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Kiel: Demonstration am 9. November - Kein Vergeben! Kein Vergessen!


KEIN VERGEBEN! KEIN VERGESSEN!

Antifaschistische Demonstration
Kiel - 9. November 2000
Auftakt: 17.00 Wilhelmplatz
Kundgebung: 17.45 Asmus-Bremer-Platz

Vor 62 Jahren läutete die Reichspogromnacht in Deutschland eine neue
Phase der nazistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik gegenüber
dem Judentum ein. Schon bis dahin waren sie mit einer Vielzahl
staatlicher Maßnahmen zunehmend aus dem öffentlichen Leben gedrängt,
ihres Hab und Guts beraubt und vielfältigen Gewaltmaßnahmen ausgesetzt
worden. So war es Ende Oktober 1938 zur Ausweisung und Vertreibung von
mehreren tausend Juden über die östliche Grenze gekommen, die tagelang
an der deutsch-polnischen Grenze umherirrten, weil Polen die Aufnahme
dieser Menschen verweigerte. Darunter war auch die Familie Grünspan,
deren Sohn Hermann am 7. November in Paris ein Attentat auf den
deutschen Legationssekretär Rath verübt, an dem dieser am 9. November
stirbt. Daraufhin setzt in Deutschland eine organisierte Gewaltwelle
ein, die an etlichen Orten auf spontane Teilnahme der Bevölkerung traf.
91 Juden wurden ermordet, 267 Synagogen in Brand gesetzt oder
beschädigt, mehr als 7.000 in jüdischem Besitz befindliche Geschäfte
zerstört, fast alle jüdischen Friedhöfe geschändet und etwa 30.000 Juden
und Jüdinnen in KZs verschleppt. Nach der Reichspogromnacht wurden
weitere Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen beschlossen und
umgesetzt, so die endgültige Beseitigung der Juden aus dem
Wirtschaftsleben. Am 30. Januar 1939 verkündete Hitler in seiner
Reichstagsrede schließlich den Willen zur "Vernichtung der jüdischen
Rasse". Auschwitz, Treblinka und Sobibor - diese und viele andere Orte
gelten weltweit noch heute als Symbole für diese Vernichtungspolitik.

Wer glaubt, Antisemitismus in Deutschland sei ein Gespenst der
Vergangenheit, das nur noch in ewiggestreigen Neonazikreisen vorhanden
ist, irrt. Die antisemitischen Anschläge auf jüdische Friedhöfe, die
Hetze gegen führende Vertreter des deutschen Judentums wie Ignatz Bubis
und Heinz Galinski und der noch immer nicht aufgeklärte
Sprengstoffanschlag auf das Grab des Letztgenannten sind nur die Spitze
des Eisbergs. Als der jetzige Ministerpräsident des Saarlandes, Peter
Müller, im Wahlkampf mitteilte, er wolle das Präsidiumsmitglied im
Zentralrat der Juden, Michel Friedman (CDU), als zukünftiges
Regierungsmitglied benennen, wurde er bei den Wahlkampfveranstaltungen
häufig mit Äußerungen wie ?Was willst du mit dem Juden?? angegriffen.
Müllers Erkenntnis: ?Ich hätte nicht gedacht, dass der Antisemitismus so
offen artikuliert wird?.
Bereits Ende 1998 veröffentlichte die Zeitung Die Woche eine Umfrage,
derzufolge rund 20% aller Befragten BundesbürgerInnen ?unterschwellig
antisemitisch? eingestellt seien. 63 % der Befragten wollten einen
Schlußstrich unter die Diskussion um die Judenverfolgung in der
Nazi-Zeit ziehen. Diese Stimmung wird von beträchtlichen Teilen der
politischen Klasse geschürt. So drohte der Schriftsteller Martin Walser
in seiner inzwischen berüchtigten Rede mit Blick auf die Aufarbeitung
und Erinnerung an den Holocaust und den Nazismus: ?Je mehr Leitung und
Vorschrift da spürbar wird, um so negativer kann die Reaktion sein?. Für
diese "mutigen Worte" erhielt er kürzlich einen Preis der Stadt Halle.
Und der Herausgeber des SPIEGEL, Rudolf Augstein, beteiligte sich an der
Diskussion um das Berliner Mahnmal zur Ermordung der europäischen Juden
mit der Bemerkung: ?Man kann uns nicht von außen diktieren, wie wir
unsere neue Hauptstadt in Erinnerung an die Vergangenheit gestalten? und
äußerte eine These, ?daß dieses Schandmal gegen die Hauptstadt und das
in Berlin sich neu formierende Deutschland gerichtet ist?. Zwei Stimmen
aus einem breiten Chor, die sich des Themas Holocaust entledigen wollen,
um als ?normale Nation? in Zukunft ungestört - auch militärisch -
imperialistische Großmachtpolitik betreiben zu können.

