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Türkei: Situation in den Gefaengnissen

Tuerkei: Situation in den Gefaengnissen


Nach der blutigen Intervention des tuerkischen Staates gegen die im
Hungerstreik und Todesfasten befindlichen sozialistischen Gefangenen
ist das Problem der anarchistischen Gefangenen in tuerkischen
Gefaengnissen jetzt in der Aufmerksamkeit der (internationalen)
anarchistischen Kreise gerueckt, und ein Brief eines tuerkischen
anarchistischen Gefangenen wurde auf A-Infos veroeffentlicht.
Zunaechst einmal moechte ich allgemeine Informationen ueber die
Hungerstreikenden und das F-Gefaengnis-Projekt geben. (Uebrigens
betraegt die Zahl der vom Staat ermordeten Gefangenen, soweit heute
bekannt ist, 30! und das Todesfasten geht unter Beteiligung von 395
Gefangenen weiter; waehrend der staatlichen Intervention war es fuer
einige Tage ausgesetzt worden).

 a-infos-en@ainfos.ca

DER HUNGERSTREIK UND DAS F-GEFAENGNIS-PROJEKT

Hungerstreik und Todesfasten werden angefuehrt von der DHKP-C und der
TKP/ ML TIKKO. Die DHKP-C (Revolutionaere Volksbefreiungsparteifront;
fruehere Revolutionaere Linke) ist eine Art stalinistische
Organisation und arbeitet hin auf eine "oeffentliche Revolution" unter
der Fuehrung einer Avantgardepartei (fuer sie natuerlich ihre eigene
Partei). Sie organisieren hauptsaechlich in einigen besetzten Haeusern
in Istanbul und einigen laendlichen Gebieten in Anatolien, wo Aleviten
leben. Der Vorsitzende ist Dursun Karatap, der im Ausland lebt (in
Europa, moeglicherweise Belgien oder Frankreich etc.). Die TKP/ML
TIKKO (Tuerkische Kommunistische Partei - Marxisten-Leninisten -
Tuerkische Arbeiter-Bauern-Befreiungsarmee) ist eine maoistische
Organisation; hauptsaechlich aktiv in Dersim (Tunceli) und in einigen
besetzten Haeusern. Sie wird von den meisten linken legalen-illegalen
Parteien (sozialistisch und kommunistische Parteien und Gruppen)
unterstuetzt.

Die Hungerstreikaktionen zielen hauptsaechlich darauf ab, das
F-Gefaengnis- Projekt zu stoppen, das vor allem fuer sozialistische
Gefangene von "illegalen" Gruppen und Parteien geplant wurde. Die
tuerkische Regierung will damit die Befriedung durch Vereinzelung
erreichen, dem Gefangenen sollen sozialen Beziehungen unmoeglich sein,
die ein grundlegendes Menschenrecht sind und auf diese Weise sollen
auch Aufstaende verhindert werden. Aber vor einigen Wochen fuehrte der
tuerkische Staat eine gewaltsame Aktion durch und steckte die meisten
der politischen Gefangenen in solche F-Gefaengnisse, obwohl
angekuendigt worden war, dass dieses Projekt verschoben wurde! Es
kostete 32 Tote (30 Gefangenen und 2 Waerter); einige der Gefangenen
starben, weil sie sich als Protest gegen die Operation selbst
verbrannten, einige wurden bei der Operation getoetet (andere
gefoltert und verletzt), nach Informationen seitens der Gefangenen
wurde sogar ein Waerter von anderen Waertern getoetet. Der Widerstand
geht nun in den F-Gefaengnissen weiter.


