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Leipzig: Smash it up! §129-Verfahren in Leipzig!

Smash it up! §129-Verfahren in Leipzig!

Bereits seit einiger Zeit kursieren in der Stadt Gerüchte und Mutmaßungen, nach denen ein Ermittlungsverfahren gemäß §129 Strafgesetzbuch (StGB) wegen der "Bildung krimineller Vereinigungen" gegen die Leipziger linksradikale Szene anhängig sei. Diese Gerüchte können hiermit bestätigt werden.
Auf eine kleine Anfrage der PDS im sächsischen Landtag war von Seiten des Staatsministeriums der Justiz Sachsen zu vernehmen, daß am 2. April 2000 ein Verfahren nach §129 eingeleitet wurde, das schließlich ein Jahr später am 9. Mai 2001 "mangels hinreichenden Tatverdachts" zu einer Einstellung führte. Dieser Text will die Bedeutung und die Dimension des besagten Paragrafen veranschaulichen und seine Anwendung in Leipzig analysieren.

Kriminelle Vereinigung - Ein Exkurs

Der §129 StGB stellt die Bildung oder Mitgliedschaft in einer "kriminellen Vereinigung", bzw. das Werben für eine solche unter Sanktionen, die zwischen einer Geldstrafe und einem Knastaufenthalt von bis zu fünf Jahren variieren. Welche Anforderungen eine Vereinigung allerdings erfüllen muß, um auch das Prädikat "kriminell" verliehen zu bekommen, ist weitgehend strittig. Einig ist sich die Justiz insoweit, dass erst ein auf längere Zeit angelegter Zusammenschluß von mindestens drei Menschen, mit dem Zweck der Begehung von Straftaten die Einschlägigkeit des §129 begründet. In der konkreten Ausgestaltung der einzelnen Tatbestandsmerkmale glänzen juristische Literatur und Rechtsprechung indes mit einer Fülle von Meinungsstreiten. Während die einen alle Straftaten, also auch Plakatierungen und Sprayereien, genügen lassen wollen, legen die anderen an die vorgeworfenen Delikte den Maßstab der "Erheblichkeit". Dass dieser nicht weniger schwammig ist, läßt sich unschwer vermuten. Probleme bereitet zudem die "Kontinuität", der die Vereinigung unterworfen sein soll. So geht ein Teil der Literatur davon aus, dass erst mehrere, voneinander unabhängige Straftaten einer Vereinigung den Charakter des "kriminellen" aufsetzen. Demgegenüber zielt eine andere Ansicht auf ein Grunddelikt ab, das schon dann zur Strafbarkeit nach §129 führen soll, wenn auf diesem basierend die Begehung weiterer Delikte zu erwarten ist. Argumentiert wird vornehmlich mit dem Beispiel von Hausbesetzungen. Menschen, die sich ihr Eigenheim nehmen und sich damit wegen eines Hausfriedensbruchs (§123 StGB) strafbar machen, sollen also schon mit der Besetzung eine "kriminelle" Vereinigung darstellen, wenn sie sich darauf vorbereiten, ihr neues zu Hause gegen Bullen-Angriffe zu verteidigen. So reicht bereits die Begehung von einer Straftat aus, um das Erfordernis der Kontinuität und schließlich eine Anwendbarkeit des §129 zu ermöglichen. Die wenigen hier aufgeführten Beispiele sollen jedoch zu keinem argumentatorischen Abgleiten in die Niederungen juristischer S
ein solches implizit die Anerkennung der herrschenden Rechtsordnung nach sich ziehen würde. Die Darstellung der juristischen Kontroverse um den besagten Paragrafen, diente lediglich der Verdeutlichung seiner unscharfen Substanz, die sich als äußerst dehnbar erweist - eine Wirkung, die den Herrschenden letztlich erwünscht ist; wird es durch sie doch möglich, den §129 als frei transformierbare Wunderwaffe gegen jede Ausformung linksradikalen Widerstands repressiv anzuwenden!

