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Berlin: Gentechnik ist nicht sexy! [aktualisiert]

Gentechnik ist nicht sexy!

Am 12.09.01 findet mit der Eröffnung des "Wissenschaftssommers" als
Höhepunkt des "Jahres der Lebenswissenschaften" in Berlin eine Performance
der Technikpriester und BiotechnokratInnen statt - allen voran Kandisbunzler
Schröder.
In einem schlecht inszenierten Drama soll Akzeptanz für die Gentechnik und
die neuen Reproduktionstechnologien geschaffen werden. Gentechnik = Sexyness
lautet die vereinfachte Formel.
Doch in Berlin regt sich Widerstand. Ein Bündnis gentechnikkritischer
Gruppen ruft am 12. September um 19 Uhr zu einer Gegenkundgebung am
Daimler-Chrysler-Gebäude (Potsdamer Platz) auf.
Ab 20 Uhr soll dann in diesem Gebäude die Eröffnungsveranstaltung des
Wissenschaftssommers stattfinden. Lasst uns ein Risiko sein!

Kundgebung 12.09. 17 Uhr
Daimler-Chrysler-Gebäude
(Potsdamer Platz)

Vor zwei Jahren tönte die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG):
"Im kommenden Jahrhundert wird sich die Genomtechnologie als eine der
entscheidenden Schlüsseltechnologien etablieren. Die Dynamik dieser
Entwicklung, die in Wochen und Monaten gemessen werden muß, läßt keine Zeit
zu zögerlichem Handeln. Die Gefahr ist, daß große wirtschaftliche Potentiale
leichtsinnig verspielt werden."
Mit dem "Jahr der Lebenswissenschaften" will Bundesforschungsministerin
Edelgard Bulmahn nun persönlich die Ärmel hochkrempeln und dafür sorgen,
dass deutsche ForscherInnen der Weltspitze "nicht hinterherhinken".
Schliesslich ist der "Standort Deutschland" in Gefahr.

Der Berliner Gen-Guru Detlev Ganten (u.a. Aufsichtsratsvorsitzender des
Biomedizinischen Forschungscampus Berlin-Buch und Vorsitzender der
Hermann-von-Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren), der auf der
Auftaktveranstaltung zum "Jahr der Lebenswissenschaften" die Eröffnungsrede
hielt, bezeichnete nicht nur die Entscheidung des britischen Parlaments, das
Klonen menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken zu gestatten, als "mutig"
, sondern kritisierte die "Gutmenschen-Tendenz" der Deutschen wegen des
Nationalsozialismus, der angeblich ständig für Tabus und Grenzen sorge.
Das Problem, das Bulmahn, Ganten und wie sie alle heissen eint, sind die
Bedenken und auch Widerstände gegen Genforschung und deren Anwendung.
Verklärt zu "Technikfeindlichkeit" und "irrationalen Technikängsten", die es
zu minimieren gälte, geht die Scientific Community seit geraumer Zeit auf
die Strasse, um der Bevölkerung ihre Errungenschaften "auf gleicher
Augenhöhe" (Bulmahn) einzubleuen.

Seit Jahren schon ist die Gentechlobby händeringend dabei, Imagepflege in
der Öffentlichkeit zu betreiben: Projekte wie die Gen-Welten-Ausstellungen
1998, die EXPO 2000, das Gläserne Labor in Berlin-Buch und jetzt das "Jahr
der Lebenswissenschaften" stehen dafür stellvertretend.
Frau/Man erlebt gegenwärtig eine Art totaler Mobilmachung im öffentlichen
Raum. Auf Marktplätzen, in Hallen und Geschäftsarkaden, zwischen "Bahnsteig
und Fahrkartenschalter" (Bundesforschungsministerium) werden
Forschungsergebnisse präsentiert. Alles möglichst einfach und sinnlich
erfahrbar. Eine der Hauptzielgruppen sind Schulklassen.

Die Strategie, die seit einigen Jahren unter dem Label "Dialog mit der
Öffentlichkeit" gefahren wird, sieht vor, den "normalen" BürgerInnen die
Errungenschaften der modernen Biologie, Medizin und Genforschung nahe zu
bringen. "Scientainment" heisst das Zauberwort für die zahllosen Talkshows,
Kunstveranstaltungen, Kinospots, Schulwandertage, Wissenschaftsnächte
und -festivals.
Die Liste der Verheissungen ist lang: versprochen wird die Diagnose und
Therapie von Krankheiten, die Verlängerung des Lebens, die Lösung sozialer
und ökologischer Probleme und nicht zuletzt die Sicherstellung der Ernährung
für die Weltbevölkerung.

Stattfinden tut ein Monolog der Wissenschaft: die einen reden, schreiben,
zeigen; die anderen, das Publikum, sollen hören, staunen, sehen. Unter
Überschriften wie "Science Street" oder "Gen-Dschungel", "Rätsel des Lebens"
und "Kosmos Gehirn" wird eine Alphabetisierungskampagne in Sachen
Wissenschaft professionell organisiert. Eine Kreativagentur für Public
Relations, Iser & Putscher, hat vier Millionen Mark zur Organisation von
Großveranstaltungen erhalten, um diesen Monolog in Szene zu setzen.

