Schwere Repressionen in Kurdistan und der Türkei

Während der türkische Staat den Krieg militärisch mit Angriffen auf die Zivilbevölkerung von kurdischen Städten sowohl auf türkischem Staatsgebiet, wie Şemzinan (Şemdinli), wie auch auf föderalem kurdischen Gebiet , den Krieg eskaliert, greift er die kurdische Zivilgesellschaft auch mit polizeilichen Mitteln, also Festnahmen, Tränengas, Wasserwerfern und Knüppeln an. In der kurdischen Stadt Şirnex (Şırnak) wurden am 16.09.11 über 50 AktivistInnen der linken, prokurdischen BDP bei mit massiver Polizeigewalt durchgeführten Razzien festgenommen. Tags zuvor wurden bei Razzien in der kurdischen Kleinstadt Şemzinan 15 Personen aus der regionalen BDP-Leitung ebenfalls festgenommen und sollen nun inhaftiert werden.

POLIZEIANGRIFF AUF FRIEDENSDEMONSTRATION IN ISTANBUL BEYOGLU
Am 18.09.11. wurde eine Kundgebung für den Frieden und gegen die seit 5 Wochen andauernde Totalisolation von Abdullah Öcalan in der Nähe des Istanbuler Taksimplatzes von der türkischen Polizei mit Tränengasgranaten, Wasserwerfern und Schlagstöcken angegriffen. Mindestens 140 Personen wurden festgenommen. Unter den Festgenommenen befinden sich mehrere BDP-Kreisvorsitzende und Mitglieder des Frauenrats.
Erneut wurde von der Polizei die kurdische Parlamentsabgeordnete Sebahat Tuncel angegriffen und musste verletzt ins Krankenhaus gebracht werden.

ŞEMZINAN: ERST MILITÄRISCHER ANGRIFF AUF DIE STADT DANN FESTNAHMEOPERATION
In der Nacht vom 11. auf den 12. September eröffneten türkische Soldaten das Feuer aus schweren Waffen auf Zivilbevölkerung, Häuser, Autos und Vieh der Bevölkerung und töteten dabei vier Zivilisten, darunter einen 14-jährigen Jungen. Nachdem die Region von etlichen Delegationen besucht worden war, welche die Aussagen der Bevölkerung bestätigten, kam es zu einem weiteren Angriff auf zivilgesellschaftliche Strukturen in Şemzinan: In der Nacht zum 16. September führten auch hier Spezialeinheiten etliche Razzien durch und nahmen 15 kurdische AktivistInnen fest, darunter Personen aus der regionalen BDP-Führung, unter Ihnen auch der der stellvertretende Bürgermeister Naif Yalcın. Die Wohnungen wurden während der Razzien verwüstet und die Angehörigen wurden von Spezialeinsatzkommandos, die ihnen Waffen an den Kopf hielten, bedroht und beleidigt. Die Tochter des ebenfalls Festgenommenen Ayhan Çağdaş, Lora Bejin Çağdaş berichtet: „Schaut euch den Zustand unserer Wohnung an, die Polizisten haben die Bücher und Hefte, die Vater für mich gekauft hat und seine Bücher zerrissen. Die Polizisten hielten mir eine Waffe an den Kopf. Sie beleidigten meinen Vater pausenlos. Ich glaubte in diesem Moment, dass sie uns jetzt umbringen würden.“
Die Ehefrau des Inhaftierten Kreisratsmitglieds Mirpenç Uysal, Havva Uysal berichtete: „Um 4 Uhr morgens, als unsere Kinder und wir schliefen, führten die Polizisten eine Razzia durch. Zunächst zerschlugen die Polizisten alle Fenster am Eingang und drangen so in unser Haus ein. Die Spezialeinheit, die Polizei und das Militär ergriffen erst meinen Ehemann, der auf dem Sofa schlief. Vermummte Polizisten schrien, ´Aufstehen, Hände an die Wand!´ In dem Moment wachten auch die Kinder auf. Die Kinder weinten vor Angst. Sie ließen mich nicht zu den Kindern und beschimpften mich. Mein Ehemann hat Fotos von dem Co-Vorsitzenden des DTK, Ahmet Türk, und dem Co-Vorsitzenden der BDP, Selahattin Demirtaş, an der Wand hängen. Als sie dies sahen, steigerten sie noch ihre Beleidigungen. Als die Polizisten auf der Zeitung Azadiya Welat und Özgür Gündem das Porträt des Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, sahen, begannen sie uns anzugreifen. Sie zerrissen die Zeitung in Stücke und warfen sie in die Fetzen meinem Mann ins Gesicht. Sie schrien: `Warum lest ihr das, gibt’s keine andere Zeitung?´ Drei Stunden später nahmen sie meinen Mann mit.“
Auch in die Wohnung des ehemaligen Bürgermeisters vom Şemzinan, Hurşit Tekin, drangen die Polizisten ein. Nachdem sie auch hier die Tür eingeschlagen hatten, misshandelten sie die anwesende Familie und drohten ihnen weitere Gewalt an, sollten sie nicht seinen Aufenthaltsort verraten.
Die Festgenommen wurden mittlerweile nach Colemêrg (Hakkari) gebracht, um dort über einen Haftbefehl zu entscheiden.

