Wiederaufgetaucht

(Auszug aus dem "kassiber" Nummer 30 vom Dezember 1996)


Am Montag, den 25. November, tauchte Matthes G., einer der Gesuchten im sog. radikal-Verfahren wieder auf. Einen Tag später meldete er sich, begleitet von seinem Anwalt Albert Timmer, beim Polizeipräsidium Düsseldorf. Dort wurde der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt. Matthes wurde gegen Zahlung einer Kaution in Höhe von 20.000 Mark wieder entlassen, außerdem muß er sich einmal die Woche bei der Bremer Polizei melden.


Am 13. Juni 1995 waren bei einer bundesweiten Razzia, u.a. in Bremen und Oldenburg, mehr als 50 Wohnungen, Arbeitsplätze und linke Projekte durchsucht worden. Die Staatsschutzaktion richtete sich gegen verschiedene linke und feministische Zusammenhänge, die allesamt eingeschüchtert werden sollten. Die Bundesanwaltschaft, zentrale Koordinationsstelle der sog. Aktion Wasserschlag, begründete die Durchsuchungen mit Ermittlungsverfahren wegen der §§ 129 und 129a STGB. Den kriminalisierten Männern und Frauen wurde die Unterstützung bzw. Mitgliedschaft in den "terroristischen Vereinigungen" (§ 129a) Antiimperialistische Zellen (AIZ), Das K.O.M.I.T.E.E. bzw. Rote Armee Fraktion (RAF) vorgeworfen; oder sie sollten bei Vertrieb und Produktion der zur "kriminellen Vereinigung" (§ 129) erklärten Zeitschrift radikal mitgewirkt haben - und dabei für "terroristische Vereinigungen" geworben bzw. diese unterstützt haben (1).

Im Zusammenhang radikal wurden dabei vier Männer festgenommen und erst nach rund sechs Monaten Untersuchungshaft am 5. bzw. 6. Dezember 1995 wieder entlassen (2). Zwei weitere Männer sowie eine Frau, die sich der Verhaftung entziehen konnten, tauchten genau ein Jahr später, am 13. Juni 1996, - auch in Bremen - wieder auf. Die Haftbefehle gegen Uli aus Oldenburg und Jutta aus Bremen wurden einen Tag später vom Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt, derjenige gegen Frank aus Köln allerdings erweitert (3). Er saß bis zum 20. September in Untersuchungshaft.


"Ganz normales Leben in Holland"

Auch Matthes wurde bei o.g. Razzia per Haftbefehl gesucht. Gegen ihn wurde nicht nur im Zusammenhang radikal ermittelt, sondern auch wegen eines Anschlags auf das Bremer FDP-Büro kurz vor der hier stattgefundenen zentralen nationalistischen Einheitsfeier am 3. Oktober 1994, wozu sich später die AIZ bekannt hatten. Daß dieses Ermittlungsverfahren Mitte November diesen Jahres eingestellt wurde, war ein wesentlicher Grund für ihn, jetzt zurückzukommen. (Warum, ist allerdings unklar, da seinem Anwalt bisher keine Akteneinsicht gewährt wurde.) Weitere Gründe waren u.a., daß das Verfahren wg. radikal inzwischen "tiefer gehängt" wurde: Die Bundesanwaltschaft hat die Anklage an die Oberstaatsanwaltschaften Koblenz (für die vier am 13.6.95 Festgenommenen) bzw. Düsseldorf (für die am 13.6.96 Wiederaufgetauchten und eine weitere Frau) delegiert - es finden also wohl ab Frühjahr 1997 zwei Verfahren zum gleichen Komplex statt. Damit ist auch klar, daß die zu erwartetende Strafe deutlich niedriger ausfällt dürfte als zunächst zu erwarten war: "Es ist ein Unterschied, fünf, zehn oder 15 Jahre eingeknastet zu werden oder eben mit einem halben Jahr zu rechnen, was schon lang genug ist." (4)

Die letzten eineinhalb Jahre hatte Matthes, wie er auf einer Pressekonferenz erzählte, in den Niederlanden gelebt, dort "ein ganz normales Leben geführt, Sport getrieben, mich vergnügt, Freunde gefunden und vieles andere mehr. Ich war überzeugt, daß ich die Zeit in Holland sinnvoller nutzen kann als mich mit den hiesigen Behörden auseinanderzusetzen. Dies ist mir gelungen." Die "gesellschaftliche Atmosphäre" in den Niederlanden unterscheide sich im großen und ganzen nicht von der in Deutschland. Ein Unterschied bestehe aber darin, daß soziale Bewegungen als Ansprechpartnerinnen akzeptiert würden. Dies werde auch in der Berichterstattung z.B. über politische Kampagnen wie der gegen die Erweiterung des Amsterdamer Flughafens Schiphol, über Faschisten oder die Durchsuchung bei der linken Zeitschrift Ravage deutlich.