ANARCHISTEN UND ANARCHISTISCHE GEFANGENE

Tuerkische Anarchisten kaempfen ebenfalls von Anfang an (seit dem
Sommer 2000) gegen die F-Gefaengnisse. In Ankara beteiligen sich
Anarchisten die Proteste gegen die F-Gefaengnisse und verteilen an
verschiedenen Orten Flugblaetter (5000 Stueck in nur 10 Tagen),
kaempfen bei Demonstrationen gegen die Polizei, fuehren symbolische
Hungerstreiks durch. In Istanbul gab die Anarchistische Plattform eine
Erklaerung gegen das F-Projekt heraus etc. Dies alles wird getan, um
die Hungerstreikenden zu unterstuetzen und das F-Projekt zu stoppen;
nicht weil die Anarchisten aehnliche Meinungen vertreten wie diese
(Sozialisten und kommunistische Marxisten), sondern weil das, was der
Staat unternimmt, MEHR Repression gegenueber den BuergerInnen
bedeutet, gegen jede Art von "Staatsfeinden".

Wie sieht es andererseits mit den anarchistischen Gefangenen aus?
Es gibt in tuerkischen Gefaengnissen einige Personen, die sich selbst
als Anarchisten bezeichnen, aber die meisten von ihnen sind ehemalige
Sozialisten (Marxisten), die wegen ihrer Beteiligung (manche sind
nicht einmal "Mitglieder") am Kampf "illegaler" sozialistischer
Gruppen im Gefaengnis sind. Die meisten von ihnen haben im Gefaengnis
ihre iedologischen Ansichten geaendert und sich spaeter als
"Anarchisten" definiert. Einige kommen von PKK, MLKP, MLSPB, TIKKO,
DHKP-C, Ala-Ryzgari etc. Sie hatten unterschiedliche Gruende, ihre
iedologischen Ansichten zu aendern; die meisten von ihnen meinen, dass
ihre Gruppe (und deren Ideologie) zu autoritaer oder sogar
diktatorisch ist, einige (zwar wenigere, aber es kommt doch vor)
moegen auch nur vorgeben, Anarchisten zu sein, um sich von der
Autoritaet ihrer Gruppen zu befreien. Ich meine damit nicht, dass dies
keine Anarchisten sind, sondern vielmehr, dass wir sie nicht kannten,
bevor sie ins Gefaengnis kamen. Sie nehmen entweder Kontakt auf, indem
sie an anarchistische/libertaere Zeitungen, Magazine schreiben oder
durch Freunde im Gefaengnis etc. Ihr groesstes Problem ist
"Einsamkeit"; sie haben keine Freunde oder Genossen, oder Gruppen, die
sie "verteidigen" und sich um sie kuemmern. Ausserdem sind sie nicht
nur der Repression durch den Staat (die Gefaengnisverwaltung)
ausgesetzt, sondern auch seitens der sozialistischen Gefangenen. Das
beste waere, sie an einem Ort zu versammeln (im selben Schlafsaal),
aber das ist wegen anderer Probleme, die nicht so leicht geloest
werden koennen, unmoeglich; sie sind in verschiedenen Gefaengnissen
und muessen zu ihren Prozessen von weit entfernt anreisen oder haben
untereinander ideologische oder auch persoenliche Probleme etc. ABER:
ich bin der Meinung, dass sie Hilge von Anarchisten bekommen muessen,
nicht nur weil sie Anarchisten SIND, sondern auch aus humanitaeren
Gruenden. Wie viele sind es? Das weiss ich wirklich nicht; aber
derzeit gibt es cirka 11.000 politische Gefangene in tuerkischen
Gefaengnissen (die meisten von der PKK) und vielleicht definieren sich
einige von ihnen als Anarchisten, Antiautoritaere (oder
Antimilitaristen). Ich erinnere mich, dass wir 1997 eine Liste von
13-14 Gefangenen in verschiedenen Gefaengnissen hatten (vielleicht 2-3
jeweils zusammen). Ihre Einstellung zum Hungerstreik und Todesfasten?
Soweit ich weiss, beteiligt sich einer am Todesfasten, einige nehmen
vielleicht zur Unterstuetzung am Hungerstreik teil.