RAZZIEN IN ŞIRNEX – 41 AKTIVISTiNNEN FESTGENOMMEN
In der Nacht zum 17.09. führte die Polizei und Spezialeinheiten Dutzende Razzien in der kurdischen Stadt Şırnex und Cizire (Cizre)in Privatwohnungen von Mitgliedern und in Gebäuden der BDP durch. Dabei wurden mindestens 41 Personen festgenommen. Unter Ihnen sind auch hier AktivistInnen der kurdischen Frauenbewegung und kurdische RegionalpolitkerInnen.
Gegen 2 Uhr morgens stürmten Spezialeinheiten und Hunderte Polizisten die Wohnungen von Personen aus der BDP-Leitung, und Stadtratsmitgliedern, GewerkschafterInnen, Mitgliedern von Strukturen der regionalen Selbstverwaltung. U.a. wurden mehrere Frauen aus der Frauenbewegung DÖKH auf dem Weg zu einer Demonstration in Ankara festgenommen.

MASSIVE PROTESTE IN ŞIRNEX UND CIZIRE – JUGENDLICHER DURCH GASGRANATE SCHWER VERLETZT
Zehntausende nahmen am 18.09. an Protestkundgebungen gegen die Repressionen teil. Auf einer Kundgebung in Şirnex erklärte der BDP-Kreisvorsitzende: „Bis unsere Freunde freigelassen werden, wird die Bevölkerung von Botan auf allen Ebenen Widerstand leisten. Wir begehen die gleiche Strafttaten wie die Inhaftierten und werden damit weitermachen.“
Die Co-Vositzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses DTK, Aysel Tuğluk, erklärte: „Während wir von Geschwisterlichkeit, Frieden und Zusammenleben sprechen, wird gegen unser Volk ein Krieg begonnen. Diese Verleugnungspolitik wird bis zur letzten Konsequenz des Faschismus fortgesetzt. Diejenige, die diese faschistischen Politikformen praktiziert, ist die regierende AKP.“
In Cizire und Şırnex wurden die DemonstrantInnen von der Polizei mit Wasserwerfern und Gasgranaten angegriffen. Die Jugendlichen verteidigten die Wohnviertel bis in die späten Abendstunden mit Molotowcocktails, Feuerwerkskörpern und Steinen. Auch in Silopi, in der Nähe von Şırnex, kam es am 18.09.11 zu Protesten gegen die Repression. Nach einem Polizeiangriff auf die Protestestdemonstration kam es zu heftigen Straßenkämpfen. Eine Gasgranate traf den 17-jährigen E. K. am Kopf und verletzte ihn schwer. Aufgrund schwerer Hirnblutungen wurde er ins Krankenhaus in Wan gebracht.

FAZIT – TEIL DER ESKALATIONSPOLITIK DES TÜRKISCHEN STAATES
Die polizeilichen Operationen, die unter dem Zeichen einer KCK-Antiterroraktion durchgeführt worden sind, stellen einen weiteren Schritt der türkischen Regierung in Richtung Krieg dar. Premierminister Erdoğan hatte zuvor gegenüber der kurdische Freiheitsbewegung gedroht: „Sie sollen nicht wie früher von uns Wohlwollen und Verständnis erwarten.“ Es ist zu beobachten, dass großangelegten Operationen, Angriffen und Menschenrechtsverletzungen immer wieder Drohungen von Erdoğan vorrausgegangen sind. So erklärte er 2006, als vierzehn vor allem Jugendliche bei Protesten in Amed erschossen worden waren: „Seien es Frauen, seien es Kinder, die Sicherheitskräfte werden die Notwendigen Maßnahmen ergreifen.“

QUELLEN: ANF, DIHA, HABERDIYARBAKIR, RojTV, Şemdinlihaber, Yüksekovahaber, Hakkarihabertv, 18.09.2011

ISKU | Informationsstelle Kurdistan