Wie viele Kurden müssen sterben, damit es reicht

Koray Çalışkan – Radikal 23.10.12

Wir bewegen uns auf eine Demokratie zu, die als fortschrittlichste aller Zeiten gepriesen wird, in der jedoch gleichzeitig ein Abgeordneter in einen Hungerstreik tritt und „Allah bewahre“, stirbt. Heute ist der 42.Tag. In 58 Gefängnissen finden Hungerstreiks und Todesfasten statt, die sich rasant ausbreiten. Die Untersuchungs- und Strafgefangenen aus den PKK- und KCK-Verfahren fordern zwei Dinge:
1) Gesprächstermine des ebenfalls inhaftierten Abdullah Öcalans mit seinen Verwandten und RechtsanwältInnen.
2) Ihre Verteidigung vor Gericht in ihrer Muttersprache.
Es gibt zu den Hungerstreiks zwei ähnliche Reaktionen: Die, die sich auch nur einen Hauch links einordnen, sagen: „Man sucht sein Recht nicht auf diese Weise! Sie haben es selbst zu verantworten!“ Und die Rechten sagen: „Wir leben in einer Welt, in der jeder sich selbst der nächste ist. Sollen sie doch sterben, es ist ihre eigene Wahl!“ Diesen Rechten und Möchtegern-Linken kann ich nur einen „Guten Appetit“ wünschen. Wenn sie heute ihr Essen verspeisen und sich das Fett von den Mundwinkeln abwischen, halten sie vielleicht inne und erinnern sich daran, dass das Gewissen etwas anderes ist als gefüllte Weinblätter.
Hungerstreiks sind nicht neu. 1996 wurde gegen die Einführung der F-Typ Gefängnisse [Geschlossene Typ-F-Hochsicherheitsstrafvollzugsanstalt mit Einzelzellensystem nach dem Vorbild der europäischen Hochsicherheitsgefängnisse), die Menschen entmenschlichen, ein Hungerstreiks und Todesfasten geführt. Die Regierung trat am 69.Tag von ihrem Vorhaben zurück, da sie in der Öffentlichkeit keinen ausreichenden Rückhalt fand. Das F-Typ Projekt wurde verschoben. Das Todesfasten und der Streik wurden beendet. Aber zwölf Inhaftierte starben, Hunderte erlitten unheilbare gesundheitliche Schäden.
Es vergingen vier Jahre. Im Jahr 2000 wurde das F-Typ-Projekt erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Die Gefangenen waren entschlossen, Widerstand zu leisten. Die Regierung teilte mit, dass sie nicht weichen werde. Aber die Öffentlichkeit stand unterstützend hinter den Hungerstreikenden und Todesfastenden. Am 51. Tag der Aktion erklärte der Justizminister, dass das Projekt F-Typ verschoben worden sei. Aber das Projekt war damit nicht aufgehoben. Nachdem die Öffentlichkeit zur Ruhe gekommen war, wurde eine skandalöse Gefängnisoperation unter dem Motto „Zurück zum Leben“ durchgeführt. Militär und Polizei griffen 20 Gefängnisse an und schlugen vier Tage lang alles kurz und klein. 32 Menschen wurden getötet und 200 Menschen schwer verletzt. 1000 Gefangene wurden mit Gewalt in die F-Typ-Gefängnisse verlegt. Das Todesfasten wurde weitergeführt. Bei diesem weltweit größten und tragischsten Todesfasten verloren 122 Menschen ihr Leben. 500 Menschen verloren unwiederbringlich ihre körperliche oder geistige Gesundheit.
Über diese schmerzvolle Zeit ist ein Film gedreht worden. Er wird ab dem 30. November in die Kinos kommen und heißt „Simurg“. Sogar der Trailer lässt den Atem stocken. Dass Menschen für die Menschenrechte dem Tod ins Auge schauen, sich in ein Kind zurückverwandeln oder dafür sterben, bewegt einen Menschen tief. Schauen Sie es sich auch einmal an, dann werden Sie verstehen, was ich damit sagen will: (http://www.youtube.com/watch?v=mJAL1YbZLys)
Wenn nicht sofort etwas geschieht, dann werden Hunderte junger Menschen ihr Leben verlieren. Ihre Forderungen sind legitim. Es sind keine Dinge, die nicht erfüllt werden könnten.
Statt zu fragen, „Warum werden die Forderungen nicht erfüllt?“, schimpfen wir: „Warum machen sie diese Aktion?“ Das sollten wir lassen.
Statt diejenigen zu beschuldigen, die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen in den Hungerstreik treten, zeigen wir unsere Unmenschlichkeit, indem wir sagen: „Meine Güte, für die Verteidigung in seiner Muttersprache bringt man doch nicht sein Leben in Gefahr.“
Das einzig Richtige, damit der Hungerstreik und das Todesfasten sich nicht noch weiter ausbreiten, bevor es Tote gibt, bevor unwiederbringliche gesundheitliche Schäden entstehen, ist sofort und schnellstens die Isolation zu beenden und die Verteidigung in der Muttersprache zuzulassen.
Was ist das für eine Denkweise, jemanden zu isolieren, über den der Ministerpräsident sagt: „Gespräche werden aufgenommen werden.“ Welches Gewissen wird nicht davon berührt, wenn ein Mensch sich nicht in seiner Muttersprache verteidigen kann, wenn er gezwungen wird, türkisch zu sprechen und ihm kein Dolmetscher zugesprochen wird?
Es gibt unter den Gefangenen, die an der jetzigen Aktion teilnehmen, auch einen Abgeordneten. Wegen seines Alters wird er noch schneller gesundheitliche Probleme bekommen. Wir bewegen uns mit rasanter Geschwindigkeit von einer „fortschrittlichen Demokratie“, bei der acht Abgeordnete in den Knast gesteckt werden, auf „die fortschrittlichste Demokratie“ zu, bei der ein Abgeordneter in den Hungerstreik tritt und – Allah bewahre – stirbt. Wie viele gefangene Kurdinnen und Kurden müssen sterben, damit wir aufwachen? Sagt uns diese Zahl, damit ihr eure Ruhe habt.

ISKU | Informationsstelle Kurdistan