Die Umstände der Forschung, mögliche Misserfolge oder negative
Begleiterscheinungen werden nicht thematisiert. Stattdessen werden permanent
Wünsche erzeugt. Die Neuauflage der Glücksversprechen der Moderne feiert
Hochkonjunktur: alle werden gesund und glücklich, keineR muss mehr hungern,
die Umwelt wird sauber und den Rest der Probleme kriegen die "Experten" auch
noch in den Griff.
Die Beziehung zwischen Technik, Arbeit, gesellschaftlichen Verhältnissen und
die damit einhergehenden Ausbeutungsstrukturen verschwinden so vollends.
Alle gesellschaftlichen Fragestellungen werden auf ihre technische
Lösbarkeit heruntergezogen. Nichts ist mehr ein sozialer Prozess. Technik
allein wird zum Konsumgut und zur Projektionsfläche gesellschaftlicher
Utopien und Bedürfnisse.

In einer komplizierten Welt versprechen GenforscherInnen einfache Lösungen:
"intaktes Gen einfügen - Problem gelöst". Der verengte Blick auf die Gene
versperrt die Sicht auf die vielen anderen Facetten des Phänomens Krankheit:
Psychosoziale Faktoren, krankmachende Konsum-, Arbeits- und Lebensumstände.
All diese Aspekte geraten im Zuge des molekularen Denkens zur Nebensache.
Der menschliche Körper wird neu entworfen - und zwar nach den Erfordernissen
der industriellen Massenproduktion. Kranke werden zum gestörten "molekularen
System", die Möglichkeiten der gentechnologischen Produktion solcher
"Systembestandteile" werden zum logischen Handlungsimperativ. Denn wer
unverstandene Krebsleiden, unklare Leberentzündungen, Herzinfarkte oder
Altersdemenz allein auf die Ebene der Zelle zwingt, der muß auch dort die
"Lösung" suchen.

Die Kehrseite einer Medizin, die den Menschen als molekulare Maschine
begreift, die beliebig zu steuern, zu reparieren und programmieren ist, ist
ein Gesellschaftsentwurf, der auf Vermeidung, Verhinderung und einem
Verlassen all jener basiert, die nicht der Utopie von Gesundheit und
Normalität entsprechen. Der gesamte biotechnologische Diskurs ist von einem
Subtext bestimmt, der das Kranke, das Schwache, das Mangelhafte ins Visier
nimmt und seinen utopischen Gehalt an der Beseitigung dieser
konstitutionellen Defizite des menschlichen Lebens orientiert.
Während sich Therapieversprechen zunehmend als uneinlösbar erweisen - etwa
bei der Somatischen Gentherapie, die schon mehrere Todesopfer forderte -,
werden andere Ziele der Gentechnik deutlicher: Es geht um Einsparungen im
Gesundheitswesen durch kostengünstige Selektion per Testdiagnostik, um
lukrative Verfügbarkeit von Organen, Geweben, Zellen, Genen, Daten - um die
Ausbeutbarkeit und Inbesitznahme der letzten Ressourcen: der Materialien
Pflanze, Tier und Mensch.

Ein neuer, bio-reproduktioneller Sektor hat sich formiert; das 21.
Jahrhundert macht aus den eugenischen Träumen des 19. und 20. Jahrhunderts
eine Realität. Die "Verbesserung" des Volksganzen, des
"Gesellschaftskörpers", wird ins Werk gesetzt. Die biowissenschaftlichen
"Segnungen" liegen insgesamt in dem Versprechen, Ordnung im Chaos der
Fortpflanzung herzustellen. Es handelt sich hier um eine neuartige Ebene des
Ansetzens von Politik im Dienste der Lebensherstellung.
"Das Leben" wird in ein Substrat der Vermachtung umgewandelt: eine
Wissenschaft verfügt nun tendenziell über die Macht, neue Formen der
pflanzlichen, tierischen und nicht zuletzt menschlichen Existenz zu
schaffen. Nunmehr definieren die Biowissenschaften die Kriterien für die
Daseinsberechtigung, welche sich nach Kosten-Nutzen-Erwägungen und nach
genetischen Normen von Gesundheit und Krankheit auszurichten hat.

Die grossangelegte Umarbeitung des Sozialkörpers und die Verlagerung des
gesellschaftlichen Lebens in die Domäne der Biologie ist auch eine Offensive
der Naturwissenschaften, die die Kultur- und Sozialwissenschaften beiseite
drängt. Leben, Ernährung, Gesundheit, Krankheit - alles wird unter der
Biologie subsumiert. So wird neben der Intelligenz die kritische
Wissenschaft gleich mit verabschiedet.

 http://www.dosto.de/gengruppe  http://www.wissenschaftssommer2001.de


 

22.08.2001
anonym zugesandt   [Aktuelles zum Thema: Kritik d. Gentechnik]  Zurück zur Übersicht

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