Kollektiv- und TäterInnenstrafrecht

Ob der §129 bzw. seine historischen Äquivalente nun dem "Untergrundverein", "der staatsfeindlichen, staatshemmenden Verbindung" oder der "kriminellen Vereinigung" nachgejagt sind, gemein ist ihnen zumindest der Gedanke des Kollektivstrafrechts. Danach interessiert es nicht, ob den angeklagten Menschen ein konkreter Bezug zu den ihnen vorgeworfenen Taten nachgewiesen werden kann. Solange die verfolgten Delikte der Vereinigung zuzurechnen sind, der der/die Beschuldigte angehört haben soll, ist eine Strafbarkeit hinreichend fundiert. Dadurch wird der im deutschen Recht verankerte Gedanke des Individualstrafrechts galant ausgehebelt.
Von einer anderen Seite betrachtet erweist sich ein Verfahren nach §129 als direkter Übergang vom Tatstrafrecht zum TäterInnenstrafrecht. Die üblicherweise geltende Devise, dass lediglich eine tatsächliche Verletzung "konkreter Rechtsgüter" Voraussetzung der Strafbarkeit sein soll, wird dahingehend verschoben, dass bei Verfahren nach §129 bereits der Wille bzw. die Bereitschaft zum Verüben von Straftaten, die sich in der Zugehörigkeit zu einer "kriminellen" Vereinigung niederschlägt, für eine Verurteilung genügen soll. Nachzuweisen ist demnach keine begangene Tat, sondern lediglich das Motiv, sowie die Ansicht der TäterInnen.

Ermitteln um jeden Preis

Das tragende Element des §129 ist also weniger sein materiell-strafrechtlicher Gehalt, sondern mehr das ausufernde Paket an Eingriffsbefugnissen, das den Behörden bei einem "begründeten Anfangsverdacht" nach §129 feierlich überreicht wird. Diese Befugnisse umfassen die Überwachung der Telekommunikation (Telefon, Post, e-mail, Fax, usw.), langfristige Observationen (nach §§100c und 163 f. StPO), den systematischen Einsatz von V-Leuten und die Einschleusung von verdeckten ErmittlerInnen mit falscher Identität, Tarnnamen und Tarnpapieren (nach §110a,c StPO), die Erstellung von Bewegungsprofilen und das Verwanzen von Wohnungen, Zentren, Cafés. Hinzu kommt die Einschränkung der prozessualen Rechte der Beschuldigten, die von der Verhängung von Untersuchungshaft auch ohne sonstigen Grund, verschärften Haftbedingungen bis hin zum Zwang mehrere AnwältInnen für eineN AngeklagteN zu verpflichten, reichen. Wenngleich es in Leipzig gar nicht erst zu einem Prozeß kam, sind doch zumindest die ausladenden Ermittlungsbefugnisse definitiv zum Einsatz gekommen. Obwohl uns bis dato noch keine weiteren Informationen über deren Umfang bekannt sind, ist davon auszugehen, daß innerhalb des letzten Jahres die linke und subkulturelle Szene Leipzig massiv ausspioniert wurde.
Welches Ausmaß diese Sonderbefugnisse in der Strafverfolgungspraxis annehmen, verdeutlichen die letzten beiden großen Verfahren, die gegen die antifaschistische Linke angestrengt wurden. Betroffen waren davon die Autonome Antifa [M] Göttingen und die Antifaschistische Aktion Passau (AAP). Die Verfolgung "schwerer Straftaten" wie Plakate antifaschistischen Inhalts kleben oder die Nichtanmeldung von Demonstrationen führten zu einer totalen Überwachung linker Strukturen in den besagten Städten - eine Überwachung, die sich auch auf das soziale und politische Umfeld ausdehnte. So waren in beiden Fällen neben Freundinnen und Freunden der Beschuldigten auch liberale PolitikerInnen, PastorInnen, GewerkschafterInnen und AnwältInnen von Abhörmaßnahmen betroffen. Doch auch in Passau und Göttingen ebneten die Ermittlungen nicht den Weg in den Gerichtssaal. Eine Tatsache, die den Schluß auf den regelmäßigen Ausgang von §129 Verfahren zuläßt: von den nach besagtem Paragrafen angestrengten Ermittlungen führten in der Vergangenheit lediglich 10% zu einer Anklage, nicht einmal 5% zu einer Verurteilung. Es wird deutlich, dass nicht etwa eine Orientiertheit auf eine Abstrafung politisch aktiver Menschen von Seiten des Staates besteht, sondern der §129 lediglich Ermittlungswerkzeug desselben ist. Wo es den Behörden nicht hinreichend möglich wird, die linksradikale Szene zu durchleuchten, können ihnen die §§129/129a mit ihrer grundrechtssuspendierenden Wirkung subsidiär zur Seite springen.

