#67


Sonderheft:
Erinnerungskultur in Deutschland
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Vorworte
Befreiung und Niederlage
Als Bertolt Brecht im US-amerikanischen Exil die Nachricht von der bedingungslosen Kapitulation Nazideutschlands erfuhr, mischte sich in die Freude auch Skepsis. Brecht war klar, das der Faschismus zwar militärisch niedergerungen, geistig jedoch noch lange nicht besiegt sein würde. Als er 1949 nach Berlin zurückkehrte, fand er bei vielen Gesprächspartnern auf den zerstörten Strassen vor, was die Kontiuietät der privaten Erinnerung an den Nationalsozialismus bis heute prägt: Schuldabwehr, Selbstgefälligkeit, Emphatieunwilligkeit mit den Opfern des Nationalsozialismus und Rechtfertigungslegenden. Um diese Spuren des Nationalsozialismus im Denken und Handeln zu beseitigen, brauche es "20 Jahre Ideologiezertrümmerung und kritische Selbstbefragung" anstelle von Schlussstrichmentalität und tagespolitischem Zweckoptimismus, so Brecht vor Leipziger Studenten, die wenige Jahre zuvor noch Soldaten der Wehrmacht gewesen waren, und nun den Nationalsozialismus hinter sich und eine lichte Zukunft vor sich glaubten.
 
Brechts Skepsis bleibt aktuell in einem Land, in welchem der Holocaust als negativer Gründungmythos der Bundesrepublik integriert wurde und zugleich Teil der Familiengeschichte ist, über die man nicht spricht.
 
Wenn die politische Klasse der Bundesrepublik heute in Bezug auf den 8. Mai neutral vom "Tag des Kriegsendes" bzw. von "Befreiung" spricht, gilt es an scheinbar einfache Wahrheiten zu erinnern. Ein Tag der Befreiung war der 8. Mai 1945 für
 
die Überlebenden der Konzentrations-und Vernichtungslager
die Zwangsarbeiter/innen
die illegal überlebenden Juden
die Armeen der Anti-Hitlerkoalition
die antifaschistischen Gegner/innen des Nationalsozialismus
 
Ein Tag der Niederlage hingegen war der 8. Mai hingegen für alle, die bis zum Ende Teil des militärischen, alltäglichen und ideologischen Rückhalts des NS Regimes waren, egal ob als Flakhelfer, Wehrmachtsoldat oder Lazarettschwester.
 
Heutiges antifaschistisches Engagement sollte der unermesslichen politischen und militärischen Anstrengungen zur Niederschlagung des Nationalsozialismus eingedenk sein. Demokratische Grundrechte, Freiheit und Menschenwürde, sind in Deutschland keine selbstverständlichen zivilisatorischen Standarts, sondern mussten von den Alliierten und antifaschistischen Widerstandskämpfer/innen teuer erkauft werden. Die Generation der Überlebenden Opfer der NS Diktatur und der Widerstandskämpfer/innen hofft darauf, dass ihr Leiden und ihr Kampf gegen den Nationalsozialismus nicht umsonst war. Es ist an uns, diese Erwartung zu erfüllen.

Stories
Editorial
Zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus erscheint das Antifaschistische Infoblatt mit einer Ausgabe, die sich ausschließlich dem Thema Erinnerungspolitik in Deutschland zuwendet. Diese Ausgabe stellt im Supergedenkjahr vergangenheitspolitische Positionen zur Diskussion, die sich einer Nivellierung der Opfer der NS-Vernichtungspolitik im Zuge geschichtspolitischer, deutscher Selbstvergewisserung widersetzen. | lesen

Die Zukunft der Vergangenheit
Rückblicke und Ausblicke auf deutsche Erinnerungspolitik - »Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen.« Mit diesen Worten bilanzierte der italienische Schriftsteller Primo Levi seine lebenslange Auseinandersetzung mit der Erfahrung von Auschwitz und Buchenwald. Am Ende war die Verzweiflung und die Scham darüber, das »präzedenzlose Verbrechen Auschwitz« (Yehuda Bauer) überlebt zu haben, stärker. 1987 nahm er sich das Leben. | lesen

