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Tecklenburg (Münsterland): Prozeß gegen Anti-Antifa

Ist was?

"Endlich!" war der Kommentar von Holger, und "Wäre
schön, wenn du auch kommst!". Nach über einem Jahr des
Schweigens rührt sich nun die Justiz, räkelt und
streckt sich, gähnt noch einmal, macht die Augen auf
und verhandelt ausgerechnet am Donnerstag, dem
geschichtsträchtigen 9. November um 13.30 Uhr die
"Strafsache" gegen Marc Westerhove aus Lengerich am
Amtsgericht Tecklenburg (Gerichtsweg, Raum 23).
Was, Du erinnerst Dich nicht? Dann hätte die Justiz
genau das erreicht, was sie durch ihr Verhalten
beabsichtigte: Verdrängen, Verschleppen, Vergessen
machen!

Vor einem Jahr, am 20. November 1999 gab es in Münster
eine Demonstration. Es hingen bundesweit zahlreiche
schwarze, sehr schwarze Plakate, die oben den
Schriftzug "Ist was?" trugen, und klein darunter die
Aufforderung, zur Antifa/Antira-Demo nach Münster zu
kommen - wider das Verschweigen neonazistischer Taten
durch Medien, Polizei und Justiz. Anlaß für diese Demo
waren die Geschehnisse vom 19. September 1999 in
Rostock, wohin die NPD und die JN zu einem "Aufmarsch"
mobilisierten. Dieser war zunächst in Lichtenhagen
geplant, an eben jenem Ort, an dem Neonazis und
rassistischer Mob 1992 ein Wohnheim von sog.
AusländerInnen angriffen, wobei Feuerwehr und Polizei
tatenlos zuschauten. An der Gegendemo nahmen viele
AntifaschistInnen aus der ganzen BRD teil, auch Holger
aus dem Wendland, der bei dieser Demo durch einen
brutalen Anschlag eines Neonazis beinahe das Leben
verlor.

Über die Hintergründe dieser Tat und des o.g.
Gerichtstermins klärt der folgende Text auf, der als
Rede vor fast einem Jahr hier in Münster gehalten
wurde, und der von einem Freund von Holger verfaßt
worden ist:

"Es war am 19. September letzten Jahres (1998),
Wahlkampfzeit. Die NPD und die JN hatten zu einem
Aufmarsch mobilisiert, nach Rostock-Lichtenhagen. Das
ist der Ortsteil, wo sechs Jahre vorher Faschisten
unter der Parole "Ausländer raus!" ein Wohnhaus von
vietnamesischen VertragsarbeiterInnen angriffen,
während Polizisten zuschauten und rassistische
Anwohner applaudierten. Die Provokation der NPD, sich
positiv auf dieses Pogrom zu beziehen, hatte auch
mehrere tausend AntifaschistInnen motiviert, zu einer
Gegendemo nach Rostock zu kommen. Der NPD-Aufmarsch
wurde zwar in Lichtenhagen verboten, doch in Dierkow,
einem anderen Stadtteil Rostocks erlaubt. Die
Gegendemo in der Innenstadt war von starken
Polizeikräften eingekesselt, als vom Lautsprecherwagen
bekanntgegeben wurde, daß das Antifa-Infozelt von
Faschos angegriffen wird. Einige Leute, die außerhalb
des Kessels waren, unter ihnen Holger, machten sich
auf den Weg zum Infozelt. Auf der Straße vor dem
Infozelt spielte sich dann laut Augenzeugen etwa
folgendes ab: Ein Auto hält an einer roten Ampel. Da
kommt ein aufgemotzter dunkler Kleinwagen angerast,
macht eine Vollbremsung, wobei er am Bordstein entlang
rutscht, und kommt nicht mal einen halben Meter vor
dem anderen Auto zum stehen. Der Fahrer legt den
Rückwärtsgang ein und vollbringt mit quietschenden
Reifen eine sogenannte Chicagowende. Dann fährt er
stark beschleunigend wieder in die Richtung, aus der
er kam. Holger und eine weitere Person waren gerade
auf der Straße, um diese zu überqueren. Der andere
konnte gerade noch zur Seite springen, doch Holger
wurde vom Auto erfaßt, durch die Luft geschleudert und
blieb dann mit schweren Kopfverletzungen liegen.
Obwohl der Fahrer freie Sicht und auch
Ausweichmöglichkeiten hatte, unternahm er keinen
Versuch, zu bremsen oder auszuweichen. Im Gegenteil,
er beschleunigte noch und fuhr auch danach ohne Zögern
weiter. Ein später von der DEKRA erstelltes Gutachten
berechnete aus den Spuren am Wagen eine
Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern beim
Aufprall. Zum Glück kam recht bald ein Krankenwagen
und brachte Holger in die Uniklinik, wo er bald
operiert wurde. Wenig Interesse, das Geschehen zu
registrieren, zeigte jedoch die Polizei.
Vorbeikommende Einsatzkräfte erklärten sich für nicht
zuständig, eine Verkehrsstreife erschien erst nach
einer halben Stunde. Zeugen mußten sich regelrecht
aufdrängen, um gehört zu werden. Ermittlungen wie das
Ausmessen von Bremsspuren, die selbst bei der Aufnahme
gewöhnlicher Unfälle üblich sind, wurden zunächst
unterlassen. Etwa nach weiteren zwanzig Minuten wurde
die Straße für den Verkehr freigegeben. Die Blutlache
wurde vom fahrenden Verkehr verwischt...

