Hozat, Karayılan und Bayık im Gespräch mit der ANF

BEHDİNAN - Die beiden neuen Kovorsitzenden des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) Bese Hozat und Cemil Bayık sowie der ehemalige KCK-Exekutivratsvorsitzende und jetzige Oberkommandierende der kurdischen Volksverteidigungskräfte (HPG) Murat Karayılan sprachen nach der 9. außerordentlichen Generalversammlung des Kongra-Gel mit der Nachrichtenagentur Firat (ANF). Auch auf der Generalversammlung war der demokratische Lösungsprozess das wichtigste Thema. Im Interview erklärte Karayılan, dass vor allem die kommende Woche von großer Bedeutung sein werde. „Mit der aktuellen Haltung der Regierung wird der Prozess nicht weit kommen. Zwar ist der Prozess noch nicht ins stoppen gekommen. Aber er droht zu stoppen“, so Karayılan.
Im Folgenden geben wir eine gekürzte Form des Interviews wieder:

Sie haben in den Meder-Verteidigungsgebieten, in den Bergen Kurdistans, unter schweren Bedingungen die Generalversammlung des Kongra-Gel abgehalten. In was für einer Atmosphäre verlief die Generalversammlung?
Bese Hozat: Wir hielten unsere 9. Generalversammlung in einer historischen Phase ab. (…) Es gab tiefgreifende Diskussionen in unseren Reihen über den Mittleren Osten, die kurdische Frage und den aktuellen Prozess. Auch wurde die Umsetzung unseres Systems in den vier Teilen Kurdistan sehr umfangreich diskutiert. Wie soll unser System aussehen, wie soll es aufgebaut werden und wie soll es sich organisieren? Das waren Fragen, die wir diskutiert haben. Natürlich haben wir auch die bisherigen Schwierigkeiten und Hindernisse beim Aufbau des Systems diskutiert und darauf aufbauend neue Konzepte und Projekte versucht zu entwickeln, um diese Schwierigkeiten zu überwinden.
Der von unserem Vorsitzenden [Apo] initiierte demokratische Lösungsprozess wurde selbstverständlich in all seiner Breite diskutiert. Wir haben in ausführlicher Weise unsere Planung und Projekte für diesen Prozess diskutiert. Wir haben die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Dimensionen und Implikationen für den Lösungsprozess besprochen und für all diese Bereiche wichtige Beschlüsse gefasst. Auch haben wir über die Gesundheit und Freiheit unseres Vorsitzenden diskutiert und Entscheidungen hinsichtlich unserer Haltung hierzu getroffen. (…)

Herr Karayılan, Sie waren fast neun Jahre Exekutivratsvorsitzender der KCK. Können Sie uns mitteilen, inwieweit sich diese Generalversammlung von den bisherigen unterschieden hat?
Murat Karayılan: Zunächst einmal möchte ich sagen, dass die Entscheidungen, die wir auf der 9. Generalversammlung des Kongra-Gel beschlossen haben, von großer Bedeutung sind. Ich glaube daran, dass mit diesen Entscheidungen der Grundstein für die Freiheit unseres Volkes und unseres Vorsitzenden gelegt worden sind. (…)
Um auf die Unterschiede zu kommen: Unser Vorsitzender Apo hat ein neues System entwickelt. Die Generalversammlung des Kongra-Gel hat sich auf Grundlage dieser Perspektiven zusammengefunden. Und wir haben tatsächlich unserem System Neuerungen hinzugefügt. Wir haben Abdullah Öcalan erneut zum KCK-Vorsitzenden gewählt. Zudem haben wir als Neuerung einen sechsköpfigen Präsidialrat gewählt, der dem Vorsitzenden beistehen soll. Eine weitere wichtige Neuerung ist, dass wir nun das Kovorsitzenden-System auch für den Exekutivratsvorsitz eingeführt haben. In diesem Rahmen sind unsere beiden Freunde Bese Hozat und Cemil Bayık für diese Aufgabenbereiche gewählt worden. (…)
Ich habe vor dieser Generalversammlung knapp neun Jahre die Aufgabe des Exekutivratsvorsitzes geführt. Aber bei uns gibt es keinem Kampf um Posten und Positionen. Es heißt also nicht, dass, wenn du eine Aufgabe innehast, du diese auch bis in alle Ewigkeit weiterführen wirst. Gemäß dem Charakter unserer demokratischen Organisierung sind Veränderungen in den Aufgabenbereichen mehr als natürlich. In diesem Sinne wünsche ich unseren neuen Kovorsitzenden viel Erfolg bei ihrer neuen Aufgabe. Und ich werde mein Bestes geben, um meiner Verantwortung in meinem neuen Aufgabenbereich gerecht zu werden. (…)

