschwellig stets durch die Gewalt-Debatte.
Welche Politik wird durch Gewalt diskreditiert? Wenn es die Politik ist, die
auf Teilhabe an der heutigen Macht zielt, ist sie in unseren Augen bereits
selbst diskreditiert. Diese Sichtweise führt viele Militante in die
Sackgasse, die gemäßigte Linke an sich für verloren an den Reformismus zu
halten, besonders die Organisationen. Sie verlieren den Respekt vor den
Beteiligten und sehen sie geringschätzig als die nützlichen Idioten der
Sozialdemokratie an, so wie andersherum manche uns als nützliche Idioten der
Polizei betrachten.
Die GAPO-Bewegung kann nur stärker werden (bzw. überleben), wenn sie dieses
Spannungsverhältnis aushält. Sonst wird sie sich zwangsläufig aufspalten in
einen radikalen Teil, der isoliert, unterdrückt, zerschlagen wird und einen
reformistischen Teil, der mit den üblichen Lippenbekenntnissen, Bestechungen
und Lügen abgespeist wird. Aushalten läßt sich das Spannungsverhältnis nur,
wenn es für alle Fraktionen die Möglichkeit gibt, ihre Aktionsformen
durchzuführen. Das bedeutet aber auch, daß es für Gewaltfreie möglich sein
muß, so zu demonstrieren, wie sie es wollen, ohne daß unsere Militanz und
der darauf folgende Polizeieinsatz sie daran hindert. Militante Aktionen,
soweit sie organisiert sind, müssen darauf achten, nicht andere Leute
schwerwiegend in Mitleidenschaft zu ziehen. Wenn die Polizei von sich aus
angreift, so soll sie das nicht uns in die Schuhe schieben können.
Andererseits sollten wir von den Gewaltfreien erwarten können, daß sie einen
differenzierten Blick entwickeln und nicht über jedes
Distanzierungsstöckchen springen, das ihnen hingehalten wird von Medien und
Staatspolitik. Wenn die Polizei sagt, sie müsse die DemonstrantInnen leider
verprügeln, weil sie sich nicht distanzieren von denen, die ganz woanders
Krawall machen, erwarte ich den von den Gewaltfreien den Mut, zu sagen:
Nein, warum soll ich mich distanzieren, ich habe das nicht zu verantworten!
Die Gewaltfrage innerhalb der GAPO-Bewegung ist nicht "lösbar". Um zu
überleben, muß sie Formen des akzeptierenden Nebeneinander entwickeln, die
sich gegenseitig nicht ausschließen.
Wir als Militante können dazu beitragen, indem wir für die anderen Gruppen
und Strömungen innerhalb der GAPO erkennbarer, ansprechbar und einschätzbar
werden; indem wir Absprachen eingehen und auf deren gegenseitige Einhaltung
achten; indem wir nicht jede Möglichkeit militanten Agierens nutzen, sondern
uns taktischer verhalten.

Tja, es gäbe noch viel zu schreiben... aber vorerst lass ich es mal bei
diesem Text.
Kurz zu mir: Seit zwanzig Jahren in der Berliner radikalen Linken aktiv,
sozialrevolutionär, autonom, subversive Kommunikations-Guerilla. Checkt
meine älteren Texte, z.B. in der "Interim".

Glückspilz, 13.08.01
e-mail:  glueckspilz@so36.net


 

24.08.2001
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