Leipzigs Linke im Visier?!

Wieso nun aber Leipzig? Das Interesse der Verfolgungsbehörden, ein Verfahren nach §129 anzustrengen, läßt sich unter anderem durch die relative Stärke der Leipziger Linken erklären. Diese ergibt sich vor allem aus einer Vielschichtigkeit, die sich in diversen Aktionen, Demos, Kampagnen, Diskussionen, Events etc. niederschlägt, die sowohl auf regionaler, als auch auf bundesweiter Ebene Akzente setzen konnten. Der sich so herausgebildete Grad systemkonträrer Politik ist vor allem der Stadt Leipzig und der sächsischen Justiz offensichtlich ein Dorn im Auge. Belegt wird diese These durch sich in letzter Zeit häufende Kriminalisierungsversuche. Neben Hausdurchsuchungen und zahlreichen Verhandlungen wegen Landfriedensbruch, Körperverletzung etc. kamen im Dezember 2000 erstmals DNA-Analysen gegen die linke Szene zum Einsatz. Fünf AntifaschistInnen mußten eine Speichelprobe abgeben, da ihnen die Körperverletzung von drei Nazis zur Last gelegt wurde - eine Anschuldigung, die sich lediglich auf den Fakt gründet, dass sich die betroffenen Genossen 40 Minuten nach der Tat zufällig in der Nähe des Tatortes befanden. So skandalös, wie sich schon die juristischen Vorwürfe darstellen, erscheint auch die DNA-Abgabe, die jeder rechtlichen Legitimation entbehrt. Mit der Übertragung des besagten Falles zur Entscheidung an das Landesverfassungsgericht haben die zuvor ergangenen DNA-Entnahmebescheide ihre Gültigkeit verwirkt. Dennoch wurden die Angeschuldigten gezwungen, ihre Erbinformationen auszuspucken. Ein weiteres Beispiel liefert die per se Kriminalisierung von linken Demonstrationen in Leipzig. So mußten sich die AnmelderInnen der Demonstrationen gegen die Kamera am Connewitzer Kreuz mit haarsträubenden Anklagen wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz herumplagen. Ein vor der Demo laufender Feuerspucker, ein mitgeführter Motorradhelm, ein Nietenarmband und ein Sonnenschirm waren Grund genug, Menschen vor Gericht zu zerren.
Jedoch machte die Repression auch vor dem sozialen Umfeld der Leipziger Linken nicht halt. So sieht sich der Rote Stern als Sportverein "mit konkreten politischen Ansprüchen" (aus dem Selbstverständnis des RSL), permanent Maßnahmen des Staatsschutzes gegenüber. Diese werden u.a. in einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz deutlich, der seine mageren Informationen zeitweise auf seiner Internetpräsentation vorstellte. Dies führte zu einer Reihe von Anfragen im sächsischen und sachsen-anhaltinischen Landtag. Aus der Antwort vom Sächsischen Staatsministerium des Innern war zu entnehmen, dass die Überwachung des Vereins bereits seit dessen Gründung im Februar 1999 erfolgt und diese auf unbeschränkte Zeit fortgeführt werden soll.
Weil die beschriebenen Maßnahmen gegen die linke Szene bzw. deren Umfeld offensichtlich nicht den erwarteten Erfolg einer Lähmung brachten, schien es an der Zeit, mittels des §129 richtig "reinzuknallen".