Sie haben betont, dass in der Generalversammlung wichtige Beschlüsse gefasst worden sind. Doch wie wird das KCK in der Gesellschaft Fuß fassen? Hat die Bevölkerung dieses System genügend verstanden?
Cemil Bayık: Dieses System ist nicht allein für die kurdische Bevölkerung gedacht. Das System unseres Vorsitzenden ist für alle Völker gedacht. Das zu verstehen ist wichtig. (…) Unser Vorsitzender Apo hat dieses System anhand der Lehren aus der Menschheitsgeschichte entwickelt. Wir entwickeln dieses System jedes Mal weiter, wenn wir die Unzulänglichkeiten in der Praxis erkennen. Ich meine, es gibt noch nicht so viel praktische Erfahrung mit dem System. Es handelt sich um ein neues Gesellschaftsmodell für die Menschheit. Die Unzulänglichkeiten werden erst durch die Umsetzung des Systems ersichtlich. Aus diesem Grund haben wir die Veränderungen mit dieser Generalversammlung eingeleitet. Das KCK-System organisiert sich auf vier Standbeinen. Das erste Standbein ist der Kongra-Gel, also der Rat. Das zweite Standbein sind die kommunalen Rätestrukturen und die Kommunen. Das dritte Standbein sind die Akademien des Systems. Und das vierte Standbein die Kooperativen.

Welche Beschlüsse hat der Kongra-Gel für die vor uns liegende Zeit getroffen?
Murat Karayılan: Die wichtigsten Beschlüsse der Generalversammlung haben mit dem gegenwärtigen Prozess zu tun. Dieser Prozess hat mit dem Aufruf unseres Vorsitzenden am Newrozfest begonnen und mit dem Beginn des Rückzugs unserer bewaffneten Kräfte weiter Form angenommen. Der Kongra-Gel hat dem Rückzug zugestimmt und für die Fortsetzung des Prozesses gestimmt. Das ist sehr wichtig, weil es unter Beweis stellt, dass unsere Bewegung den Prozess als strategisches Ziel betrachtet. Der Kongra-Gel hat den Präsidialrat damit beauftragt, den Prozess kritisch zu verfolgen. Der Präsidialrat hat nun die Aufgabe, auf jede Entwicklung im Prozess zu reagieren und dementsprechende Entscheidungen zu treffen. (…)

