Intellektuelle:
„Wir sitzen alle im selben Boot“
38 Intellektuelle,
darunter Schriftsteller, Akademiker, Juristen sowie Aktivisten der Frauen-
und Menschenrechtsbewegungen haben eine Deklaration unter der Überschrift
„Wir sitzen alle im selben Boot“ veröffentlicht, in der eine Lösung der
kurdischen Frage gefordert wird. Die Deklaration ist aus einem runden
Tisch hervorgegangen, der Anfang Juni in Istanbul stattgefunden hat und
thematisiert Problemfelder wie kurdischsprachigen Unterricht, Flucht und
Migration, Ehrenmorde und Multikultur.
„Bestimmte Ecken dieses
Landes sind nicht weniger wertvoll als andere. Wenn in einer anderen Ecke
der Türkei ein Leid herrscht, dann geht auch mich das etwas an“ heißt
es in der Deklaration. „Wir sitzen alle im selben Boot, Frauen, Männer,
Kurden, Türken, Aleviten, Migranten, Arbeitslose, Jugendliche mit Zukunftsangst,
Menschen in den Vorstädten, die sich um ein würdiges Leben bemühen, Minderheiten,
Gewaltopfer und solche, die unbewusst die Gewalt schüren… Wir sind Reisende
auf dem gleichen Weg, Weggefährten… Gleichgültig, ob uns das bewusst ist
oder nicht.
Wir wollen keine polarisierte
Türkei, die in Kategorien wie kemalistisch – religiös, Türken – Kurden
unterteilt ist. Wir weigern uns, Teil einer solchen Polarisierung zu sein.
Wir verteidigen jede Art von Farbe und Zwischentönen, Brücken und Synthesen…“
Weiter wird darauf
verwiesen, dass bewaffnete Gewalt keine Lösung für die bestehenden Probleme
darstellen kann, die nationalistischen Reflexe gebrochen werden müssen,
die kurdische Frage nicht nur aus einer Dimension besteht und eine dauerhafte
Lösung nicht von außen, sondern innerhalb der Türkei gelöst werden müsse.
Als Lösungsvorschläge
präsentieren die 38 Unterzeichner folgende:
- In der Suche nach
einer Lösung der kurdischen Frage erkennen wir politische, rechtliche,
wirtschaftliche, kulturelle und internationale Dimensionen. Einhergehend
mit der Einbeziehung dieser Dimensionen schlagen wir vor, die Bedeutung
der menschlichen Dimension zu begreifen und in den Vordergrund zu stellen.
- Damit sich Gewalt
und Terror in unserem Land nicht ständig wiederholen, schlagen wir vor,
dass eingesehen wird, dass mit Waffen keine Politik gemacht und der
Kampf um Rechte nicht über Drohungen und Gewalt zum schweigen gebracht
werden kann.
- Wir schlagen
vor, die Angelegenheit nicht auf der Basis von „Treue und Verrat“ zu
betrachten und den nationalistischen Reflex zu brechen, mit dem jeder
kritische Gedanke als potentieller Verrat belegt wird.
- Um eine „Gesellschaft“
sein zu können und in dieser Gesellschaft friedlich miteinander leben
zu können, schlagen wir vor, die Wichtigkeit anzuerkennen, unsere Schmerzen
gegenseitig zu achten und unsere Trauer zu teilen.
- Um begreiflich
zu machen, dass eine bleibende Lösung nicht von außerhalb der Türkei
kommen kann, sondern direkt von uns selbst kommen muss, und dass eine
solche nicht militärisch sein kann, sondern zivil sein muss, schlagen
wir vor, dass entsprechende Schritte unternommen werden.
- Wir schlagen
vor, dass eingesehen wird, dass die kurdische Frage nicht eindimensional
ist und eine Lösung viele Akteure vorweisen muss.
- Auch wenn es
nur einen begrenzten Einfluss haben wird, schlagen wir vor, Lösungen
und Initiativen für die Verbesserung der menschlichen Situation nicht
gering zu schätzen und zu begreifen, welch großes Bedürfnis nach Schritten
aus der Zivilgesellschaft für einen gesellschaftlichen Frieden besteht.
- Wir schlagen
vor, den Problemen von Frauen besondere Aufmerksamkeit zu widmen und
die Bedeutung einer unabhängigen Frauenbewegung zu begreifen.