Menschen, die gegen 14 Uhr die Straße aus Wut und
Trauer besetzen wollten, wurden von der Polizei brutal
von der Straße geräumt. Wörtliche Antwort eines
Polizisten auf die Bemerkung, daß dort ein Mensch
überfahren wurde und sogar noch die Blutlache zu sehen
sei: "Das ist doch nicht dein Blut, oder?" Über die
Verharmlosungspolitik der Polizeiführung schrieb die
"Junge Welt": "Die Polizei räumte während der
Pressekonferenz erst auf Nachfragen ein »schädigendes
Ereignis im öffentlichen Verkehrsraum« im Bereich des
Stadthafens ein. Es handele sich jedoch um einen
normalen Verkehrsunfall und habe nichts mit dem
Demonstrationsgeschehen zu tun. Der Fahrer habe sich
»dem Unfallort abgewandt«, sich jedoch später der
Polizei gestellt. Nach einer Vernehmung sei der Fahrer
jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Auf
Nachfrage erklärte Abramowski, daß er zu dieser
Freilassung nichts weiter sagen könne und bat darum,
die Fragen zu diesem Themenkomplex einzustellen: »Der
Herr Minister hat noch einen anderen Termin.«" Zu
dieser Informationspolitik paßt, daß der Polizeichef
zunächst gegenüber der versammelten Presse erklärte,
keine Erkenntnisse über eine Zugehörigkeit des Täters
zur rechten Szene zu haben, dies jedoch unmittelbar
darauf gegenüber einer Reporterin von ntv zugab, "aus
ermittlungstechnischen Gründen" darüber aber keine
weiteren Auskünfte geben könne. In den folgenden
Wochen, während Holger noch immer im Koma lag und das
öffentliche Interesse an Rostock nachließ, ging es
weiter mit der Strategie, aus dem Mordversuch eine
Bagatelle zu machen. Der Mordkommission wurde das
Verfahren entzogen, der Vorwurf auf "fahrlässige
Körperverletzung" reduziert, noch bevor das
DEKRA-Gutachten wichtige Indizien für die Frage
"Absicht oder nicht?" liefern konnte. Der Fahrer bekam
seinen Führerschein zurück. Die gerichtliche
Zuständigkeit wurde von Rostock nach Tecklenburg ins
Münsterland verlegt, da der Fascho hier in Lengerich
wohnt. Ihm wurde das Jugendrecht zugestanden, womit
die Öffentlichkeit vom Verfahren ausgeschlossen bleibt
und auch das Strafmaß begrenzt ist.

Der zuständige Jugendrichter fühlte sich von diesem
Fall wohl überfordert und beantragte die Übernahme
durch das Jugendschöffengericht Ibbenbüren. Dieses
wies Ende April die Übernahme zurück und gab zu
verstehen, daß es das Verfahren gegen Zahlung von ca.
2000,- DM einstellen würde. Begründet wurde dies mit
einem "erheblichen Mitverschulden des Geschädigten",
also Holgers, "der einfach auf die Straße gelaufen
sein soll". Außerdem sei bei dem Fahrer von einer
"Panikreaktion" auszugehen, "in der sich ein
Fluchtinstinkt durchsetzte". Einige Monate später
beantragt dann der Jugendrichter die Einstellung,
worauf Holger als Nebenkläger keine Möglichkeiten
gehabt hätte, die Einstellung zu verhindern. So lag
die Entscheidung bei der Staatsanwaltschaft Münster.
Vor zwei Wochen (im November 1999) hat sie nun
entschieden, daß das Verfahren nicht eingestellt
werden soll, daß ein Prozeß nun stattfinden soll. Dies
war mal eine positive Meldung, vielleicht sogar ein
kleiner Erfolg für uns, für alle, die sich gegen das
stillschweigende Vergessen dieser und anderer
faschistischer Gewalt engagiert haben. Doch machen wir
uns nichts vor: Die Staatsgewalt wird nicht unsere
Interessen vertreten. Die "Gleichheit aller Bürger vor
dem Gesetz" ist pure Fassade, auch in diesem Fall
zeigt die Geschichte das Gegenteil. Vielleicht können
wir den Staat dann und wann dazu bringen, etwas in
unserem Sinne zu tun, weil er seine Fassade
aufrechterhalten will, doch eine Perspektive bietet
uns eine solche Forderungspolitik nicht. Wenn wir
wirklich etwas erreichen wollen, müssen wir unsere
eigene Stärke aufbauen, uns selbst organisieren.