RASSISTISCHE AUSGRENZUNG DURCH DIE MITTE DER GESELLSCHAFT

Noch immer werden einem beträchtlichen Anteil der hier lebenden Menschen
- den sogenannten ?Ausländern? - grundlegende Rechte vorenthalten.
Täglich werden sie in der Schule, auf den Ämtern und auf der Straße
diskriminiert. Rassismus steckt in den Institutionen, den
Gesetzeswerken, in Lehrplänen und Erziehungssystemen. Seit Anfang der
80er Jahre ist es erklärtes Ziel der Regierung, den Anteil der
türkischen Wohnbevölkerung zu verringern. Das staatliche Angebot von
Rückkehrprämien wird seit Mitte der 80er Jahre begleitet vom Mord und
Totschlag der Neonazis.
Mit dem Zusammenbruch der DDR bekamen Nationalismus und Rassismus neuen
Auftrieb. Jahrelang hat insbesondere die CDU/CSU den Leuten
eingehämmert, dass 95 Prozent aller Flüchtlinge Wirtschaftsflüchtlinge
und eine Gefährdung für dieses Land seien; der damalige
CDU-Generalsekretär Volker Rühe verschickte Musterpresseerklärungen
ebensolchen Inhalts. Schließlich beteiligte sich auch die SPD an der
Debatte um und gegen das Recht auf Asyl. Die Pogrome von Hoyerswerda und
Rostock fanden unter den Augen der Polizei und mit Beifall und
Unterstützung erheblicher Teile der deutschen Bevölkerung statt.
Brandreden wurden so zu Brandsätzen. Die Änderung des
Grundgesetzartikels 16, die de facto einer Abschaffung des Rechts auf
politisches Asyl gleichkommt, wurde so nachträglich zu einer
Legitimation des rassistischen Terrors. Frei nach dem Motto: je lauter
die Rufe nach Ausgrenzung und je häufiger die rassistische Gewalt gegen
Flüchtlinge und EinwanderInnen, um so eher wird die politische Klasse
tätig werden.
Nach der Beseitigung des Asylrechts ist die Entrechtung der Flüchtlinge
fortgesetzt worden - in großer Übereinstimmung zwischen CDU/CSU und SPD.
So zielt beispielsweise das Asylbewerberleistungsgesetz darauf,
Flüchtlingen den Aufenthalt in diesem Land so unangenehm und
abschreckend wie möglich zu machen. An den Grenzen des Landes wird mit
großem Aufwand Jagd auf Menschen gemacht, die vor Krieg, Verfolgung und
Elend in diesem reichen Land Schutz und Hilfe suchen. Diese Politik der
Festung Europa und der inhumanen Behandlung von Flüchtlingen ist
Politik, die nicht von der NPD oder den anderen faschistischen Parteien
gemacht wird; es ist die Politik, die - in weitgehender Übereinstimmung
- von CDU/CSU bis SPD und beträchtlichen Teilen der GRÜNEN politisch
mitgetragen wird und zu verantworten ist.
Zuletzt mit der völkisch-nationalistischen Kampagne gegen die doppelte
Staatsbürgerschaft, der ?Kinder statt Inder?-Parole und dem Gerede von
der "deutschen Leitkultur" hat die CDU/CSU rassistische Einstellungen in
diesem Land bestärkt. Und so zahlreich in diesen Tagen die Aussagen der
politischen Klasse gegen neonazistische Aktivitäten sind, so häufig
finden sich zugleich ausgrenzende, diffamierende und an rassistische
Ressentiments appellierende Äußerungen. Ob die Green-Card-Regelung der
Bundesregierung, ob die Äußerung des bayerischen Innenministers
Beckstein (?Wir brauchen weniger Ausländer, die uns ausnützen, und mehr,
die uns nützen?) oder die Forderung des Präsidenten des Deutschen
Industrie- und Handelstages (DIHT), Hans Peter Stihl, den
?unkontrollierten Strom von Wirtschaftsasylanten? zu stoppen - all dies
ist motiviert von dem Kriterium der ?Nützlichkeit? für den Standort
Deutschland. Dieser habe sich den Herausforderungen der Globalisierung
zu stellen. Wenn dann Außenminister Fischer meint, die "braunen Horden"
würden zum "Standortproblem" des global operierenden deutschen
Kapitalismus werden, gilt nicht der wehrlose "Ausländer", sondern der
Staat selbst als wahres Opfer rechter Schläger. In diesem Kapitalismus,
heißt es, sollen sich nur die Besten durchsetzen. Doch Parolen für die
Leistungsgesellschaft und die Förderung des Konkurrenz- und Elitedenkens
fördern weder Toleranz noch Menschlichkeit. Im Gegenteil, sie befördern
Denken und Handeln entsprechend der Vorstellung vom ?Recht des
Stärkeren? - und das trifft zunächst vor allem die, die gesellschaftlich
und gesetzlich ausgegrenzt und so zu Menschen zweiter Klasse degradiert
worden sind.