- Wir schlagen
vor, dass die Notwendigkeit begriffen wird, sich mit den Problemen kurdischer
Familien und insbesondere ihrer Kinder zu befassen, die von den Dörfern
in die Metropolen der [kurdischen] Region oder im Westen vertrieben
wurden, eine Politik entworfen und Projekte eingeleitet werden, die
die Migrationsopfer dabei unterstützt, ein neues Leben zu gründen.
- Wir schlagen
vor, dass gegen Ehrenmorde eine breit angelegte Kampagne zur Erhöhung
des Bewusstseins in der gesamten Gesellschaft gestartet wird und Politiker
und Entscheidungsträger zu konkreterem Vorgehen angeregt werden.
- Wir schlagen
vor, dass die Bedeutung vom Gebrauch der Muttersprache im Unterricht
für die Menschen der Region begriffen und erklärt wird und dass Zweisprachigkeit
sowie Multikultur als ein Recht angesehen werden.
- Wir schlagen
vor, dass die Dörfer im Südosten, deren Namen geändert wurden, ihre
alten Namen wieder erhalten und Menschen ihren Kindern den Namen geben
können, den sie wollen.
- Wir schlagen
vor, dass ein neuer Sprachgebrauch entwickelt wird, der fern von gesteigerten
Hass- und Gewalttiraden gewährleistet, dass wir einander zuhören, uns
verstehen und uns verzeihen können.
- Wir schlagen
vor, dass eingesehen wird, dass wir alle letztendlich den gleichen öffentlichen
Raum teilen und gleiche Werte und Interessen haben.
Die Unterzeichnenden:
Prof. Dr. Ahmet İnsel (Lehrender an der Galatasaray Üniversitesi, Fachbereich
Wirtschaft), Doç. Dr. Ahmet İçduygu (Koç Üniversitesi, Fachbereich Internationale
Beziehungen), Ali Bayramoğlu (Journalist, Schriftsteller), Ayşe Gül Altınay
(Sabancı Üniversitesi), Ayhan Bilgen (MAZLUM-DER-Vorsitzender), Can Paker
(TESEV-Vorsitzender ), Derya Sazak (Journalist, Schriftsteller, Milliyet),
Ece Temelkuran (Journalistin, Schriftstellerin, Milliyet), Elif Şafak
(Schriftstellerin - Bahçeşehir Üniversitesi), Prof. Dr. Erol Katırcıoğlu
(Bilgi Üniversitesi, Journalist), Eyüp Can (Redaktionsleiter der Zeitung
Referans), Prof. Dr. Fazıl Hüsnü Erdem (Dicle Üniversitesi, Fachbereich
Öffentliches Recht), Yard. Doç.Dr. Ferhat Kentel (Bilgi Üniversitesi,
Fachbereich Soziologie), Prof. Dr. Fuat Keyman (Koç Üniversitesi, Fachbereich
Internationale Beziehungen), Prof. Dr. Gençay Gürsoy, İbrahim Betil (Stiftung
Freiwillige der Gesellschaft), Kutbettin Arzu (Vorsitzender der Industrie-
und Handelskammer Diyarbakır), Mesut Öztürk (ehemaliger Bürgermeister
von Van), Dr. Mesut Yeğen (ODTÜ, Fachbereich Soziologie), Doç. Dr. Mithat
Sancar (Ankara Üniversitesi, Fachbereich Jura), Prof. Dr. Murat Belge
(Schriftsteller, Bilgi Üniversitesi, Fachbereich Literatur), Muharrem
Erbey (Beraterin der Stadtverwaltung Diyarbakır), Mustafa Karaalioğlu
(Redaktionsleiter der Zeitung Yeni Şafak), Nebahat Akkoç (Frauenzentrum
KAMER), Necdet İpekyüz (Ärztekammer Diyarbakır), Osman Kavala (TESEV),
Oya Baydar (Friedensaktivist, Schriftsteller) Ömer Laçiner (Birikim),
Rojbin Tugan (Juristin und Menschenrechtsaktivistin aus Hakkâri), Sabih
Ataç (Anwaltskammer Batman), Salim Uslu (HAK-İŞ), Sedat Yurtdaş (Schriftsteller,
DTP), Sezgin Tanrıkulu (Vorsitzender der Anwaltskammer Diyarbakır), Şahismail
Bedirhanoğlu (Verein der Industriellen und Arbeitgeber im Südosten), Tahir
Dadak (Aufschwungskooperative Diyarbakır), Tarhan Erdem (Journalist, Schriftsteller),
Yusuf Alataş (IHD-Vorsitzender), Zozan Özgökçe (Frauenverein Van)
Quelle: ANF, 31.07.2006,
ISKU
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