Nicht Butter und Quark, Solidarität macht stark!
Solidarität hat auch Holger wieder stark gemacht. Er
wäre gerne hergekommen, doch aus
versicherungstechnischen Gründen kann er nicht. Aber
er sagt, daß es ihm gut geht, daß er froh ist, noch zu
leben, und daß es ihm gut tut, so viele Freunde und
Freundinnen überall zu haben. Er ist weiterhin in der
Reha-Klinik, wo er nach dem allmählichen Erwachen aus
dem Koma elementare Fähigkeiten wie Essen, Laufen,
Sprechen, Schreiben und Lesen von neuem erlernen
mußte. Im ersten halben Jahr bekam er eine intensive
Betreuung von Freunden und Freundinnen aus Dresden und
Frankfurt, so daß täglich jemand für ihn da war; dazu
noch viele Kurzbesuche. In dieser Zeit machte er
gesundheitliche und Lernfortschritte, die sogar die
Ärzte und Pfleger in Erstaunen versetzte.
Doch Solidarität stärkt nicht nur die, denen die
Solidarität gilt, sondern auch die, die sie ausüben.
Ich habe jedenfalls die Solidarität mit Holger immer
wieder als ermutigend empfunden. Zum Beispiel die
Spontan-Demo in Uelzen am Tag danach, wo die Stadt
gleichzeitig von DVU-Plakaten gesäubert wurde. Wenn
Anfragen kommen, wie\\'s Holger geht, Nachrichten von
Soli-Veranstaltungen, wenn Zeitungen bis nach Bern von
dem Fall berichten und Aufrufe veröffentlichen, wenn
ich beim Besuch von Holger auch andere Freunde treffe,
dann ist das immer auch ein kleines Stück
verwirklichte Utopie von einer solidarischen
Gesellschaft. Was zu wünschen bleibt ist, daß die
Solidarität nicht bei Holger stehenbleibt, daß darüber
die anderen Opfer faschistischer und rassistischer
Gewalt nicht vergessen werden. Holger hatte das Glück
oder das Privileg, mittendrin zu sein in Strukturen,
die den Vorfall an die große Glocke hängen konnten.
Andere, besonders Menschen mit anderer Hautfarbe und
aus anderen Ländern, haben dies nicht. Sie müssen oft
allein mit den Folgen der Angriffe fertig werden. Wir
sollten nach Möglichkeiten suchen, sie in unsere
Solidarität mit einzubeziehen. Zum Schluß noch ein
Gruß von Holger: "Laßt euch nicht unterkriegen!"

Komm am 9. November 2000 um 13.30 Uhr zum Amtsgericht
nach Tecklenburg und bringe noch Deine FreundInnen
mit!
Begleitet zusammen mit uns die Verhandlung kritisch
und demonstriert so, daß wir eine starke
Öffentlichkeit sind, die niemals vergeben und nie
vergessen wird!
Und zeigt Holger Eure Solidarität, ohne die nicht
einmal diese Verhandlung zustande gekommen wäre!
Fight the power! Fight the system!
Ya Basta!

Auf der homepage
 http://home9.inet.tele.dk/clausing/muenster.htm
finden sich noch mehr Redebeiträge der
Antifa/Antira-Demo vom 20. 11. 1999 in Münster:
- Redebeitrag des Antikriegsbündnisses Münster: "Über
die Rolle gegenwärtiger und zukünftiger Kriege"
- Redebeitrag des Vereins für politische Flüchtlinge,
Münster: "Zur Situation von Flüchtlingen in der BRD"
- Redebeitrag vom Roma e.V., Münster: "Zur Situation
der Roma in der BRD"
- Redebeitrag des Roten Büros, Aachen: "Gesellschaft
und Rassismus"


 

01.11.2000
anonym zugesandt   [Aktuelles zum Thema: Antifaschismus]  Zurück zur Übersicht

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