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Illmenau: Kritische Öffentlichkeit wird teuer

S p e n d e n a u f r u f

K r i t i s c h e Ö f f e n t l i c h k e i t w i r d t e u e r

Am 18. 01.2001 verhandelte das Amtsgericht Ilmenau eine Anklage gegen
die Vorsitzende des Flüchtlingsrat Thüringer e.V. Julika Bürgin.
Hintergrund ist der zwei Jahre zurückliegende Fall des 17-jährigen
sierra-leonischen Asylbewerbers Kissema K., dem 1998 über Monate hinweg
durch das Landratsamt des Ilm-Kreises die dringend erforderliche
Operation einer Unterschenkelfraktur verweigert wurde. Erst nachdem der
Flüchtlingsrat und andere den Fall öffentlich machten, wurde die auch
durch das Thüringer Innenministerium (TIM) im nachhinein als unzulässig
bezeichnete Praxis durch das TIM korrigiert und die Operation
ermöglicht. Fachärzte sowie der zuständige Amtsarzt hatten die Operation
bereits im Frühjahr 1998 für nötig befunden.

Gegenstand des aktuellen Verfahrens war nicht, ob die medizinische Hilfe
rechtswidrig verweigert wurde, was die zuständige Behördenmitarbeiterin
des Ilmkreises skandalöserweise bis heute bestreitet, sondern, ob eine
in diesem Zusammenhang vom Flüchtlingsrat veröffentlichte Aussage der
Mitarbeiterin gegenüber Kissema K. erweislich so gefallen ist und
deshalb auch zitiert werden durfte. Der Flüchtlingsrat führte an, dass
angesichts der Tatsache, dass für die Verweigerung der Behandlung keine
rechtlichen Gründen bestanden hätten, voraussichtlich sachfremde
Erwägungen eine Rolle spielten. Kissema K. hatte mehrfach, auch
schriftlich, eine von ihm vernommene Äußerung der Sachgebietsleiterin
wiederholt, die geeignet war, Aufschluss über den
Begründungszusammenhang zu geben. Die Sachbearbeiterin bestritt die
Aussage, kurz darauf wurde gegen den Asylbewerber, der inzwischen wieder
in Afrika lebt, und seinen Dolmetscher wegen Verleumdung ermittelt. Die
Vorsitzende des Flüchtlingsrats wurde wegen "übler Nachrede" angezeigt.

Der Flüchtlingsrat sieht es als seine Aufgabe an, der Perspektive von
Asylbewerbern in der Öffentlichkeit Raum zu geben, sie zu zitieren, und
Fälle von diskriminierendem und/oder rassistischem Verhalten von
Behörden öffentlich zu machen. Nach dem Selbstverständnis des
Flüchtlingsrates gehen jeder Veröffentlichung sorgfältige Recherchen
voraus, wie sie auch im Fall von Kissema K. stattgefunden haben. Er
sieht jedoch aus seiner Sicht keine Veranlassung, auch als Sprachrohr
der Behörden zu dienen und deren Darstellungen zu verbreiten. Eine
solche Vorgehensweise ist Aufgabe der Presse und nicht einer
Lobbyorganisation, so der Flüchtlingsrat. Entsprechend § 186 des
Strafgesetzbuches ist die Wiederholung von Aussagen anderer, die nicht
sicher als wahr erwiesen werden können, strafbewehrt, wenn sie geeignet
sind, herabwürdigend zu sein. Auf die Veröffentlichung von Namen und
konkreten Aussagen muss folglich verzichtet werden, falls deren Wahrheit
nicht sicher nachweisbar ist.

Flüchtlinge gehen meist allein zu Behörden. Sie haben deshalb weder
Zeugen, noch können sie sich aus finanziellen Gründen auf dem Rechtsweg
wehren. Oft bleibt die Veröffentlichung der einzige Weg, um Recht zu
erstreiten und auf das diskriminierende und/oder rassistische Klima
aufmerksam zu machen, das in vielen Behörden herrscht. Wenn diejenigen
mit Prozessen bedroht sind, die auf Fehlverhalten hinweisen, so schwächt
dies die Position der Asylbewerber, denen Behördenmitarbeiter in ihrer
entscheidungsrelevanten Funktion und in einer "Hierarchie der
Glaubwürdigkeit" bereits privilegiert gegenüberstehen, zusätzlich.

Das Verfahren gegen die Vorsitzende des Flüchtlingsrates wurde gegen
Zahlung einer Geldbuße von 1500 DM wegen geringer Schuld eingestellt.
Zahlt sie die Geldbuße nicht, wird sie wegen "übler Nachrede"
verurteilt, weil die von Kissema K. angegebene Aussage der
Behördenmitarbeiterin nicht als "erweislich wahr" erwiesen werden
konnte. Der Flüchtlingsrat selbst, Pro Asyl und das Europäische
Bürgerforum sowie viele solidarische Einzelpersonen bewerten das
Verfahren als Versuch Menschen, die sich öffentlich gegen Rassismus
engagieren, behördlicherseits einzuschüchtern. Ein kritischer
Flüchtlingsrat braucht die Solidarität vieler, um sich nicht in das
nahegelegte Hamsterrad von ängstlicher Vorsichtigkeit, Misstrauen und
Selbstzensur zu begeben und um weiterhin Flüchtlinge in der Wahrnehmung
ihrer Rechte und Interessen unterstützen zu können. Wir bitten um
Spenden, um das Recht auf Meinungsfreiheit zu verteidigen und die 1500
DM gemeinsam zu begleichen.


Spendenkonto:
Flüchtlingsrat Thüringen e.V.
Stichwort: Flüchtlinge brauchen Öffentlichkeit
BfG Bank Leipzig
BLZ 860 101 11
Konto-Nr. 1963704200

Eventuelle Mehreinnahmen kommen dem Rechtshilfefonds des Flüchtlingsrat
zugute.


 

20.01.2001
anonym zugesandt   [Aktuelles zum Thema: Repression]  Zurück zur Übersicht

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