Sie sind der Repression (ihrer ehemaligen oder anderer)
sozialistischen Gruppen ausgesetzt. Die Gruende sind manchmal echt
grotesk, z.B. das Hoeren von Rockmusik, lange Haare, weil sie sich
ueber die Einstellung anderer Leute lustig gemacht haetten, aber auch
"Politisches" wie negativ ueber sozialistische Gruppen reden etc. (das
war in einem Brief eines anarchistischen Gefangenen vor 3-4Jahren zu
lesen). Sie werden von den Sozialisten bestraft (wie z.B. das ihnen
nicht erlaubt wird, ihr Bett zu verlassen etc.). Wenn sie nicht
gehorchen, sind sie sogar der Gewalt ausgesetzt; ich habe gehoert,
dass mal zwei von ihnen zusammengeschlagen wurden, und ein anderer
wurde sogar im September 1998 getoetet. Es muss noch viele solche
Vorfaelle geben, von denen wir nicht erfahren. Im September 1998
toetete die TIKKO im Gefaengnis Eskisehir Mehmet Cakar und gab dafuer
die Begruendung, er sei ein Spitzel. Er stand in Kontakt mit einem
Genossen (einem Anarchisten) von der unabhaengigen Zeitschrift
Arkabahce aus Ankara und er unterstuetzte den antimilitaristischen
Kampf, schickte antimilitaristische Karikaturen etc. Aber wir kannten
ihn nicht, bevor er ins Gefaengnis kam; er hatte seiner Frau einen
Monat vor seinem Tod gesagt, er wisse, dass sie ihn umbringen wuerden.
Er war im Gefaengnis, weil er der Repraesentant der "legalen"
Zeitschrift Partizan in Izmir war (TIKKO-Unterstuetzer). Zu der Zeit
gab es bei TIKKO eine "Saeuberung" (!) und innerhalb eines Jahres
wurden cirka 10-12 ehemalige Aktivisten getoetet, mit der Begruendung,
sie seien Spitzel oder Informanten.


SCHLUSSFOLGERUNG

Ich habe dies nicht geschrieben, um AnarchistInnen vom Kampf gegen die
F- Gefaengnisse abzuhalten, oder sie von der Solidaritaet mit Linken
(sozialistischen oder kommunistischen Gruppen) abzuhalten. Es betruebt
mich und die anderen tuerkischen GenossInnen, dass die Probleme der
anarchistischen Gefangenen nicht deutlicher, allgemeiner und breiter
bekannt werden, zu einer Zeit, in der der Kampf gegen die
F-Gefaengnisse im vollen Gang ist, zu einer Zeit, zu der der Staat
Dutzende von aufstaendischen Gefangenen toetet, egal, fuer was sie
einstehen. Dies darf den Kampf nicht "spalten"; wie Nikos Maziotis
sagt: "Solidaritaet ... ist nicht an Bedingungen geknuepft fuer alle,
die irgendwo mit welchen Methoden auch immer gegen die herrschende
politische und gesellschaftliche Ordnung kaempfen", Ich meine, darum
sollten wir als AnarchistInnen den Kampf gegen die F-Gefaengnisse
unterstuetzen - nicht, weil wir mit ihnen politisch kooperieren. Ich
nenne sie nicht, wie Nikos es tut, GenossInnen, unterstuetze aber
ihren Kampf aus humanitaeren und antistaatlichen Gruenden. Leider habe
ich niemals Artikel oder Meldungen ueber Nikos' Prozess in einer
sozialistischen oder kommunistischen Zeitung in der Tuerkei gesehen.
Dagegen ist es den griechischen AnarchistInnen ernst mit der
Unterstuetzung des Widerstands der sozialistischen Gefangenen hier.
Ich wuerde es auch vorziehen, ueber all dies in "ruhigeren" Zeiten zu
sprechen, aber die Tatsachen erscheinen manchmal zu unvorhergesehenen
Zeiten.

Fuer ein Leben ohne Gefaengnisse!

Fuer "Solidaritaet ohne Grenzen"!

 

12.01.2001
Anarchist Black Cross Luxembourg [homepage]   [Email] [Aktuelles zum Thema: Int. Solidarität]  Zurück zur Übersicht

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