Dort hatte ein ähnlicher Kriminalisierungsversuch wie gegen die radikal stattgefunden, nachdem die Ravage eine Erklärung der Earth Liberation Front (ELF) im Zusammenhang mit einem Anschlag auf ein Bürogebäude der BASF in Arnheim abgedruckt hatte. Die Büroräume der Ravage waren von der Polizei durchsucht worden. Zwar wurde das gesuchte Schreiben nicht gefunden, dafür aber Adressenbestände, Computer etc. mitgenommen worden. Ganz anders aber die Reaktion der holländischen Öffentlichkeit: Tageszeitungen, mit Ausnahme des Telegraphs, dem dortigen Pendant der hiesigen Bild, brachten kritische Artikel und Kommentare über die Razzia. Einige forderten auch die Rückgabe der beschlagnahmten Computer, Adressen und anderer Redaktionsunterlagen. Wochen später wurden diese zurückgegeben, im Nachhinein erfolgte ein gerichtliches Verbot, daß die Ermittlungsbehörden die Adressenbestände weiterhin aufbewahren. In der BRD hatte sich nach dem 13.6.95 außerhalb der autonomen und feministischen Szenen kaum Protest geregt.


"Erhebliche Turbulenzen"

Zu der o.g. Pressekonferenz in den Räumen der Angestelltenkammer (Buchtstraße/Ecke Bürgerstraße) hatten Matthes mehr als 100 FreundInnen und GenossInnen in einer Demonstration begleitet. Kurz zuvor wäre deren Zustandekommen fast gescheitert: Eine unbekannte Polizeidienststelle, vermutlich der Staatsschutz, hatte der Angestelltenkammer telefonisch mitgeteilt, daß mit "erheblichen Turbulenzen" zu rechnen sei. Deren Geschäftsführung bekam daraufhin kalte Füße und war nahe dran, den angemieteten Raum zu kündigen. Erst nach dem - etwas faulen - "Kompromiß", daß die VeranstalterInnen das aufgehängte Transparent wieder entfernen und die Pressekonferenz als "geschlossene Veranstaltung" deklarieren, d.h. keine anderen Personen als JournalistInnen einlassen, konnte der Termin wie geplant stattfinden.

Auf der Pressekonferenz kamen - neben Matthes - Werner K., ebenfalls Hauptbeschuldigter im sog. radikal-Verfahren, der in einem längeren Beitrag die Kriminalisierung in die politischen Zusammenhänge einordnete, und Rechtsanwalt Albert Timmer zu Wort. Letzterer bezweifelte die Rechtmäßigkeit der Anklage, schließlich handele es sich bei der radikal um ein Erzeugnis, das nach dem Pressegesetz zu beurteilen sei - und hier gelten Verjährungsfristen von einem halben Jahr. Weiterhin würde eine Verurteilung der linksradikalen Zeitschrift als krimineller Vereinigung fast notwenigerweise Verfahren auch gegen Frauen und Männern, die nicht der Mitarbeit in der Redaktion o.ä. verdächtigt würden, nach sich ziehen: Massenhaft Prozesse wegen "Unterstützung einer kriminellen Vereinigung" nicht nur gegen VerteilerInnen der radikal, sondern vielleicht auch gegen die Soliszene?

Willy Leow



Anmerkungen:

(1) S.: "Polizei, Hausdurchsuchung ...!", in: kassiber 26, Juli 1995, S. 42ff; Wild Women, Eine vorläufige Bilanz, in: kassiber 27, Oktober 1995, S. 51f; Willi Leow, Wieder "fast durchgängig strafbarer Inhalt", in: kassiber 29, September 1996, S. 23ff.
(2) S.: Arbeitsgruppe der bundesweiten Treffen zu den laufenden Verfahren, Es gibt viel zu tun. Jetzt erst recht!, in: kassiber 28, Februar 1996, S. 44.
(3) S.: Willi Leow, Wieder "fast durchgängig strafbarer Inhalt", in: kassiber 29, September 1996, S. 23ff.
(4) Diese Überlegung hatte auch bei den drei am 13.6.96 Wiederaufgetauchten eine wichtige Rolle gespielt: s. das Interview mit Jutta W., "Auch das Abtauchen hat 'ne Perspektive und die ist keine schlechte", in: kassiber 29, September 1996, S. 29ff.


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Last Updated: Friday, 29. November 1996