Warum die Ermittlungen ins Leere liefen

Daß das Verfahren in Leipzig mit einer Einstellung endete, läßt sich nicht auf die fehlende Existenz einer kriminellen Vereinigung reduzieren, gegen die ein Prozeß hätte angestrengt werden können. Wie bereits mehrfach gezeigt, handelt es sich beim Komplex 129 lediglich um eine Konstruktion der Verfolgungsbehörden, ein phantasiebeladenes Gebäude, das sich nach Belieben zurechtspinnen läßt. Ferner sind die Ermittlungen in den gesellschaftlichen Kontext zu setzen. In Zeiten, in denen sich der Staat antifaschistisch geriert und die Herrschenden zum Aufstand der Anständigen trommeln, passen uferlose Ermittlungen gegen AntifaschistInnen nicht wirklich ins Bild des "zivilgesellschaftlichen" Deutschlands. Dafür spricht vor allem die schwer widerlegbare Verbindung zwischen dem Datum der parlamentarischen Anfrage und dem Datum der Verfahrenseinstellung. Als für die Behörden ersichtlich wurde, daß die Ermittlungen nach §129 aus der medialen Grauzone herausgerissen und ins öffentliche Bewußtsein gerückt zu werden drohen, bemühte man sich um Schadensbegrenzung. Nur neun Tage, nachdem die Anfrage der PDS bei der Sächsischen Staatskanzlei einging, waren sich die StrafverfolgerInnen einig, nichts Belastendes gefunden zu haben! Diesem Vorgehen liegt offensichtlich die Einschätzung zu Grunde, daß ein eingestelltes Verfahren, bei dem ausschließlich nachrichtendienstliche, sprich: geheime Ermittlungsmethoden zum Einsatz kamen, vor allem in der bürgerlichen Medienlandschaft mit Ignoranz begegnet wird. Getreu der Devise, "wird schon nicht so schlimm gewesen sein", weil keine offene Repression, wie z.B. durch Hausdurchsuchungen oder Verhaftungen zum Einsatz kam, findet eine Skandalisierung des Verfahrens in der Öffentlichkeit nicht statt. Dem wünschenswerten Rechtfertigungsdruck sind die verantwortlichen Behörden dadurch elegant ausgewichen. Ein zweiter Aspekt für ein Scheitern des Verfahrens war die schnelle Reaktion der Szene. Bereits die ersten Anzeichen für dessen Bestehen haben zu einer Organisierung eines breiten Widerstands gege
Nicht nur, daß eine Sensibilisierung für den §129 und damit eine stärkere Beachtung von Anti-Repressionsstandards im eigenen Handeln die Ermittlungen zusehends be- oder gar verhinderten; eine sich am Anlaufen befundene Öffentlichkeits-Kampagne hätte den Preis des Verfahrens für die ErmittlerInnen empfindlich in die Höhe getrieben. Höchste Zeit also, die Aktendeckel zu schließen.

Nichts ist vorbei

Obwohl der §129 diesmal mit einer Einstellung abgebügelt wurde, gibt es doch nicht wirklich Grund zur Freude. Fakt ist, es wurde über ein Jahr in der linken und subkulturellen Szene Leipzigs spioniert, Informationen und Daten gesammelt, Gespräche aufgezeichnet, Persönlichkeitsprofile erstellt. Selbst wenn nicht postwendend ein neues Verfahren nach §129 eröffnet wurde, um weiter im Geheimen agieren zu können (was durchaus vorstellbar ist), muß davon ausgegangen werden, daß die bereits gewonnen Informationen nicht im Keller der Justiz verstauben. Sie werden wohl in zukünftigen Strafverfahren unter der Hand mit einfließen. Deshalb ist eine Schlußstrichmentalität mehr als deplaziert. Es gilt, die gelaufenen Ermittlungen aufzuarbeiten und eine Diskussion über einen bewußteren Umgang mit Repression einzufordern. Der Leipziger Linken muß klar werden, daß sie sich nicht im Streichelzoo des Meinungspluralismus befindet, sondern auch sie von direkter staatlicher Verfolgung betroffen ist. Anstatt sich nun den Forderungen an die Herrschenden hinzugeben, sich doch bitte das nächste Mal an die eigenen Regeln und Gesetze zu halten - kann nur die bedingungslose Hinterfragung der gesellschaftlichen Zustände, die jene Regeln und Gesetze hervorbringen, der Repression die Beine wegziehen.

Für eine radikale Linke!
Widerstand braucht Kontinuität!
Kontinuität braucht Widerstand!

Rote Hilfe Leipzig

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30.07.2001
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