Von der Quotenforderung zum nationalen Pop
(Martin Büsser) Nach dem Mauerfall begann Deutschland, seine hässliche Fratze wieder offen zu zeigen. Anfang der 1990er verging keine Woche ohne rechtsradikale Brandanschläge auf Wohnheime und geschändete jüdische Friedhöfe. Erstmals wurde wahrgenommen, dass Rockmusik zunehmend zum Sprachrohr für diskriminierende Inhalte geworden ist. Parolen wie »Nieder mit dem Misch-Masch-Blut, denn das tut dem Vaterland nicht gut« (Störkraft) haben den Glauben erschüttert, dass Rock per se tendenziell emanzipatorisch links sei. | lesen

Hitler ein zweites Mal erfunden
(Liselotte Hermes da Fonseca, Jens Hüttmann) Vorhang auf für einen weiteren Meilenstein deutscher Erinnerungspolitik und Geschichtsschreibung: »Der Untergang« von Bernd Eichinger (2004), der die letzten zwölf Tage im Führerbunker im April 1945 zeigt, ist als »meisterhafte Rekonstruktion« bejubelt worden. Die Rede ist davon, dass ‚uns’ Hitler noch nie so nahe war, dass wir endlich auch die ‚menschlichen’, ja, ‚liebenswürdigen’ Seiten dieses Mannes zu sehen bekämen und ganz nahe erleben würden, wie es wirklich war. Mit Erfolg: Nicht nur in Deutschland wurde der Film ausgezeichnet. | lesen

Nur in der Printausgabe
Totalitarismus, Faschismus, Nationalsozialismus
(Gerd Wiegel) Zur Aktualität eines Streits um mehr als Wörter

Streit um den DDR-Antifaschismus
(Stefan Bollinger) Eine kritische Rück- und Vorschau

KZ-Gedenkstätten in der BRD
(Marc Czichy) Der lange Kampf um das Gedenken an die Opfer des NS und das Erinnern an die nationalsozialistischen Verbrechen

Die Zukunft des Gedenkens
(Eckart Schörle, Erik Plummer, Lars Freitag) Einschätzungen zur Frage, welche Rolle die Erinnerung an den NS in Deutschland künftig spielen wird

Wir sind nicht zu ersetzen
Interview mit Peter Gingold, kommunistischer Widerstandskämpfer im NS, heute Sprecher des VVN/BdA

Grenzen der Aufklärung
(Rolf Surmann) Das Wehrmachtsmassaker von Distomo in Griechenland und seine Aufarbeitung nach 1945

An Belohnungen denkt kaum jemand
Interview mit Stefan Klemp vom Simon Wiesenthal Center

Geboren aus dem Geist der Lüge
(Gruppe Olafa) Die Bundesweht soll zur antifaschistischen Friedensarmee umgedeutet werden - und mag auf das Vorbild Wehrmacht dennoch nicht verzichten

Die deutsche Karte gespielt
(Jörg Kronauer) Geschichtspolitische Entwicklungen im Bund der Vertriebenen

»He, wir trauern!«
(Daniel Schlüter) Der geschichtspolitische Fundamentalismus der extremen Rechten am Beispiel Rudolf Heß

Zwischen Verdrängung und Aufarbeitung
(Steffen Hänschen) Das Verhältnis zum Holocaust in Polen

Österreichs Superjubiläumsjahr 2005
(Manu Tesak) Kritischen Stimmen sollen in der gemeinsamen Feierstimmung 2005 erst gar nicht aufkommen können

Das Wiener Holocaust-Mahnmal
Interview mit Gerhard Milchram vom Jüdischen Museum der Stadt Wien

Antifa Infoblatt - Zeitschrift für Antifaschismus seit 1987