GEGEN ANTISEMITISMUS, RASSISMUS UND RECHTEN TERROR

Die gesellschaftlich und institutionell getragene diskriminierende
Behandlung von ?Ausländern? in Deutschland muß ebenso aufhören wie das
isolierte Wegstecken von Flüchtlingen in Hochsicherheitszonen am Rande
der kleinen Städte, ihre stigmatisierende Ausstattung mit Chipkarten und
die rücksichtslose Abschiebepraxis.
Vor allem diejenigen PolitikerInnen, die über zehn Jahre die
Neofaschisten weitgehend gewähren liessen, bemühen nun das Ritual des
Rufs nach schärferen Gesetzen und fordern die Einschränkung von
Grundrechten wie dem der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit.
Dagegen erfuhren antifaschistische Initiativen stets die Härte der jetzt
beschworenen Staatsmacht, und Engagement gegen rechts wurde auf Landes-
und Kommunalebene viel zu oft als ?Nestbeschmutzung? geächtet. Die
Polizei, auf die man nun zumeist setzt, ist mit ihren diskriminierenden
Praktiken häufig eher Teil des Problems; das Wegschauen beim Pogrom in
Rostock-Lichtenhagen und die Teilnahme von Ordnungshütern an der
ganztägigen Hetzjagd am ?Vatertag? 1994 in Magdeburg sind nur die
Spitzen einer nach wie vor ausgeprägten Bereitschaft, neofaschistische
Straftaten hinzunehmen, bei manchen gar stille Sympathie mit ?unseren
Jungs?. Das muss ein Ende haben. Jene Toleranz ist ein Freibrief für die
extreme Rechte, sich der Menschen und sozialer Räume zu bemächtigen.
Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.

BLEIBERECHT FÜR ALLE FLÜCHTLINGE!

Avanti - Projekt Undogmatische Linke, bewegung! - Gruppe gegen
Stillstand im Normalzustand, KAGON - Autonome Gruppe Kiel, Roter Stachel
Elmshorn, Vorbereitungstreffen Unabhängiger AntifaschistInnen Kiel


 

29.10.2000
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