Sie erklären, dass die erste Stufe des Lösungsprozesses abgeschlossen ist. Wie weit ist die zweite Stufe des Lösungsprozesses? Erfüllen die Seiten ihre Aufgaben?
Diese Frage ist wichtig. Wir befinden uns auf einer wichtigen Etappe des Prozesses und unsere Seite hat hierbei ihre Aufgaben erfüllt. Der türkische Ministerpräsident sagt, dass 15% der Guerillakräfte sich zurückgezogen hätten. Deshalb will er nicht mit den Schritten der zweiten Stufe des Prozesses beginnen. Wir haben allerdings einen Waffenstillstand erklärt und der Rückzug geht auch weiter. Das ist mehr als Beweis genug, wie ernst wir es meinen.
Nun gibt es dringende Schritte, die der Staat tun muss. Der Prozess wurde von unserem Vorsitzenden eingeleitet, aber er befindet sich weiterhin unter Isolationsbedingungen. Seine Anwälte können nicht zu ihm. Noch wichtiger ist, dass er zurzeit ernsthafte gesundheitliche Probleme hat. Eine unabhängige Ärztegruppe muss die Möglichkeit erhalten, nach Imrali zu reisen, um unseren Vorsitzenden Apo zu untersuchen. Auf der anderen Seite ist es für die Fortführung des Prozesses wichtig, dass Delegationen unseren Vorsitzenden besuchen und mit ihm diskutieren können. Er muss also mit der Außenwelt kommunizieren können. Und natürlich braucht er auch Unterstützer, die ihm bei den Verhandlungen behilflich sind. Nur so können Friedensverhandlungen geführt werden, die halbwegs auf Augenhöhe stattfinden. Wenn der türkische Staat wirklich die Kurdinnen und Kurden anerkennen will, wenn er die kurdische Frage lösen will, dann muss er auf diesen Gebieten etwas tun.
Dann gibt es eine Vielzahl an anti-kurdischen Gesetzen, wie die sogenannten „Anti-Terror Gesetze“. Mit diesen Gesetzen soll den Kurden die Möglichkeit genommen werden, Politik zu betreiben. Wegen diesen Gesetzen befinden sich kurdischen Politiker hinter Gittern. Der türkische Ministerpräsident hat selbst gesagt, dass die Waffen schweigen und die Gedanken sprechen sollen. Okay, der Krieg wurde gestoppt. Aber die kurdischen Politiker sitzen immer noch hinter Gittern. Was bedeutet das? Das sind Widersprüche, für die allein die türkische Regierung verantwortlich ist. Ihr ist es nicht gelungen, Schritte zu tun. Genauso bei der Frage der kranken Gefangenen. Diese hätten schon längst aus der Haft entlassen werden müssen. Aber es gibt nur vereinzelte Entlassungen.
Seit Beginn dieses Jahres, tun wir alles, was in unserer Hand steht. Vor allem seit dem Newrozfest haben wir viele Schritte getan. Aber von Seiten der AKP sehen wir kaum etwas im Sinne einer Lösung. Im Gegenteil, sie bauen neue Militärstationen auf. Es werden neue Dorfschützer engagiert. Und zusätzlich werden sogenannte Sicherheitsstaudämme mit Wasser gefüllt, die nicht für die Energieversorgung sondern allein für die Begrenzung des Bewegungsspielraums der Guerilla gedacht sind. Die türkische Regierung verhält sich opportunistisch und das löst bei uns Bedenken aus.
(...) Wenn die AKP-Regierung in den kommenden Tagen keine Schritte macht, wird der Prozess ins Stocken geraten. Aber nicht wir, sondern sie werden behindern den Prozess. Wir haben die auf uns fallenden Aufgaben alle erfüllt, und zuletzt haben wir auch auf strategischer Ebene in der Kongra-Gel-Generalversammlung dies entschlossen gezeigt. Doch der türkische hat bis heute keine offizielle Entscheidung veröffentlicht. Es wird nur gesagt „die Guerillakräfte sollen sich hinter die Grenze zurückziehen, danach werden wir Schritte einleiten“. So kann das nicht weitergehen, die zweite Etappe hat begonnen und sie müssen nun ihre Aufgaben für den Prozess erfüllen. Alle sollten wissen, dass wir den türkischen Staat nicht bedürfen; wenn wir sagen, er soll Schritte einleiten, ist das für eine Einigung und den Frieden. Das kann nicht einseitig gehen. Einerseits kann der Prozess nicht fortschreiten. Diesen Prozess hat unser Vorsitzende ganz alleine bis heute gebracht, doch nun ist er krank und er benötigt eine Behandlung. Auf der anderen Seite braucht unserer Vorsitzende Kontakt nach außen.
Die Gefängnisse sind voll mit kurdischen PolitikerInnen. Das alles beeinflusst den Prozess. Jeder sollte wissen die kommende Woche ist sehr sehr wichtig. Wenn der türkische Staat mit seiner jetzigen Haltung weitermacht, wird der Prozess stoppen. Noch ist dies nicht passiert, doch es steht kurz bevor. In Licê haben wir gesehen, dass unser Volk angegriffen wurde; unser Volk wird stark Unterdrückt. Kurz gesagt, gibt es in dieser ungewissen Politik der AKP mit dem Angriff auf unser Volk und den Gezi-Park eine große Intoleranz; diese Politik kann den Prozess stoppen oder stoppt ihn sogar. Wir erwarten in kürzester Zeit Schritte, die uns überzeugen; wenn diese Schritte nicht erfolgen, werden sie den Prozess stoppen. Das wird ihre Verantwortung sein.

Welche Aufgabe fällt auf die Bevölkerung und die demokratischen Kreise, damit der Prozess weiter gehen kann?
Cemil Bayik: Der türkische Staat und die Regierung sind diejenigen, die den Prozess zum Stocken bringen. Wir wollen nicht, dass der Prozess abbricht und auch die demokratischen Kräfte sind für ein Fortlaufen des Prozesses. Alle sagen sogar: Schaut die Kurden und die Freiheitsbewegung haben die notwenigen Schritte getan. Diejenigen die Schritte tun müssen, sind die Regierung und der Staat. Bis heute haben sie keinen Schritt gemacht. Alle warten auf Schritte des Staates und der Regierung. Das ist die Realität. Genau hier müssen die demokratischen Kräfte in Kurdistan und der Türkei, sowie im Ausland einwirken, Sie müssen den Staat und die Regierung dazu auffordern, Schritte zu tätigen. Sie dürfen nicht nur darauf warten, sondern auch Kampagnen durchführen. Es wird nicht nur die Lösung der kurdischen Frage bedeuten sondern die Türkei demokratisieren und eine Veränderung für den Mittleren Osten bedeuten. Dies wird für alle eine Grundlage des Vertrauens schaffen und alle bekommen daraus Vorteile.

Es gab in der Generalversammlung auch Entscheidungen bezüglich der Freiheit der kurdischen Führungspersönlichkeit Öcalan. Können sie darauf näher eingehen?
Bese Hozat: Bevor unser Vorsitzender nicht frei ist, kann die kurdische Frage nicht gelöst werden. (...) Daher braucht unser Vorsitzende Kontakt mit der Außenwelt, damit er seine Rolle in diesem Prozess gerecht werden kann. Unser Vorsitzender hat auch gesundheitliche Probleme. Die Insel Imrali ist ein feuchter Ort. Für die Gesundheit ist es ein schlechter Ort. Die Unterschriftenkampagne für unseren Vorsitzenden muss ausgeweitet werden. Zudem müssen die Bedingungen des Vorsitzenden geändert werden; der Widerstand dafür muss an jedem Ort geführt werden. Diejenigen, die nicht nur an der Seite der Kurden sondern an der der Freiheit stehen, müssen sich dem anschließen.(...)

Wie hat die Generalversammlung die Pariser Morde bewertet?
Bese Hozat: Das Komplott gegen unsere drei Freundinnen in Paris wurde gegen den Prozess durchgeführt. Frankreich kennt die Verantwortlichen, macht dies aber nicht öffentlich. Auch die USA und Europa sind darin involviert. Der Widerstand der Kurden in Kurdistan und Europa dauert an. Dagegen wird der politische und diplomatische Kampf weitergeführt. Auf dieser Grundlage muss man Druck auf den französischen Staat ausführen.

Quelle: ANF, 11.07.2013, ISKU

ISKU | Informationsstelle Kurdistan